Kapitel 1- Geschlossene Gesellschaft – Die Eiswette bis zum Ersten Weltkrieg

Einleitung zu den Kapiteln 1 bis 3

Die Geschichte der Eiswette ist Teil der Geschichte des Bremer Kaufmanns, der als „hanseatischer“ Kaufmann bis 1914 die beherrschende Figur im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben der Stadt war und sich eins wusste mit ihren Interessen. Um diese Epoche geht es im ersten Kapitel. Der Erste Weltkrieg erschütterte seine Stellung nachhaltig. Die stillschweigend und selbstverständlich angenommene Identität der kaufmännischen Interessen mit denen der Stadt ging verloren und zwang ihn, sich politisch zu positionieren. Für die Eiswettgenossenschaft bedeutete dies, dass sie nach 100 Jahren aus ihrer Privatheit heraustrat auf die politische Bühne. Darum geht es in den Kapiteln zwei und drei.

Die Kartenspielrunde von 1817

Seine langjährige Präsidentschaft (1899 – 1913) und die über dreißigjährige Mitgliedschaft in der Eiswette – letztlich auch seine kaufmännische Solidität – machen Hermann Vietsch zu einem glaubwürdigen Zeugen der Eiswett-Geschichte. Gestützt auf die alten Protokolle, erzählte er sie 1904 in der Festschrift zum 75jährigen Jubiläum.[1] Zum ersten Mal wurden hier die Namen der Eiswettgenossen und deren Eintrittsdaten einer noch begrenzten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Schrift enthält die Daten und Orte der Eiswetten, sowie die Teilnehmerzahlen seit 1829. Vietsch verdanken wir auch eine Darstellung der ersten zwölf Jahre Wettgemeinschaft von 1817 bis 1828.[2] Sein Bericht ist unbeschwert, mit Freude am Detail, fern jeden Pathos‘, eher von einer gewissen Nüchternheit geprägt. Seine Darstellung zeichnet sich wohltuend durch das Fehlen jeglicher Stilisierung aus, wie sie in späteren Veröffentlichungen der Eiswette häufig zu finden sind.

Die Gründung einer kleinen Kartenspielrunde aus guter Gesellschaft, die später den Kern der „Eiswette“ bilden sollte, fiel in eine Zeit, als Bremen – vor allem in seiner kaufmännischen Führungsschicht – eine lebhafte Kultur des Clublebens nach englischem Muster entwickelte.[3] Aus den ursprünglich als Lesegesellschaften gegründeten und teilweise von Gelehrten und politischen Funktionsträgern dominierten Gesellschaften entwickelten sich allmählich Clubs, die einem „zunehmenden Geselligkeitsbedürfnis bürgerlicher Schichten“ entsprachen,[4] denen es um „Erholung, Entspannung, ungebundene Unterhaltung und gesellige Vergnügungen aller Art“ ging.[5] Eines dieser Etablissements war die Loge „Zum Ölzweig“. Hier dominierte „von Beginn an das Wirtschaftsbürgertum.“[6]Der Club war in jenen Jahren vor allem Netzwerk und Kontaktbörse wohlhabender Kaufleute.

[1] Hermann Vietsch, Zur Feier des 75jährigen Jubiläums der im Jahre 1829 gegründeten Eiswette nach den geführten Protokollen aufgestellt. Bremen am 25. Januar 1904. Broschüre. 18 Seiten. Im Folgenden zitiert als „Vietsch-Festschrift“.
[2] Die Zusammenkünfte von 1817 bis 1828, nur auf losen Blättern protokolliert, waren teilweise verloren gegangen, wurden aber 1838 vom Eiswette-Mitglied Hermann Runge rekonstruiert und in das inzwischen geführte „Protokollbuch“ eingetragen. Neben den Protokollbucheintragungen konnte Vietsch auf eine Art Tagebuch zurückgreifen, das ihm der Sohn des Mitbegründers A. Lackemann aus dem Nachlass seines Vaters, Oberleutnant Christian A. Lackemann, zur Verfügung stellte. Die Vorgeschichte hat Vietsch ausführlich in seiner Festrede auf der Eiswette von 1904 dargestellt (Im Folgenden zitiert als „Vietsch-Rede“). Auszüge daraus sind wörtlich abgedruckt in: Karl Löbe, 150 Jahre Eiswette von 1829 in Bremen 1979, S.35 – 37. Im Folgenden zitiert als „Löbe“. Die Festschrift von Löbe, der 1968 – 1970 Präsident der Eiswette war, ist die wichtigste Quelle der Eiswett- Geschichte über den gesamten Zeitraum, da sie auf der Grundlage der Protokolle erstellt wurde. Löbe bezeichnet sich selbst zu Recht als Chronist der Eiswette (S. 69). Einige zusätzliche Aspekte der Vorgeschichte finden sich auch in der Festschrift zur Hundertjahrfeier von 1929. Vgl. Eiswette von 1829 Bremen. 1829 – 1929. Rückblick, Umblick u. Ausblick. Der Gesellschaft „Eiswette von 1829“ zu ihrem 100jährigen Jubelfeste gewidmet von Senator Feuß. Broschüre. 46 Seiten. Sie enthält eine Liste der 135 Mitglieder vom 12. Januar 1929. Im Folgenden zitiert als „Feuß“.
[3] Vgl. Herbert Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen, Bd. I, Von den Anfängen bis zur Franzosenzeit (1810), Bremen 1995, S. 529.
[4] Der Club zu Bremen, 1783 – 2008. 225 Jahre in vier Jahrhunderten. Bremen, 2009, S. 27. Im Folgenden zitiert als „Der Club zu Bremen“.
[5] Schulz, Vormundschaft und Protektion. Eliten und Bürger in Bremen. 1750 – 1880 (Stadt und Bürgertum, Bd. 13), München 2002, S.217. Im Folgenden zitiert als „Schulz“.
[6] Martens, Heinrich, Erinnerungsblätter aus der Geschichte der St.Johannis-Loge zum Ölzweig und der älteren Logen in Bremen. Bremen. 1888. Nr. 167 und 182, zitiert bei Schulz, a.a.O., S.216.

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Zwar fühlte man sich dem gemeinsamen humanitären Ideal verpflichtet, „Arme und Hülfsbedürftige mit milden Gaben zu unterstützen“, pflegte sich ansonsten aber „rauchend und plaudernd oder am Kartenspiel sich vergnügend“ in den Salons und Herrenzimmern aufzuhalten.“[7] Die Loge hatte sich „dem gesellschaftlichen Leben der Stadt (geöffnet) und nahm in großer Zahl bürgerliche Interessenten auf.“ Hier trafen sich 1817 vier junge Männer und verabredeten sich zum regelmäßigen Kartenspiel.[8] Die Runde bestand aus einem Lehrer und drei Kaufleuten, unter ihnen Wilhelm Fritze, damals 26 Jahre alt (1791-1842), zu diesem Zeitpunkt noch Commis in der Firma J.F. Abegg & W.A. Fritze, deren Teilhaber sein zehn Jahre älterer Bruder Wilhelm August war.

Die vier Junggesellen spielten nun jede Woche „L’hombre“, das Kartenspiel der vornehmen Gesellschaft, das sich vom französischen Königshof über Europa ausgebreitet hatte. Dabei wurde zum ersten Mal „gereizt“, was dem Ganzen mehr Spannung und Würze verlieh. Man traf sich abwechselnd im privaten Rahmen und einmal – für Wilhelm Fritze – im kaufmännischen Club „Union von 1801“. Die „Union“ hatte – im Gegensatz zu anderen Clubs – von Anfang an Spiele erlaubt.[9] Auch das weitere Angebot – von der musikalischen Unterhaltung bis zur Benutzung einer kleinen Bibliothek – diente der Erbauung ihrer 400 Gäste.[10] Sie wird 1851 der erste „Stammsitz“ der Eiswette in der Stadt werden. „Im Frühling und Sommer ruhten die Karten, und es wurde beim Kuhhirten Sowerby auf dem Werder dem Kegelspiel gehuldigt, wozu eine Anzahl guter Freunde herangezogen wurde.“[11]

Clubleben und erste Wetten

Die auf neun Personen angewachsene Runde besuchte im Winter 1818/19 im Clubhaus „Die Erholung“ einen Ball, der dort alle vierzehn Tage veranstaltet wurde und auf dem sich „die Bremer Noblesse“ traf.[12] „Die Erholung“ galt „zu Beginn des 19. Jahrhunderts als der angesehenste Club in Bremen (…) Er präsentierte die städtische gesellschaftliche Elite jener Jahre“[13]. Im Erdgeschoss befanden sich Tanzsaal, Kasino, Billardraum und Lesesaal; die Räume im ersten Stock dienten Feierlichkeiten, gemeinsamen Abendessen und Gesellschaften mit Essen oder Tanz.[14] Auf diesem Ball kam es „in der Stimmung des Übermuts“[15] zu einer ersten Wette, wie sie damals schon lange in den englischen Clubs Mode waren.[16] Der berühmte Londoner Brooks’s Club in der St.James’s Street führte damals ein eigenes „Betting book“, in das die Wetten ihrer Mitglieder eingetragen wurden, auch solche, deren Wettgegenstand die Grenzen des guten Geschmacks überschritten.[17] Die Junggesellenrunde wettete, dass Wilhelm Fritze sich als erster verheiraten würde. Dem Einsatz von 10 Talern für ein Braunkohl-Essen „mit Zubehör“

[7] Schulz, a.a.O., S. 216.
[8] Vgl. Vietsch-Rede, Löbe, a.a.O., S.35/36.
[9] Vgl. Der Club zu Bremen, a.a.O., S.135.
[10] Vgl. Herbert Schwarzwälder, Das Große Bremen-Lexikon, 2. Auflage, Bremen 2003, Bd.2, S.900. Im Folgenden zitiert als „Das Große Bremen-Lexikon“.
[11] Feuß, a.a.O., S.8.
[12] Friedrich Beneke, Bericht über eine Reise nach Bremen im Jahre 1808. In: Bremisches Jahrbuch Nr. 31 von 1928, S.281-304, hier S.293/294. Der Hamburger Kaufmann mit Bremer Wurzeln hatte sich in jungen Jahren ausgiebig in der Stadt umgesehen und in kaufmännischen Kreisen verkehrt.
[13] Schulz, a.a.O., S.224.
[14] Vgl. Schulz, a.a.O., S. 218.
[15] Vietsch-Rede, Löbe, a.a.O., S. 36.
[16] Vgl. Löbe, a.a.O., S.39.
[17] Dort ist 1785 die berühmte Wette „Girl in the balloon“ abgedruckt: „Ld. Cholmondeley has given two guineas to Ld. Derby, to receive 500 Gs. whenever his lordship fucks a woman in a balloon one thousend yards from the earth.“ Brooks’s Club. Wikipedia 22.04.2016.

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setzte der Betroffene „einen Ballabend“ und die beträchtliche Summe von 100 Talern entgegen, die ungefähr dem Jahreslohn eines Handwerksgesellen entsprach. Die Teilhaberschaft Wilhelms an der Firma seines Bruders war 1818 schon beschlossene Sache, weil J.F. Abegg, zum Senator gewählt, die Firma verlassen hatte. 1819 wurde er ins Handelsregister eingetragen. Die Firma nannte sich nun W.A. Fritze und W. Fritze.[18] Wilhelm verlor die Wette, da er sich mit der Tochter des Notars und späteren Postdirektors Christian Focke verlobte. Die Festlichkeit zur verlorenen Wette war Anlass für eine Reihe weiterer, für die man eine „Tontine“ gründete. Tontine, eigentlich eine Leibrenten- Gesellschaft, bei der die länger lebenden Mitglieder das Kapital der früher Sterbenden erbten, interpretierte die fröhliche Runde so, dass die Junggesellen jedem frisch Verlobten ein Fest geben mussten. Schon im Sommer 1820 fand der erste „Tontinenschmaus“ statt. Feuß beschrieb in seiner Festschrift zum hundertjährigen Jubiläum der Eiswette 1929, wie es weiterging: „Die nächsten Jahre brachten in regelmäßigem Wechsel im Winter Kartenspiele, einmal bereichert durch eine Wette auf das Geschlecht des ersten Kindes der Familie Fritze und Kegelspielen im Sommer sowie Pudelessen [19] und Tontinenschmaus bei Reinken, in der ehemaligen Wilhadi-Kirche und im Museum.“[20] Im Unterschied zu „Union“ und „Erholung“ hatte die „Gesellschaft Museum“ zunächst keine Konzerte, Bälle oder Soupers veranstaltet. Auch Billard, Karten- und Würfelspiele waren nicht zugelassen. Im Reisebericht eines holländischen Arztes und Naturwissenschaftlers, der 1835 zusammen mit Studienfreunden eine Reise durch Deutschland gemacht hatte, wurde sie flapsig so beschrieben:: „Zu den Orten der Entspannung zählt man hier das sogenannte Museum, das aus einer Lesegesellschaft entstanden ist, das dann jedoch zu einer Art Gesellschaft wurde, in der gespielt und getrunken wurde und zu der als Anhängsel eine Bibliothek, Kunstsammlungen, Sammlungen naturkundlicher Instrumente und ausgestopfter Tiere gehören.“[21]

Das reiche Clubleben englischer Couleur, an dem die jungen Kaufleute so lebhaft teilnahmen, hatte sehr praktische Auswirkungen auf die Stadtgesellschaft: „Die neue, „bürgerliche“ Form der Vergesellschaftung wirkte gruppenbildend, sie löste ständische Beschränkungen der sozialen Kommunikation auf.“[22] Die Voraussetzung für den schnellen Aufstieg von Wilhelm August Fritze (1781 – 1850), dem zehn Jahre ältere Bruder von Eiswettgenosse Wilhelm, „schufen allein seine gesellschaftlichen Verbindungen.“ Bereits als junger Mann war er Mitglied mehrerer Clubs: in dem einflussreichen karitativen „Verein zum Wohlthun“, in der „Erholung“ und in der Gesellschaft „Museum“. Die „Gesellschaften“ erwiesen sich „als wichtige Institutionen der Vermittlung von Heiratspartnern.“[23] 1821 wurde er Eltermann, Wilhelm 1840. Auch er schaffte den Sprung in die kaufmännische Elite, wenn auch weniger spektakulär. Mit 51 Jahren starb er schon, nahm aber noch am Aufschwung der Firma durch den Transport europäischer Auswanderer nach Amerika teil.[24]

1826 kaufte die Herrenrunde die beiden Kegelbahnen der „Union“ und ließ sie bei Sowerby wiederaufbauen.[25] Für den „Pudelschmaus“ musste man sich beim Präsidenten des Senats noch die Erlaubnis holen, das Werdertor auch noch um Mitternacht passieren zu dürfen.[26]

[18] Das 200jährige Firmenjubiläum feierte man 1996 in der 5. Generation. Bis 2003 war die Firma im Familienbesitz. Diese Angaben sind der Firmenchronik entnommen. Vgl. 200 Jahre W.A. Fritze & Co. 1796 –1996. Chronik eines Familienunternehmens.
[19] Ein „Pudel“ ist ein Fehlwurf beim Kegeln. Wird dieser mit einer „Geldstrafe“ belegt, füllt sich die Kasse der Kegel- Gemeinschaft, die damit zum Beispiel ein gemeinsames Essen bezahlt.
[20] Feuß, a.a.O., S.9.
[21] Reisebericht von Michiel Dassen, zitiert bei Herbert Schwarzwälder, Bremen in alten Reisebeschreibungen. Briefe und Bericht von Reisenden zu Bremen und Umgebung (1581-1847). Bremen. 2007, S.348/349.
[22] Schulz, a.a.O., S.217
[23] Schulz, a.a.O., S.341; Anmerkung 283 zu Carl Wilhelm Fritze und S. 342.
[24] Der Anteil bremischer Schiffe an der „Amerikafahrt“ stieg von 27% im Jahr 1830 auf 75% im Jahr 1840. Nach Bremen nahmen sie Baumwolle und Tabak mit. Die Firma war zunächst sehr erfolgreich in der Kaufmannsreederei, im Baumwoll- und im Südseehandel. Diese Angaben finden sich in der Rede von Hermann Melchers, gehalten anlässlich des 200jährigen Jubiläums der Firma Fritze 1996. Sie ist der Chronik (s.o.) beigelegt. Melchers starb2018.
[25] Vgl. Feuß, a.a.O., S.9 und Löbe, a.a.O., S.36.
[26] Vgl. Löbe, a.a.O., S.36/37.

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Die Eiswette von 1828 bei Schürmann in Horn

Im Laufe von zwölf Jahren war aus der kleinen Kartenspielrunde ein Freundeskreis geworden, der sich über das Kegeln auf achtzehn Herren erweitert hatte und sich mindestens zweimal im Jahr zu einem Festessen traf. 1828 wechselte man das Ausflugslokal und kegelte nun im „Schürmannschen Wirthause zu Horn … regelmäßig wöchentlich.“[27] Das Wetten wurde weiter gepflegt. 1828 kam es sogar zu drei Wetten, deren letzte die Eiswette war. „Im Frühjahr … fand eine Wette wegen des russisch-türkischen Krieges statt. Es wurde behauptet, dass vor Ende des Jahres Constantinopel von einer russischen Landarmee belagert und verbrannt werde … Diese Wette wurde am 18. Mai 1829 bei Schürmann verzehrt“[28] (also noch nach dem ersten Eiswette-Schmaus am 12. Januar 1829). Am 23. Oktober 1828 war eine Wette darüber abgeschlossen worden, „ob Ende 1829 der Friede zwischen Rußland und der Türkei zustande gekommen sein werde. … Gegenstand dieser Wette war „eine Kohlpartie inclusive des Weines“[29] Am 8. November 1828 kam es dann „in angeregter Stimmung“[30] bei Schürmann zum Horn zur Eiswette. Man wettete, ob die Weser zufrieren würde oder nicht. Wettpreis war der Verzehr eines „Vaterländischen braunen Kohls mit Zubehör“. Warum die Eis-Wette die letzte in dieser Reihe wurde und warum „man beschloss, die Wette zu wiederholen und derselben eine feste Gestalt zu geben,“[31] erschließt sich aus den Protokollen nicht. Aus den jungen Männern waren inzwischen gesetzte Herren Ende dreißig geworden. Vielleicht wollte man es in Zukunft etwas ruhiger angehen lassen. Jedenfalls beschloss man nun folgende Wette: „Die Weser oberhalb der großen Brücke bis hinauf zum Punkendeich, oder wenigstens der größte Teil des Flussgebietes soll im Laufe des nächsten Winters bis spätestens zum 4. Januar, morgens vor Sonnenaufgang [32] zugefroren oder zum Stehen gekommen sein. Betrag: Ein Taler.“[33]

[27] Vietsch- Festschrift, a.a.O., S.3.
[28] Vietsch-Rede, zitiert bei Löbe, a.a.O., S.37
[29] Löbe, a.a.O., S.39/40. Es spricht nichts dagegen, dass diese Kohlfahrt im Winter 1830 tatsächlich stattgefunden hat.
[30] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.2. Vgl. Löbe, a.a.O., S.29.
[31] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.3/4.
[32] 1832 wurde die Entscheidung auf mittags verlegt, 1838 auf den 6. Januar mittags. Vgl. Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.5.
[33] „Ein Taler, gleich drei Mark! Was für ein jämmerlicher Betrag!“ schrieb Feuß 1929 in seiner Festschrift. Und er fuhr fort: „Mit Verlaub, es waren damals …bessere Zeiten. Der Thaler hatte zweiundsiebzig Grote, eine Summe, die bei Einkäufen kein Ende zu nehmen schien. Wenn wir als Kinder zum Freimarkt gingen, erhielten wir von unsern Eltern drei Grote! Dafür erstanden wir folgendeSchätze: Zunächst erhielt Kaspar einen halben Schwaren für seine Späße… Sodann fuhren wir Karussell… Weiter kauften wir einen kleinen Speckaal und ein Korinthenbrot dazu. Darauf erstanden wir eine Stange Babbeler. Endlich konnten wir bei Anna Ahrens einige gebrannte Mandeln uns zulegen, und schließlich brachten wir unsern Eltern eine kleine Tüte voll Schmalzkuchen mit. Alles für drei Grote, den 24. Teil eines Talers!“ Feuß, Festschrift, a.a.O., S.14/15. Hermann Gutmann nannte eine Summe von 32 Grot für einen Taler. Vgl. Weser-Kurier vom 20./21. Januar 1968: „Wie es zur Eiswette von 1829 kam.“

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Bild 1 Kegeln und Kartenspielen bei Schürmann in Horn. Aus der Festschrift zur 75-Jahr-Feier.

Die Namen der achtzehn wettenden Herren wurden, geordnet nach ihrer Vorhersage, protokollarisch in zwei Listen festgehalten. Neun wetteten, dass die Weser zufrieren würde, neun hielten dagegen.[34] Es waren dreizehn Kaufleute, von denen acht aus drei Firmen kamen, deren gemeinsame Inhaber oder Angestellte sie waren (darunter wohl zwei Brüderpaare). Außerdem gehörten drei Offiziere, ein Steuerbeamter und ein Lehrer dazu.[35] Die vier Gründer der Kartenrunde von 1817 – Wilhelm Fritze, Friedrich Huchting, Justus Tiedemann und Johann Christian Lampe – waren dabei.[36] Wilhelm Fritze war damals schon zehn Jahre lang Teilhaber der Firma seines Bruders. Am 12. Januar 1829 fand der „Verzehr“ der Wette wieder bei Schürmann in Horn statt.

Schürmann blieb das Stammlokal bis 1850. Man traf sich um 16.30 Uhr zum Essen, um dann bis in den späten Abend dem Kegel- und Kartenspiel zu frönen. Dabei blieb es mit 18 Teilnehmern zehn Jahre lang. 1838 wurde zum ersten Mal einer aus der Runde zum „Präsidenten“ gewählt, der Einladungen und Protokollführung in einer Person vereinigte, eine Tätigkeit, die im wesentlichen nur Arbeit und Mühe machte. Es war Hermann Runge (der sein „Amt“ bis 1858 ausübte). Im zweiten Jahrzehnt seiner Präsidentschaft erweiterte sich der Kreis um zwei, ab und an auch um drei Mitglieder. Sonst blieb alles beim Alten. Auf der letzten Eiswette bei Schürmann am 7. Januar 1850 war man dann mit 19 Teilnehmern etwa wieder bei der ursprünglichen Teilnehmerzahl.

Umzug in die „Union der edlen Geselligkeit“ (1851)

Als die Eiswettgenossen 1851 ihre jährliche Feier in die Räume der „Union der edlen Geselligkeit“ verlegten, dürfte jeder von ihnen dort auf eine langjährige Clubmitgliedschaft zurückgeblickt haben. Der Umzug vollzog sich ohne jede Dramatik. Im Protokollbuch wurde er lediglich als Tatsache erwähnt. Der alte Präsident blieb in seinem Amt, das ihn nach wie vor nur dazu verpflichtete, die Einladungen herauszugeben und das Protokoll zu führen.

[34] Vgl. Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.4.
[35] Nähere Angaben zu den kaufmännischen Tätigkeiten, bzw. Berufen bei Löbe, a.a.O., S.30/31; Hermann Gutmann, Jochen Mönch, Die Eiswette von 1929. Ein Bremer Fest – Geschichte und Geschichten. Bremen 2010, S.20-23. Im Folgenden zitiert als „Gutmann“.
[36] Wie Löbe zu der Behauptung kam, dass zwischen der geschilderten Vorgeschichte und der Eiswette vom 12. Januar „ein innerer Zusammenhang … nicht besteht“, bleibt unerfindlich. Vgl. Löbe, a.a.O., S.39.

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Ob der Ortswechsel Anlass dafür war, mehr Mitglieder aufzunehmen, oder ob er – umgekehrt – dem Wunsch entsprang, den Kreis zu vergrößern, sei dahingestellt. Entscheidend war, dass sich die Eiswette mit dem Einzug in die „Union“ nunmehr als Veranstaltung im kaufmännischen Clubleben der Stadt verankerte. Es ergaben sich dort über die Eiswettfeiern neue Kontakte quasi von selbst. Die Anzahl der Wettgenossen stieg, wenn auch zunächst noch langsam. 1854 waren es 23. Im nächsten Jahrzehnt ging man dazu über, Gäste einzuladen.[37]

Die „Union“ war 1801 zunächst aus einer gewissen Opposition zur „Gesellschaft Museum“ als berufsständische „Vereinigung junger Handlungsgehilfen und Kaufleute“ gegründet worden, weil man dort Handlungsgehilfen den Zutritt verwehrte.[38] Als sie 1835 mit 800 Mitgliedern einen Neubau bezog, war damit „ein weiteres geistiges und kulturelles Zentrum der bremischen Kaufmannschaft geschaffen … mit dem größten Konzertsaal Bremens.“[39] Schünemanns „Neuester Wegweiser durch Bremen und seine Umgebungen“ aus dem Jahr 1848 beschrieb ihn begeistert: „Die Union zählt, nächst dem „Museum“, von allen Clubs die meisten Mitglieder, die Lage am Walle, dem Osterthor gegenüber, ist sehr freundlich und das Gebäude für einen Club großartig zu nennen. Das Lesezimmer, so wie auch die Bibliothek ist sehr reichhaltig … Außer dem geräumigen Lesezimmer, dem Eßsaal gegenüber, und dem noch größeren Spielzimmer enthält der untere Stock einen mit vier Billards besetzten Billardsaal und mehrere Restaurationszimmer.“ [40]

Bild 2 Haus der „Union“ am Wall 205, Lithografie, um 1845. Focke-Museum, Bremer Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte

[37] Vgl. Löbe, a.a.O., S. 80
[38] Vgl. Der Club zu Bremen, a.a.O., S. 134.
[39] A.a.O., S. 135. Vgl. auch Herbert Schwarzwälder, Das Große Bremen-Lexikon, a.a.O., S. 237.
[40] Zitiert bei Gutmann, a.a.O, S. 32.

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Auch nach dem Umzug in die „Union“ huldigte die Eiswett-Genossenschaft außerhalb der Clubräume weiter „dem edlen Kegelsport.“[41] Regelmäßig wurden die Termine der „Pudelessen“, die im Mai stattfanden, in den Protokollbüchern der Eiswette vermerkt. Dort wurde am 1. Mai 1852 von folgenden gesungenen Versen berichtet:

„Heute will ich fröhlich, fröhlich sein.
Keine Weise, keine Sitte hören.
Will mich wälzen und vor Freude schreien.
Selbst der König soll mir das nicht wehren.“[42]

Die wachsende Zahl von „Nichtkeglern“ in der immer größer werdenden Gruppe der Neumitglieder im Rahmen der „Union“ führte dazu, dass die Bedeutung des Kegelns allmählich abnahm, bis es schließlich ganz aus den Protokollen verschwand.[43] Aber das Kartenspiel blieb. Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde nach jedem Festmahl – hin und wieder auch schon während des Essens – ausgiebig gespielt. Zu L’Hombre gesellten sich Whist und ab 1904 Skat.[44]

Das Statut von 1873 und die Entstehung der „Lustigen Eiswette“ (1874)

Mit der wachsenden Zahl von Teilnehmern drohte der Überblick verloren zu gehen, wer Mitglied war – also berechtigt, bzw. verpflichtet, an der Wette teilzunehmen – und wer Gast. In den Jahren von 1866 bis 1870 war die Zahl der Teilnehmer von 39 auf 62 gestiegen. In den Jahren des deutsch-französischen Krieges und unmittelbar danach war man schließlich bei 77 Teilnehmern (1872; 1873 sogar bei 83). Deswegen entschloss man sich, der „Eiswette-Gesellschaft“ ein „Statut“ zu geben, in der die Anzahl der Mitglieder auf 60 begrenzt wurde.[45] Möglicherweise war dies der Auslöser dafür, dass 1874 eine zweite Eiswette entstand (die nach dem Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle beim Neuanfang spielen sollte). Sie bestand 40 Jahre, aber weder ihre Teilnehmerzahl, noch ihre Rituale oder ihr Veranstaltungsort finden sich in den Quellen. Sie nannte sich „Die Lustige Eiswette“. In der Festschrift zur 150-Jahr-Feier ging Löbe kurz auf sie ein mit der Bemerkung, dass der Umgang der beiden Eiswetten unproblematisch war und dass man der Konkurrentin zu ihrem 25jährigen Bestehen einen Glückwunsch geschickt hatte.[46]

Über das Statut von 1873 [47] ließ Präsident August Wille, Direktor der See-Assekuranz- Compagnie „Hansa“, sogar eine Abstimmung durchführen, die einstimmig ausging. Es enthielt in vierzehn Paragraphen „Gesetze und Bestimmungen“, „darnach sich die Mitglieder getreu zu richten haben“. § 1: Die Zahl der Mitglieder wird auf 60 begrenzt. § 2:

[41] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.6.
[42] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.7.
[43] Vgl. Löbe, a.a.O., S.38.
[44] Vgl. Löbe, a.a.O., S.98.
[45] Tatsächlich sank die Teilnehmerzahl wieder auf 63 im Jahr 1876 und blieb in dieser Größenordnung bis 1904. Eine Begrenzung der Anzahl von Eiswettgenossen fand erst wieder fast hundert Jahre später statt, als man bei einer Teilnehmerzahl von 600 angekommen war. Auf Anregung des damaligen Präsidenten Karl Löbe wurde 1970 beschlossen, die Anzahl der Genossen auf 275 zu begrenzen. Löbe, a.a.O., S. 131/132.
[46] Vgl. Löbe, a.a.O., S.114.
[47] Es findet sich im vollen Wortlaut bei Löbe, a.a.O., S.81 – 84. Vgl. dazu auch Löbe, S.112.

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Jedes Mitglied zahlt jährlich 1 Mark in die Gesellschafts-Casse. § 3: Die Gesellschaft wählt durch allgemeine freie Wahl oder Acclamation einen Präsidenten auf Lebenszeit „ohne Pensionsanspruch“. § 6: Die Gesellschaft wettet in zwei gleichen Teilen gegeneinander, ob die Weser am Punkendeich am 6. Januar um 12 Uhr nachts im nächsten Jahr zugefroren sein wird oder nicht. Die Verlierer zahlen 4 Mark. § 8: Wer die schriftliche Wette abgegeben hat und nicht zur Eiswette erscheint, hat „unweigerlich“ 5 Mark zu zahlen. § 10 Cigarren und lange Pfeifen werden nicht für gemeinschaftliche Rechnung gereicht. § 11 „Die Vertilgung“ der Eiswette findet in der Regel am zweiten Montag des Monats Januar satt. § 12 Freunde und Gäste können auf eigene Rechnung eingeführt werden, wenn sie dem Präsidenten rechtzeitig aufgegeben sind.

Der Präsident wurde nun in der „Verfassung“ verankert. Er war nicht nur für die Einladungen und das Verlesen des  Protokolls verantwortlich (§13),  sondern übernahm auch  den Vorsitz an der Tafel und erteilte Redeerlaubnis (§4). Er blieb bis 1913 der einzige „Arbeiter“, wie Löbe es ausdrückte.[48] Die Protokolle schrieb er in der Regel selbst in das Protokollbuch, war also gleichzeitig Schriftführer. Das Statut von 1873 spiegelte den lockeren Rahmen des Festes getreulich wider, denn dessen Verlauf war ganz von einzeln vorbereiteten Beiträgen und von spontanen Einfällen der Teilnehmer geprägt.

Im Kaiserreich

Fest und treu zu König und Kaiser

Für die Eiswettgenossen bedeutete es offensichtlich keine Versuchung, sich auf die politischen Perspektiven der 48er Revolution einzulassen, die ja auch in Bremen deutliche Spuren hinterlassen hat. Vietsch berichtete ungewöhnlich ironisch: „Zwar zeigte sich der revolutionäre Geist des Jahres 1848 darin, dass Unzufriedene vorschlugen, einmal in Achim, Nienburg oder Hannover zu feiern, ein Beschluss kam aber nicht zustande und somit blieb alles beim Alten.“[49] „Es ist ferner nichts in den Akten darüber enthalten, ob das Jahr 1848 auf die Teilnehmer der Eiswette anregend oder hemmend oder überhaupt nicht eingewirkt hat… Selbst die neue Bremer Verfassung von 49 scheint die Mitglieder der Eiswette nicht sonderlich beeindruckt zu haben“, schrieb Feuß.[50] Das hätte sich auch kaum gelohnt, wurde sie doch schon 1852 wieder aufgehoben und durch die Verfassung von 1854 ersetzt, die durch ihre Quotenregelung die Kaufleute von vornherein zur größten Gruppe in der Bürgerschaft machte und sie durch die Bestimmungen des Wahlrechts nach Einkommen in eine kommode politische Situation brachte, zumal die Senatoren auf Lebenszeit ernannt wurden. In einem Protokoll jener Zeit wurde dann auch, wie Löbe berichtete, zum Ausdruck gebracht, „dass man eigentlich mit den öffentlichen Dingen zufrieden sei und sich in Bremen gut regiert fühle.“[51]

[48] Löbe, a.a.O., S.149.
[49] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.6
[50] Feuß a.a.O., S. 21/22.
[51] Löbe, a.a.O., S.75.

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Bild 3 Der Besuch des Königs Wilhelm von Preußen in Bremen: Einzug durch die Ehrenpforte am 15. Juni. Nach einer Zeichnung von A. Fitger. Illustrirte Zeitung, Leipzig, 3. Juli 1869.

Die politische Entwicklung der Kaufmannschaft ging in eine andere Richtung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte die einst „kaiserferne“ Hansestadt eine große Nähe zum Haus Hohenzollern. Am 15. und 16. Juni 1869 hatte Wilhelm I. – noch als König von Preußen – Bremen einen Besuch abgestattet, der zu einer Huldigung wurde. [52] Noch ganz unter dem Eindruck des königlichen Besuchs, berichtete ein weibliches Mitglied der Kaufmannsfamilie Fritze in einem privaten Brief, wie Wilhelm I. durch eine pompöse „Ehrenpforte“ am Herdentor in die Stadt fuhr, wo „ein unglaubliches Leben“ herrschte: „Ein jeder schien in begeisterter, erwartungsvollster Stimmung“, und es gab „ein kaum endendes Hurrarufen. … Ich versichere Euch, Papa ist heute noch heiser.“ [53] Der König logierte bei Bürgermeister Daniel.[54] Gastgeber für Bismarck war kein Geringerer als H. H. Meier, der Gründer des Norddeutschen Lloyd.[55] „Die führenden Gruppen Bremens aus senatorischen Kreisen und Handelsaristokratie (standen) fest und treu zum Kaiserreich.“[56] Jedes Jahr feierte man in Bremen den Geburtstag des preußischen Königs.[57]

Höhepunkt des königlichen Besuchs war nicht der Empfang im Rathaus, an dem 80 Personen teilnahmen, sondern – nach einem Abstecher in Bremerhaven, wo u.a. der Lloyddampfer „Deutschland“ besichtigt wurde – eine „Soirée“ in der „feenhaft erleuchteten wie mit den schönsten Guirlanden und Bouquets geschmückten Börse,“ dem „zweiten Rathaus“,[58] auf der 1600 Gäste gezählt wurden.[59] Dort wurde dem König ein Lorbeerkranz überreicht. Auf der Tanzfläche waren Bismarck, sowie die Generale von Moltke und von Roon. Der Anblick der vielen Uniformen muss für Bremer Zeitzeugen ungewöhnlich gewesen sein. In dem Bericht der Briefschreiberin heißt es: „Es wogten dermaßen die vielen Uniformen, dass man sie nicht alle leicht ins Auge fassen konnte.“

[52] Vgl. Malte Ritter, Hohenzollern in Bremen. Hanseatische Inszenierungen nationaler Festkultur anläßlich der Besuche Wilhelms I. und Wilhelms II. 1869 und 1890/3. In: Feste und Bräuche in Bremen. Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte der Hansestadt. Festschrift zum hundertsten Geburtstag des Focke-Museums. Jahrbuch 1999/2000 der Wittheid zu Bremen. Bremen 2000. S. 142 – 154.
[53] Aus den Fritzeschen Familienpapieren. Bericht vom Besuch König Wilhelms I. von Preußen in Bremen am 15. Und 16. Juni 1869, aufgeschrieben von Maria Pochhammer, Gebr. Fritze, Bremen. In: Bremisches Jahrbuch 52 (1972), S.277- 281. Hier S. 277. Vgl. auch Herbert Schwarzwälder, Bd. II, a.a.O., S.293/94.
[54] Vgl. Malte Ritter, a.a.O., S.143.
[55] A.a.O., S.145.
[56] Konrad Elmshäuser, Geschichte Bremens. München 2007, S. 88. Im Folgenden zitiert als „Elmshäuser.“ Kaiser Wilhelm II. kam von 1890 bis 1914 jedes Jahr zu einem „Kaiserfrühstück“ nach Bremen, immer auf der Durchreise zu seiner geliebten Flotte in Wilhelmshaven.                                       
[57] Vgl. Schwarzwälder, Bd. II, a.a.O., S. 314.
[58] Aus den Fritzeschen Familienpapieren, a.a.O., S. 277 und S. 280. Die Obere Rathaushalle war nicht nur deutlich kleiner, sondern „befand sich damals in keinem besonders repräsentativen Zustand.“ Uwe Schwartz, Heinrich Müller (1819 – 1890). In: Denkmalpflege in Bremen. Historismus und Gründerzeit II. Schriftenreihe des Landesamtes für Denkmalpflege in Bremen, hrsg. von Georg Skalecki, Heft 14, 2017, S.48 – 70, hier S.59.
[59] Vgl. Malte Ritter, a.a.O., S. 145.

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Bild 4 Der Besuch des Königs Wilhelm von Preußen in Bremen: Die Soirée in der Börse am 16. Juni 1869. Nach einer Zeichnung von A. Fitger. Illustrirte Zeitung, Leipzig 3. Juli 1869. Im Mittelpunkt Wilhelm I. und Bismarck.

Stararchitekt Heinrich Müller

Der Besuch des preußischen Königs hatte für einen Eiswettgenossen ganz besondere Bedeutung. Architekt Heinrich Müller, nach dessen Plänen die Neue Börse von 1861 bis 1864 gebaut worden war [60], dürfte den Abend des 15. Juni 1869 als Höhepunkt seiner gesellschaftlichen Karriere erlebt haben, nachdem er schon 1868 zum Präsidenten des Künstler-Vereins gewählt worden war.[61] Er wurde dem König vorgestellt und der „sprach seine Bewunderung aus für den schönen Bau.“[62]. Die neue Börse, „der wichtigste öffentliche Neubau der liberalen Epoche,“[63] war der „bauliche Ausdruck des fast grenzenlosen Selbstbewusstseins der Kaufmannschaft.“[64] „Hier konnten sich bis zu 2800 Personen auf einer Grundfläche von 1276 Quadratmetern nicht nur für Börsenzwecke, sondern auch für große städtische Festlichkeiten zusammenfinden.“[65]

Müller hatte mit „ungestümer Begeisterung … die Kathedrale von Paris und die reichen Holzbögen der Guildhall in London (gesehen), und aus beiden vereint entstand ihm das Bild des bremischen Börsensaals.“ So beschrieb es Eduard Gildemeister (1848 – 1946), ein Berufskollege, rückblickend in einer kurzen Biographie.[66]

[60] Müller war auch für die äußere Dekoration der Börse am Festtag verantwortlich. Vgl. Malte Ritter, a.a.O., S.146.
[61] Vgl. Schwartz, a.a.O., S.60.
[62] Aus den Fritzeschen Familienpapieren, a.a.O., S.280.
[63] Schulz, a.a.O. S.696.
[64] Elmshäuser, a.a.O., S.79. Die Börse wurde 1864 am 5. November eröffnet, dem Geburtstag von Bürgermeister Smidt. Vgl. Das alte Bremen, hrsg. von dem Focke-Museum für Bremische Altertümer. Leipzig 1922. Abbildung Nr. 92 Saal der neuen Börse – Untertitelung.
[65] Schwartz, a.a.O., S.59.
[66] Eduard Gildemeister, Stichwort „Heinrich Müller“ in der Bremischen Biographie des 19. Jahrhunderts, hrsg. von der Historischen Gesellschaft des Künstlervereins. Bremen. 1912, S. 345 – 349.Hier S. 346. Vgl. derselbe, „Das Wohnhaus“, in: Bremen und seine Bauten, hrsg. vom Architekten- und Ingenieurverein. Bremen, 1900, S. 408 – 474. Hier: S.415 – 426. Vgl. auch den Artikel zum Tod von Müller in der Weser-Zeitung vom 8. 3. 1890 (Abend-Ausgabe. Die Weser-Zeitung hatte drei Ausgaben am Tag: morgens, mittags und abends). Vgl. auch die Grabrede von Pastor Kradolfer, in Auszügen abgedruckt in der Weser-Zeitung vom 11.3.1890 (Abendausgabe).

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Bild 5 Wie eine Kathedrale: der Hauptsaal der Neuen Börse. Nach einer Zeichnung von H. Asmann.

Heinrich Müller (1819 – 1890) wuchs in einem kleinen Bürgerhaus neben den hohen Packhäusern des Stephaniviertels auf, wo sein „streng religiöser“ Vater [67] an der Muggenburg, „dem malerischen Winkel an der Weserkante“ [68] ein kleines Bürgerhaus gekauft hatte. Der Vater betrieb eine Kalkbrennerei. Müller „wuchs bald über seine Kameraden der Kirchspielschule hinaus und wurde auf die „Gelehrtenschule“ (später Altes Gymnasium – d.Verf.) geschickt.“[69] Er wollte Baumeister werden und lernte zunächst das Maurerhandwerk. Nach dreijähriger Lehre begann er 1839 eine zünftige Wanderschaft als Maurergeselle, die ihn über Riga und Kopenhagen nach München führte.[70] Dort soll er zwei Jahre am Polytechnikum studiert haben, bevor er dann ein Jahr nach Berlin zum Studium des Klassizismus an die Bauakademie ging. 1842 kam er nach Hamburg, wo er sich nach zwei Jahren selbstständig machte, ehe er 1847 wieder nach Bremen zurückkehrte.[71]

Als „Dienstleister“ passte er von seinem gesellschaftlichen Rang her eigentlich nicht in die Runde der Eiswette-Kaufleute, denn er gehörte, wie es sein Berufskollege Eduard Gildemeister ausdrückte, der selbst einer alten Bremer Familie entstammte, zu der „Schicht kleiner Meister und Gewerbetreibenden, die es im Dienste des Großhandels zu etwas bringen.

[67] Grabrede Kradolfer, a.a.O.
[68] Gildemeister, a.a.O., S.345.
[69] A.a.O.
[70] Vgl. Schwartz, a.a.O., S.49.
[71] Vgl. Weser-Zeitung vom 8.3.1890

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[72] Aber er hatte Meriten, die ihn dafür qualifizierten, auch die höheren Weihen des Bremer Bürgertums zu empfangen. „Die Hauptzüge seines Wesens, eine starke Willenskraft, aufbrausende Heftigkeit und unbändige Lebenslust teilt er mit jener Schicht … (in der) bremische Art in Vorzügen und Fehlern sich unverfälschter erhalten hat, als durchweg in den Zöglingen der höheren Schulen oder an den großen Handelskontoren.“ [73] So beschrieb ihn Gildemeister, der von der „rastlosen und derben Hand“ Müllers spricht.[74] Dem noch „handwerksmäßig verstockten Bauwesen“ hätte er, schreibt die Weser-Zeitung, „wieder künstlerisches Leben“ eingehaucht.[75] Sie spielte darauf an, dass Müller zunächst „von den alten Gewerkmeistern als „Nichtzünftiger“ bekämpft“ worden war.[76]

„Eine junge Kraft war (an die Stelle der alten Baumeister) getreten, die freier und skrupelloser mit den überlieferten Formen schaltete, mit dem Willen sich durchzusetzen und der Vaterstadt ihr Gepräge zu geben.“[77] Müller verstand er es als Architekt, „dem Sieg des Bürgertums in einer Formensprache Ausdruck“[78] zu geben in monumentalen Geschäftsbauten, riesigen Landwohnsitzen und repräsentativen Stadtvillen, deren Gestaltung – auch und gerade im Innenbereich – an Schlösser erinnerten.[79] Er wurde der „Stararchitekt des Großbürgertums“[80] „Kein Architekt vor ihm hat einen so großen Einfluss auf das Bremer Stadtbild genommen – und keiner nach ihm. Mit dem Großbürgertum im Rücken agierte er wie ein Stadtbaurat.“[81]

Müller war „ein allseits beliebter Gastgeber des zu Reichtum gelangten wilhelminischen Bürgertums, ein zum Feiern und Repräsentieren aufgelegter Bonvivant, der auch als Präsident des „Künstlervereins“ die immer wieder verkündete Allianz von „Capital und Intelligenz“, von Bürgertum und Kunst aufwendig zu zelebrieren verstand.“[82] Er pflegte ein „Haus voll fröhlicher Zecher“, das widerhallte „von dem Treiben der Gäste“. „Manch fröhliches Stückchen von seiner Zecherlaune, von denkwürdigen Streichen … geht noch heute von Mund zu Mund.“[83]

Schließlich qualifizierte ihn noch eine weitere Eigenschaft zum ausgezeichneten Eiswettgenossen: „Seine feurige Beredsamkeit, seine Kunst zu fabulieren wussten auch aus spröder Masse Funken zu schlagen.“[84] Wir finden ihn auf der 50-Jahr-Feier von 1879 als Festredner neben so ehrwürdigen Mitgliedern wie Konsul Heinrich Wilhelm Bömers und Carl Wilhelm Wuppesahl.[85] Es wird nicht die einzige Rede in diesem Rahmen gewesen sein. Wann er in die Eiswettgenossenschaft aufgenommen wurde, erschließt sich aus den Chroniken nicht, aber es dürfte lange vor 1879 gewesen sein.[86]

[72] Gildemeister, a.a.O., S.345.
[73] Gildemeister, a.a.O., S. 345
[74] Bremen und seine Bauten, a.a.O., S.421.
[75] Weser-Zeitung vom 8.3.1890.
[76] Bremen und seine Bauten, a.a.O., S. 415.
[77] Gildemeister, a.a.O., S.346.
[78] Schulz, a.a.O., S.696.
[79] Vgl. Schulz, a.a.O. Vgl. Bremen und seine Bauten, a.a.O.
[80] Schulz, a.a.O., S.696.
[81] Schwartz, a.a.O., S. 70.
[82] Schulz, a.a.O., S.698.
[83] Gildemeister, Bremische Biographie, a.a.O., 349.
[84] A.a.O., S. 347.
[85] Vgl. Vietsch-Festschrift, S. 14.
[86] Vgl. die Mitgliedschaft von C. W. Debbe seit 1872.

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Bild 6 Portrait des Architekten Heinrich Müller. Öl auf Leinwand. Um 1880.

Trauerfeier in der Rembertikirche

Stilgerecht verabschiedete sich die Stadt am 11. März 1890 von „einem ihrer größten Söhne“ in der Rembertikirche, einem seiner Bauten.[87] Trauergäste waren „Angehörige verschiedenster Berufsclassen, Vertreter der Bürgerschaft und des Gewerbes und viele Mitglieder des Künstlervereins. Auch Damen waren in größerer Anzahl erschienen.“ „Von hochragender Gestalt“, war er „schon in seiner äußeren Erscheinung“ auffällig: „in seinem Gesicht, in seinen Gebärden, in Gang und Sprache. Wer den Mann sah, … der gewann sehr bald den Eindruck: Das ist nicht so ein gewöhnlicher Durchschnittsmensch, da steckt was von germanischer Urkraft, vom echten Kern unseres Volkes in diesem Manne.“ Ein Mann, „der wie ein markiger Eichbaum emporragt … in all seiner Eigenart so recht aus dem einfachen schlichten Bürgervolk hervorgewachsen, ein echtes Kind unserer Stadt. … Ihn lüstete nicht nach Titeln und Würden. … Er hat dem Wachstum und Gedeihen seiner Vaterstadt einen monumentalen Ausdruck verliehen. … Eine Künstlernatur, die auf Geld wenig gab, das Rechnen überließ er den Kaufleuten … Dieser Mann hat vermöge seiner ungeheuren Arbeitskraft Tag und Nacht unermüdlich gearbeitet, um Tausenden seiner Mitbürger frohe Feste zu bereiten. …

[87] Wir folgen der Grabrede seines Freundes Pastor Kradolfer und der Berichterstattung in der Weser-Zeitung vom 8. März 1890, Abendausgabe.

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Er hat manchem unserer Mitbürger ein Haus geschaffen, in dem echtes Behagen und wohlerworbener Reichtum sich entfalten konnten.“

Als der Sarg hinausgetragen wurde, begleitete ihn „ein zahlreiches Gefolge“ zum Riensberger Friedhof, wo eine Militärkapelle die Trauergemeinde „mit den feierlichen Klängen des Beethovenschen Trauermarsches empfing.“ An der Gruft des Verstorbenen wurde am Schluss ein Lorbeerkranz niedergelegt. Die Kaufmannschaft ehrte ihn postum mit einem Portraitmedaillon, das in der nördlichen Vorhalle der Börse aufgehängt wurde. [88]

Die Eiswette bleibt zivil

So national und kaiserlich die Bremer Elite inzwischen eingestellt war, blieb die Gestaltung der Eiswettfeiern davon doch so gut wie unberührt.[89] Chronist Rudolph Feuß, der Verfasser der Festschrift von 1929, fand in der Aufzeichnung vom 9. Januar 1871 zwar die Bemerkung, dass eine „große Stimmung“ geherrscht hätte, mehr gäbe das Protokoll aber nicht her. Immerhin hatte Wilhelm I. gerade zwei Wochen zuvor den Kaisertitel angenommen und die Bürgerschaft wird neun Tage später ihr nationales Hochgefühl aus Anlass der Kaiserproklamation durch dreifache Hochrufe auf den Kaiser ausdrücken.[90] Dagegen enthielt das Protokoll der Eiswette eine sehr lange Beschreibung der zeremoniellen Aufnahme neuer Mitglieder. Feuß musste es schon „der Phantasie der Leser“ überlassen, sich das auszumalen, was er sich im Jahr 1929 als „eine heilige Stimmung“ der damaligen Zeit vorstellte mit der „von der Freude über Deutschlands Heldenzeit und Deutschlands Siegeswillen bis zum Zerspringen angefüllten Brust.“ [91] Nach den Siegen bei Sedan von 1870 finden wir (anders als nach dem Ersten Weltkrieg) kein Gedenken der Kriegstoten.[92] Auch 1872 verzeichnete das Protokoll keine Siegesfeier. Im Gegenteil, könnte man fast sagen, fand Vietsch ein sehr ausführliches, in Verse gefasstes „poetisches Protokoll“, aus dem hervorgeht, dass die Feier „sehr gemütlich verlief.“[93] Uniformträger suchen wir unter den Eiswettgenossen vergeblich. Auch die drei Berufsoffiziere des Gründerkreises von 1829 waren nicht in Uniform erschienen, wie auf den eigenen bildlichen Darstellungen der Runde bei Schürmann zu erkennen ist. Sie trugen das Habit der Bürgerlichen, den „Schniepel“ (Frack). Auch in der Hochzeit des wilhelminischen Militarismus finden wir keinen Offizier unter den Mitgliedern. Lediglich auf der Gästeliste der 75-Jahr-Feier findet sich ein Hauptmann.[94]

Dagegen hatten hanseatische Vorbehalte gegen die Verleihung von Orden durch Adelsgeschlechter welcher Art auch immer,[95] manche Gelegenheit, sich zu entfalten. Mit ironischem Unterton berichtete Präsident Vietsch, dass sich die Feier von 1870 „gewissermaßen zu einem Ordensfeste“[96] ausgeweitet hätte.

[88] Vgl. Uwe Schwartz, a.a.O., S.48.
[89] Vgl. Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.17 und Feuß-Festschrift, a.a.O., S.29/30.
[90] Vgl. Schulz, a.a.O., S.695.
[91] Feuß, a.a.O., S. 27.
[92] In den Protokollen gibt es lediglich Hinweise auf das Gedenken verstorbener Mitglieder. So berichtet Löbe von der Feier im Jahr 1859, dass dort „des verstorbenen Präsidenten Runge und zweier anderer Mitglieder gedacht wurde.“ Löbe, a.a.O., S.109.
[93] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S. 13.
[94] Vgl. Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.17 und Feuß-Festschrift, a.a.O., S.29/30.
[95] 1806 war der Bremer Bürgereid um folgenden Passus ergänzt worden: „Kein Mitglied des Rates darf hinfort auswärtige Ämter, Titel, Orden annehmen und kein Bürger jeglichen Standes dasselbe tun ohne Erlaubnis des Rates. Bremer Bürger zu sein ist höchste Ehre.“ Zitiert bei Schulz, a.a.O., S.29
[96] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.12.

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Damals war Präsident Krummacher „auf einem schwarzen Sammetkissen (ein) mit Edelsteinen reich geschmückt, schwarzweißes Ordensband, an welchem eine Rosette mit den norddeutschen Bundesfarben und eine riesige, kaiserliche Reichsmünze befestigt war“, verliehen worden. [97] Im Protokoll hieß es dazu, dass schwarz und weiß „Eis und Wasser bedeuten und die prachtvollen Edelsteine in Gestalt von Hosen- oder Westenknöpfen, das sind die lieben Wettgenossen … Die Rose aus rot und weißem Bande … soll die Liebe derselben, womit die Wettgenossen sich und auch die Wette verschlingen … gelten.“[98] Man verulkte sogar die höchste Tapferkeitsauszeichnung Preußens, den von Friedrich II. gestifteten „Pour le mérite“ mit einem Spaß-Orden, den man „Pour le Giez“[99] (Geiz) nannte. Er trug die Handschrift des Präsidenten und Arztes Krummacher. Ein „Staats- Hämorrhoidarius“ sollte die Finanzen unter Kontrolle halten. Seine Aufgabe war es, Eier zu legen „und zwar goldene in Form von Dukaten.“[100] Er hatte die Form eines „Dukatenmännchens in vollem Betriebe,“[101] den der „Hofpoet“ Müller selbst gebastelt hatte.[102]

„Ausgelassen wurde kaum jemals ein Trinkspruch auf Deutschland.“ Aber die meisten Trinksprüche gingen in andere Richtungen: „auf Bremen, auf die Weser, auf Handel und Schifffahrt, nicht zu vergessen auf die „Frauen und Jungfrauen,“ schreibt Chronist Löbe.[103] Hier und da finden sich Spuren von Kaiserverehrung. 1879 brachte Präsident Wille zu Beginn ein Hoch auf den Kaiser aus.[104] Auf dem 75jährigen Jubiläum 1904 [105] fand Präsident Vietsch „schöne Worte für die Genesung des Kaisers, dessen plötzliche Erkrankung schlimme Befürchtungen hatte aufkommen lassen, dass er an der gleichen bösartigen Krankheit leiden könnte wie sein Vater Friedrich III. „Die Versammelten stimmten jubelnd ein in das … ausgebrachte Hoch auf den deutschen Kaiser, und die Musik spielte das Deutschland-Lied.“[106]

[97] A.a.O.
[98] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.13.
[99] Feuß, a.a.O., S.25.
[100] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.12.
[101] Vietsch-Festschrift, a.a.O.
[102] Löbe, a.a.O., S.140.
[103] Löbe, a.a.O., S.73.
[104] Vgl. Feuß-Festschrift, S.28.
[105] Vgl. Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.14, Feuß, a.a.O., S.29 – 32 und Löbe, a.a.O., S.113/114.
[106] Feuß a.a.O., S.30.

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Bild 7 Das Bremer Kriegerdenkmal von 1875 auf einer Postkarte um 1900.

Im Mittelpunkt der Eiswetten stand letztlich immer der Kaufmann. Die Hansestadt spielte ja inzwischen auch mit ihren nationalen Häfen eine besondere Rolle im Reich. Selbst die Errichtung eines Denkmals zur Reichsgründung geriet zur Darstellung des hansestädtischen Selbstbewusstseins. Das 1875 in den Wallanlagen aufgestellte Monument, das einen Soldaten mit gezücktem Schwert zeigte, unter dessen Füßen französische Kriegstrophäen lagen, offenbarte zwar Pathos und mitreißenden Schwung, doch war hier „keine Beschwörung der Reichseinheit angedeutet.“[107] Schon im März 1871 hatte die Bürgerschaft eine Deputation eingesetzt, die den Auftrag hatte, ein Kriegerdenkmal zu errichten als Symbol für den „ehrenvollen Antheile“, welchen die „Söhne Bremens an dem nunmehr glücklich beendeten Kriege gehabt haben.“[108] „Ein solches Denkmal“, hieß es damals in der Beschlussfassung, „wird erhabener und nachhaltiger wirken als die großartigen Dimensionen eines Prachtwerks, welchem die besondere Beziehung zur Heimat fehlt.“[109] Im Fuß der Statue waren die Namen und Lebensdaten von 56 gefallenen Bremer Soldaten eingraviert. Es war eher ein Bremer als ein nationales Denkmal. Und so wurde es 1875 auch nicht am 2. September, dem „Sedanstag“, eingeweiht, sondern am 5.12., dem Tag, als das Bremer Bataillon in Orléans einmarschiert war.[110]

[107] Beate Mielsch, Denkmäler, Freiplastiken, Brunnen in Bremen 1800-1945. Bremen, 1980, S.22.
[108] Zitiert bei Beate Mielsch, a.a.O.
[109] Zitiert bei Beate Mielsch, a.a.O. Vgl. Das Große Bremen-Lexikon, a.a.O., Bd. 1. S.505.
[110] Vgl. Schulz, a.a.O., S. S.695/96.

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Die Feier zum 50jährigen Jubiläum (1879) – Der Umzug in die „Gesellschaft Museum“ (1881)

Begleitet von den Klängen einer Kapelle, wurde am 20. Januar 1879 das 50jährige Jubiläum mit 64 Teilnehmern begangen.[111] Präsident Wille wurden zwei „Gemälde“ überreicht, das eine untertitelt mit „Hurrah! De Weser steiht!“, das andere mit „Hurrah! De Weser geiht!“ Das Essen fiel noch üppiger aus als sonst. Mehr als ein Dutzend Festredner traten auf, von denen elf namentlich im Protokoll erwähnt werden. Ein gewisser C. Natermann hielt nicht nur einer Rede, sondern erfreute die Teilnehmer darüber hinaus auch mit seinem „wohlgelungenen Gesang.“[112] Höhepunkt war, wie immer, das abschließende Kartenspiel an nicht weniger als neun Spieltischen, das sich nach Aufhebung der Tafel um 18.30 Uhr noch bis 23.30 Uhr hinzog – Zeit genug für so angeregte Unterhaltung, wie sie – nach Protokollvermerk – noch nie vorgekommen war.

Der Umzug in die Räume der „Gesellschaft Museum“ war ein weiterer Schritt in Richtung „gehobener“ Bürgerlichkeit. Die „Gesellschaft Museum“ war in ihren Anfängen am Ende des 18. Jahrhunderts ein Institut der Aufklärung gewesen (als solches später noch Keimzelle des Übersee-Museums). Erst allmählich war sie dem Trend anderer Clubs gefolgt, in denen „Lektüre und Bildung nicht mehr als zentraler sinnstiftender Vereinigungszweck aufgefasst, sondern durch vielfältige andere soziale Aktivitäten ergänzt oder ersetzt (wurden).“[113] Sie hatte sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu einem „Club für Literatur und Geselligkeit“ entwickelt.[114]. Alwin Lonke kam in einem Aufsatz über die Gesellschaft „Museum“ zu dem Urteil, dass sich in ihren Räumen „das Leben eines vornehmen Herrenklubs (entfaltete), unbeschwert von wissenschaftlichen und merkantilen Belängen. Manch rauschendes Fest ist gefeiert und unzählige gemütliche Abende sind verplaudert, verspielt und verlesen worden.“[115] Dank ihrer naturhistorischen und ethnographischen Sammlungen, „die der ganze Stolz“ des Vereins waren, hatte sie aber immer noch eine quasi öffentliche Funktion, bis sie 1875 die Sammlung und die damit zusammenhängenden Teile der Bibliothek aussortierte. [116] Der nach Plänen von Heinrich Müller 1873 bis 1875 erfolgte Umbau ihres klassizistischen Gebäudes am Domshof in einen Prachtbau der venezianischen Renaissance lag ganz auf der Linie, dass sich die Gesellschaft zu einem „privaten Herren-Club herausgehobener Bürger“[117] entwickelte.

[111] Vgl. Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.14, Feuß, a.a.O., S.28/29 und Löbe, a.a.O., S.98, S.112 und S.133.
[112] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.14.
[113] Schulz, a.a.O., S.217.
[114] Herbert Schwarzwälder, Das Große Bremen-Lexikon, a.a.O. Vgl. Der Club zu Bremen, a.a.O.., S.136.
[115] Alwin Lonke, Gesellschaft Museum, in: 150 Jahre Bremer Clubleben. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte Bremen, hrsg. vom Club zu Bremen, Bremen 1933, S.55-151; hier S. 140.
[116] Man trat sie 1875 an den „Künstlerverein“, die Stadtbibliothek und an den „Naturwissenschaftlichen Verein“ ab. Allein der Wert der Bücher soll eine Viertel Million Mark betragen haben. Vgl. Schulz, a.a.O., S.633/634. Die Sammlung befand sich bis 1890 im dritten Geschoss des zur Domgemeinde gehörenden Gebäudes, das sich später „Die Glocke“ nannte. Architekt Heinrich Müller hatte es 1869 mit Festsälen zum Vereinshaus des Künstler-Vereins umgestaltet. Vgl. Wikipedia Stichwort „Die Glocke Bremen“ am 10.11.2016 und Uwe Schwartz, a.a.O., S.62.
[117] Schulz, a.a.O., S.634.

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Bild 8 Im italienischen Renaissance-Stil von Heinrich Müller erbaut: das Gebäude der „Gesellschaft Museum“, Domshof / Ecke Schüsselkorb um 1885 (heute Teil der Deutschen Bank).

„Wie es sich für einen Herrenclub gehört“, wurden schließlich die Mitglieder von einem „Portier im Livree-Rock“ empfangen.[118] Als die Eiswette 1881 einzog, war sie selbst schon Teil „eines regen und exklusiven Treibens, bei dem besonders auf die Pflege vornehmer Formen geachtet wurde.“[119] Hier tagte die Eiswette bis 1912. Gegen Ende des Jahrhunderts neigte sich jedoch das Clubleben der Stadt seinem Ende zu. Die Gesellschaft „Erholung“ hatte sich schon 1866 aufgelöst. Die Mitgliederzahl der Gesellschaft „Museum“ sank kontinuierlich.[120] Das Clubhaus war finanziell nicht mehr zu halten und wurde 1911 an die Deutsche Bank verkauft. [121] Die Eiswette sah sich nach einem neuen Quartier um. 1913 traf man sich zum ersten Mal in „Hillmanns Hotel“ am Herdentor, dem vornehmsten Etablissement der Stadt.

[118] Der Club zu Bremen, a.a.O., S.205.
[119] Alle Zitate, wen nicht anders angegeben, aus Schulz, a.a.O., S.634 und 636.
[120] 1875 waren es 722, 1883 572, 1906 323. 1931 hatte sie noch 126 Mitglieder. Vgl. Schwarzwälder, Das Große Bremen-Lexikon, a.a.O. Vgl. Club zu Bremen, a.a.O., S. 207. Vgl. Schulz, a.a.O., S.636.
[121] Die „Gesellschaft Museum“ zog in die Bel Étage eines Geschäftshauses am Wall gegenüber dem Stadttheater. 1931 ging sie im „Club zu Bremen“ auf. Vgl. Der Club zu Bremen, a.a.O., S.221/222 und S. 236 – 238.

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Bild 9 Titelseite der Festschrift von 1904.

Die Feier zum 75jährigen Jubiläum (1904)

Der Jubiläumsfeier, zu der man 20 Gäste aus Bremen zu den anwesenden 43 (von 66) Genossen) eingeladen hatte,[122] verdanken wir den guten Einblick in die Eiswett- Festlichkeiten und ihre Vorläufer seit 1817. Präsident Vietsch hatte auf der Grundlage der Protokolle eine kleine Festschrift verfasst, in der er den Werdegang der Eiswette mit ihren Höhepunkten und den Beiträgen der wichtigsten Genossen seit 1829 darstellte.[123] „Die Worte flossen überhaupt an dem Abend leicht dahin, und es wurden nacheinander berührt die bremische Flagge, die deutsche Kultur, Bremen, die Damen usw. Mitglieder des Stadttheaters trugen ihre besten Weisen vor, endlich folgte den Tafelfreuden das Kartenspiel und die behäbige Unterhaltung.“[124]

[122] Vgl. Feuß-Festschrift, S.29/30 und Vietsch-Festschrift, S. 17.
[123] Vgl. Kapitel I: Die Kartenspielrunde von 1817.
[124] Feuß, a.a.O., S.32

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Bild 10 Aus der Festschrift zur 75-Jahr-Feier: Daten, Teilnehmerzahlen, Präsidenten, Orte und die Information darüber, ob die Weser „offen“ oder „zu“ war.

Die Rituale

Jux und Tollerei

Der Umzug in die „Union“ hatte nicht nur eine Außenwirkung entfaltet, sondern sich auch „binnen“ bemerkbar gemacht. Gesellige Treffen der Genossen in den Clubräumen der „Union“ dürften sich über das Jahr vervielfältigt, vertieft und zu noch größerer Vertrautheit geführt haben. Für die Zeit von Präsident Runge, der sein „Amt“ noch acht Jahre in der „Union“ ausgeübt hatte, konnte Vietsch keine „besonderen Ereignisse“ feststellen, wohl aber den Umstand, „dass Frohsinn und Heiterkeit die Versammlungen belebten, und auch die damals in der Mehrzahl älteren Herren sich einen jugendlich frischen Sinn bewahrt hatten.“[125] Da das Kegeln in den Clubräumen wegfiel, die Treffen aber nach wie vor um 16.30 Uhr begannen, hatte man viel Zeit, um ganz anders gearteten Vergnügungen zu frönen. Vietsch notierte über die Periode von Präsident Dr. med. C.E. Krummacher (1859 – 1871), dass „besonders Witz und muntere Laune herrschte, auch fehlten Foppereien der Mitglieder untereinander nicht.“[126] In den siebziger und 80er Jahren verliefen ebenfalls „alle Zusammenkünfte in heiterster, allseits befriedigender Weise.“[127]

[125] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.6.
[126] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.7
[127] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S. 13.

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Bild 11 Ein Stimmungsbild von der 175-Jahr-Feier 2004. Foto: Frank Pusch.

Der Spaß am Verhohnepipeln von Wappen, Ämtern, Orden und das Veralbern von Großer Kunst fand ein weites Feld auf den Feiern. Es fing 1862 an, als Präsident Krummacher dank seiner „hervorragenden heraldischen Kenntnisse“ der Eiswette „ein eigenes Wappen“ schenkte,[128] das seit 1863 [129] – heute in graphisch aufgehübschter Form, ergänzt um den nach dem Zweiten Weltkrieg hinzugefügten Händedruck und seit 2007 patentamtlich geschützt – die Einladungsschreiben der Eiswette ziert. „Es stellt den Heiligen Sylvester vor, wie er, über braunen Kohl und Portwein thronend sein Gewehr, eine Pinkel, zu Ehren der gewinnenden Partei präsentiert.“[130]

[128] Vgl. Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.8.
[129] Vgl. Löbe, a.a.O., S.2.
[130] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.8.

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Bild 12 Aus der Festschrift zur 75-Jahr-Feier: Das Spaß-Wappen von 1862 mit Heiligem Sylvester, Weinflasche, Kohl und Pinkel.

Was ausgerechnet den Heiligen Sylvester, abgebildet als älterer Bürger mit Haarkranz, in die Reihen der Eiswettgenossen geführt hat, bleibt ein Rätsel. Keine Festschrift und keine Chronik hat es gelöst. Aber welche seriösen kaufmännischen Wappen da veralbert wurden, kann man noch heute im Wappensaal von „Haus Seefahrt“ in Bremen Grohn bewundern. Der „Hofpoet“ Müller erhielt das „große Band des Windmüllerordens“ – da waren karnevalistische Anklänge zu hören. Eine andere Auszeichnung war die „Verdienstschnalle“, ein rotweißes Band mit einer Schere. Die Geehrten sollten in die „Matrikel des Ordens der Ritter der Verdienstschnalle“ eingetragen werden.[131] Dem Präsidenten war nach seiner malerischen Großtat mit dem Wappen ein „schweinsborstiger Pinsel“ überreicht worden, verbunden mit einer Urkunde und dem Ehrentitel eines „Neu-Rubens“.[132] Zwei „Gemälde“ des Neu-Rubens aus den sechziger Jahren, als Ulk gedacht und aus Spaß von den Genossen als „wertvolles Geschenk“ angenommen, assoziieren schon fast modernes Theater. Sie bestehen je aus einer schwarzen und einer schlicht weißen Fläche, die, nach Auffassung des Künstlers das „Chaos vor Erschaffung der Welt“ und „eine sibirische Schneefläche“ darstellen, aber im Grunde für jede andere Interpretation offen sind.[133] Man könnte sich dazu eine lebhafte Diskussion der Genossen vorstellen, ohne dass die Herren allerdings – wie die drei Freunde in Yasmina Rezas Theaterstück „Kunst“ vor der leeren Leinwand – in unvorhergesehene Konflikte gestürzt worden wären.

[131] Löbe, a.a.O., S.140.
[132] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.9.
[133] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.11. Vgl. auch Löbe, a.a.O., S.78/79.

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Bild 13 Aus der Festschrift zur 75-Jahr-Feier.

In der Regel war der Unterhaltungsbedarf der Gesellschaft handfest. So notieren die Protokolle Auftritte eines Dialektredners und eines Kunstpfeifers.[134]

Dichten, Reden und Gesang

Das Vergnügen begann schon beim Verlesen der Protokolle. Sie waren häufig humorvoll aufbereitet und manches Mal sogar vollständig in Gedichtform abgefasst, also Teil der Spaßkultur. Noch 1906 und 1907 wurden sie „in leicht dahinfließenden Knittelversen“ [135] abgefasst. War der Satzungstext in seinen ersten dreizehn Paragraphen schon reichlicher Nonsens, insofern als er das rein private Vergnügen der Spiel- und Wettrunde in schein-juristische Formeln presste, so ging der § 14 noch darüber hinaus: „Die Functionen des Hof-Poeten der Gesellschaft bleiben unverändert, von seiner Pflicht, die Verzehrung der Eiswette durch seine Reden, seine Poesie und seinen Witz zu würzen und zu erheitern, darf ihm auch nicht ein Tittelchen (etwa: ein „Fitzelchen“) erlassen werden.“[136] Was hier beschrieben wird, entspricht dem, was man sich unter der Aufgabe eines Hofnarren vorstellen könnte. In den sechziger Jahren hatte ein gewisser August Ferdinand Müller, genannt „Cicero II., Professor der Redseligkeit“, mit seinen rednerischen und poetischen Ergüssen die Gesellschaft zu so „heller Begeisterung entflammt“, dass man ihm einen „Lorbeerkranz aus den schmackhaften Blättern der nordischen

[134] Vgl. Löbe, a.a.O., S.79.
[135] Feuß, a.a.O., S.32.
[136] Abgedruckt bei Löbe, a.a.O., S.84.

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Palme“ ums Haupt legte und ihn einstimmig zum ersten Hofpoeten der Eiswettgenossenschaft ernannte – „jedoch ohne Gehalt und zwar in Erwägung 1) dass er, wie man sagt, etwas zuzusetzen habe, 2) dass ihm daher eine knappe Diät sehr heilsam sein werde, 3) dass er genügend von der Ehre werde leben können.“[137] Seine Preisrede hielt er auf den Schnurrbart des Präsidenten. Überhaupt nahm die „Dichtung der Amateurklasse eine bedeutende Rolle auf den Feiern ein“[138] Das Plattdeutsche hat „zu allen Zeiten bei der Eiswette immer wieder eine Heimstatt gehabt, in der älteren Zeit verständlicherweise, denn damals wurde in den Bremer Familien aller Schichten viel Platt gesprochen, so zum Beispiel in der des Bürgermeisters Smidt“, schrieb Löbe. Der Verfasser der Festschrift von 1929, Rudolph Feuß, hatte selbst „in der Vorkriegszeit und später manche eigene Dichtung in dieser Mundart vorgetragen.“[139]

Wir können es uns heute nicht recht vorstellen, wie ein geduldiges und aufmerksames Publikum bis zu zwölf Reden an einem Abend nicht nur über sich ergehen ließ, sondern mit Begeisterung begleitete. So geschehen auf der 50 -Jahr-Feier 1879, als die Redner einander an Witz zu übertreffen versuchten.[140] Es war viel Raum für die Entfaltung rhetorischer Fähigkeiten, denn die Reden waren nicht vorher vergeben. Aus den vier Jahren Präsidentschaft von Wilhelm Frahm (1893 – 96) listete Chronist Vietsch zwölf Eiswett- Genossen namentlich auf, die sich durch „treffliche Reden“ hervorgetan hätten.[141] Die große Zahl der aktiv die Feier Gestaltenden dürfte erheblich zur ausgelassenen Stimmung beigetragen haben. Erst gegen Ende des Jahrhunderts wurden aus den einleitenden Worten des Präsidenten förmliche Festreden.[142]

Auf allen Eiswetten wurde kräftig und ausgiebig gesungen. Während auf den Schaffermahlzeiten der Gesang mit einem festen Liedprogramm ritualisiert war [143] , gab es auf den Eiswetten „oft Soli und einen guten Sängerwettstreit. Der einzelne sang ganze Lieder von Anfang bis Ende allein vor. Ein Duett war ebenfalls an der Tagesordnung.“[144] Das Singen erfolgte während des Nachtischs. Im Protokoll von 1847 findet sich folgender Passus: „Ein Ältermann erfreute uns durch seine Herablassung, indem er die Güte hatte, mit einem gewöhnlichen Plebejer aus unserer Mitte einige Duette vorzutragen, wobei sich indes herausstellte, dass den beiden Herren, bei ihrer schönen Stimme, wie früher schon, der Text fehlte, weshalb beschlossen wurde, sie zu ersuchen, nächstes Jahr doch gefälligst vor der Versammlung diesen einzuüben oder mitzubringen. Den Schluss machte ein schönes Duett aus Cosi fan tutte…“[145] Auf den Schaffermahlzeiten erklangen „Die Wacht am Rhein“[146] und das „Deutschland-Lied“, das auf der Eiswette nur zu besonderen Anlässen gesungen wurde, z.B. auf der 75-Jahr-Feier. Da sang man auch „Die Wacht am Rhein“, allerdings mit einem anderen Text, als selbstgedichtetes „Tafellied“ zum Empfang der Gäste. Es gehörte schon eine gehörige Portion „Zivilist“ dazu, die inoffizielle Nationalhymne des Kaiserreichs mit einem banalen Text im Chor zu schmettern.[147]

[137] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.11. Vgl. Löbe, a.a.O., S.79.
[138] Löbe, a.a.O., S.78.
[139] Löbe, a.a.O., S. 118.
[140] Vgl. Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.14.
[141] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.15. Elf Redner von 1879 wurden namentlich erwähnt. Vietsch, a.a.O., S.14.
[142] Vgl. Löbe, a.a.O., S.110.
[143] Eine Broschüre mit den „Festliedern zur Schaffer-Mahlzeit 1883 zu Bremen“ enthält nicht weniger als 24 durchnummerierte Liedtexte – von erhabenem bis heiterem Gehalt. Zu den leichten gehörten zum Beispiel “Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein!“, „Ännchen von Tharau“ und „Lasst die Gläser hell erklingen!“; zu den erhabenen die offizielle Nationalhymne „Heil Dir im Siegerkranz.“ Es befindet sich in der Sammlung des Staatsarchivs StAB 7,60/2 – 15 c I.
[144] Löbe, a.a.O., S.77.
[145] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.6.
[146] „Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall! Zum Rhein! Zum Rhein! Zum deutschen Rhein! Wer will des Stromes Hüter sein? Lieb‘ Vaterland magst ruhig sein; fest steht und treu die Wacht am Rhein.“.
[147] Vgl. Feuß-Festschrift, a.a.O., S.30.

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In den sechziger Jahren hatte man scherzhaft sogar einen Eiswettgenossen zum „Generalmusikdirektor“ ernannt.[148] „Zum Abschluss der gesanglichen Darbietungen wurde oft eine Art Vereinslied in großer Heiterkeit gemeinsam gesungen, dessen vollständiger Text nicht überliefert ist. Möglicherweise bestand er auch nur aus dem Satz: “Stets soll es uns’re Losung sein: Die Eintracht soll uns nie entzwei’n!“[149]

Schlemmen und Trinken

Der Spott des alten „Bundesliedes“ über den „Vaterländischen braunen Kohl mit Zubehör“ aus der Zeit des Präsidenten Frahm lässt keinen Zweifel daran, dass man sich an üppigen Schlemmereien labte. Löbe berichtete, dass man nach den gesanglichen Darbietungen, die das Dessert begleiteten, gemeinsam und „in großer Heiterkeit“[150] das Bundeslied sang:

Das „Bundeslied“:
„So, wie die Väter einst geeist,
Wird heut zu Tag‘ nicht mehr gespeist.
Mit Pinkeln und mit braunem Kohl
Schlug einstens man den Bauch so voll.
Heut‘ findet sauren Kohl man gut
Für die Verdauung und fürs Blut.
Sonst trank man seine Flasche leer.
Jetzt wird es manchem etwas mehr.
Doch sonst ist alles jedenfalls
Noch heute so wie dunnemals.
Drum rufen wir mit Mut und Kraft:
Hoch leb‘ die Wettgenossenschaft!“[151]

Die Darstellung der Menüfolge gehörte zwar nicht zum Protokoll, so dass eine genaue Datierung des Übergangs vom Kohl zum Schlemmermahl nicht möglich ist.[152] Aber es dürfte nicht lange nach dem Umzug in die „Union“ im Jahr 1851 gewesen sein, denn wie wollte man Gäste aus diesem Milieu mit „Kohl und Pinkel“ locken? [153] Für das Jahr 1889 ist eine komplette Speisenfolge überliefert.

Ochsenschwanzsuppe, Rindersteak mit Meerrettich, Madeirasoße, gefüllte Zwiebeln und Teltower Rüben, Steinbutt mit Sauce Hollandaise und geschmolzener Butter – wahlweise Seezungenfilets mit Hummer – Prager Schinken mit Sauerkohl, gebacken Austern, geröstete Kastanien und Kartoffelbrei, Poularden mit Salat und Kompott und warme Gänseleberpastete. Den Abschluss bildeten Eistorte, Früchte und Käse.[154]

Wein war von Anfang an auf dem Tisch. „1829 trank man Wein, beim fünfzigsten, fünfundsiebzigsten, hundertsten und hundertfünfundzwanzigsten Jubiläum ebenfalls,“ schrieb schreibt Chronist Löbe zum 150.Jubiläum 1979.[155]

[148] Löbe, a.a.O., S.149.
[149] Löbe, a.a.O., S.77. Vgl. Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.6 und S.16.
[150] Löbe, a.a.O., S.77.
[151] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.15.
[152] Eine Ausnahme bilden die Protokolle von Präsident Frahm (1893 -1896), in denen die Speisenfolge angeben sind. Vgl. Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.15
[153] Vgl. Löbe, a.a.O., S.91.
[154] Vgl. Löbe, a.a.O., S.91/92.
[155] Löbe, a.a.O. S.94.

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Man suchte ihn vorher aus und brachte aus praktischen Gründen nur eine Sorte auf den Tisch.[156] Während des Kartenspiels, in der Regel erst nach Aufhebung der Tafel, ging man zu härteren Getränken über. Vietsch notierte für die Zeit von 1859 bis 1871 „bei fast jeder Festlichkeit den enormen Verbrauch von „Zuckerwasser“ und zitierte aus einem Protokoll: „Eis macht kalt; wo’s kalt ist, da wird eingeheizt, wo zu stark eingeheizt wird, da entsteht Hitze oder gar Brand. Hitze oder gar Brand aber sollen gelöscht werden, und das geschieht am besten nach der neuesten Erfindung … mit Zuckerwasser.“[157] (Es war offensichtlich der Vorläufer des späteren Eiskorn, der heute zu Beginn der Feier auf jedem Tisch steht.) Zahlreiche Trinksprüche der heiteren Art, spontan vorgetragen, beförderten die allgemeine Ausgelassenheit. Für die Jubiläumsfeier von 1904 fürchtete Präsident Vietsch, vermutlich nicht zu Unrecht, ein Ausufern des Ganzen und verlangte deshalb, dass ihm Trinksprüche vorher gemeldet werden müssten.[158]

Spenden

In Anbetracht des auf den Eiswetten versammelten Reichtums – und mit einem Seitenblick auf ihre enormen Spendensummen nach dem Zweiten Weltkrieg – stellte sich Chronist Karl Löbe zum 150. Jubiläum 1979 die Frage, warum die Eiswette nicht schon vor dem 1. Weltkrieg gespendet hat. Den Grund meinte er darin gefunden zu haben, dass sie damals „noch eine kleine Gemeinschaft“ war „ohne Anspruch auf Mitwirkung im öffentlichen Leben der Stadt.“[159] Aber die Vorstellung einer „Öffentlichkeit“ außerhalb der eigenen Kreise, vor der man sich möglicherweise zu verantworten hätte, wäre den Eiswettgenossen absurd erschienen, repräsentierten sie doch selbst als Teil der städtischen Elite den öffentlichen Diskurs.

[156] Vgl. Löbe, a.a.O., S. 94/95.
[157] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.7. Vgl. Löbe, a.a.O., S. 98.
[158] Vgl. Löbe, a.a.O., S.113.
[159] Löbe, S.145.

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Bild 14 Jahrbuch der Millionäre von 1912.

Der Grund für die Zurückhaltung muss ein anderer gewesen sein. Rudolph Feuß, sozialer Aufsteiger und enger politischer Verbündeter der Bremer Kaufmannschaft, ging in einem Artikel zum Tod von Henrich Wuppesahl, dem Sohn von Carl Johann, nebenbei auf das Spenden ein, der Aufschluss geben könnte. Wuppesahl, ein “weiches Gemüt“ und ein „vornehmer Charakter“, schrieb Feuß, hätte „die bedauerlichen Folgen dauernder Unterstützungen“ erkannt und keinen Sinn darin gesehen, „durch häufigere kleinere Gaben den Notleidenden an Gabenempfang zu gewöhnen.“[160] In dieser Haltung kommt ein Unverständnis zum Ausdruck für das, was längst als „soziale Frage“ im ganzen Deutschen Reich auf der Tagesordnung stand, nämlich die unverschuldete wirtschaftliche Notlage von großen Teilen der Industriearbeiter-Klasse. Die „vorbürgerliche“ Zeit Bremens, als „der genossenschaftlich organisierte Bürgerverband … die Teilnahme und Teilhabe des Bürgers am Gemeinwesen“ voraussetzte, schreibt Andreas Schulz in seiner grundlegenden Arbeit über Eliten und Bürger in Bremen von 1750 bis 1880, „diesem Kommunitarismus wurde seit 1800 das Fundament entzogen.“[161] Das wirtschaftlich erfolgreiche liberale Bürgertum des 19. Jahrhunderts scheute die Berührungen mit den „unterbürgerlichen Sozialgruppen.“ Es „trat vorzugsweise in der distanzierten Pose des wohltuenden Gönners durch finanzielle Spenden und Stiftungen hervor.“[162] Die Eiswettgenossen mögen also durchaus, wie Löbe schreibt, ein Gefühl für das Spenden gehabt haben, „zeichnet sich das vorige Jahrhundert in Bremen (doch) durch besondere Spendenfreudigkeit seiner Bürger aus. … Wir dürfen davon ausgehen, dass auch die Mitglieder der Eiswette unter solchen Gebern waren.“[163]

[160] Rudolph Feuß, Wuppesahl, Heinrich (!) August. In: Bremisches Jahrbuch, Bd. 27 (1919), S. 225 – 228, hier S.228. Henrich war am 30. März 1918 verstorben.
[161] Schulz, a.a.O., S.704/705.
[162] Schulz, a.a.O., S.709.
[163] Löbe, a.a.O., S. 145.

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Allerdings richtete der Kaufmann, wie Schulz feststellt, „sein soziales Engagement stärker auf die Stadt und ihre Institutionen“[164], also auf große, kostspielige Projekte, zum Beispiel auf das neue Stadttheater an der Bischofsnadel (1843), auf die Kunsthalle (1849) und den Bürgerpark (1866), in dessen Gestaltung allein 12 Millionen Goldtaler bis 1914 flossen. Auch und gerade in diesen Großprojekten kaufmännischen Mäzenatentums stellte man sich selbst dar und war – dies nicht zu vergessen – selbst deren Nutznießer. Die andere Seite der beeindruckenden kaufmännischen Großzügigkeit war der Reichtum der „großen“ Familien. Nun gehörten die Eiswettgenossen nicht in die Riege der ganz großen Vermögen. Es gibt zwei zeitgenössische Quellen, die darüber Auskunft geben. Die eine ist das „Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in den drei Hansestädten“ von 1912,[165] das andere ist die „Liste des Bremer Generalsteueramtes über Vermögen von über 100.00 von 1918“.[166] In der Mitgliederliste der Eiswette von 1904 finden sich nicht die Superreichen aus dem Jahrbuch von 1912: kein Kulenkampff (Gesamtvermögen der neun Familienmitglieder: 36 Millionen (davon Caspar Gottlieb 11 Millionen und Johann Heinrich 9 Millionen); kein Melchers (Gesamtvermögen der sieben Familienmitglieder: 21 Millionen; davon Hermann 12 Millionen; außerdem drei Teilhaber der Firma: zusammen 9,6 Millionen); kein Johannes Christoph Achelis (14 Millionen), Fritz Achelis (je 14 Millionen Privatvermögen) oder Eduard August Achelis (8 Millionen); kein Carl Wilhelm August Fritze (9 Millionen); kein Wätjen (Georg 13 Millionen, Eduard und E.H. je 8 Millionen; kein Wilkens (vier Familienmitglieder mit insgesamt knapp 8 Millionen). Diese Zahlen bezeichnen, wohlgemerkt, nur das private Vermögen der Kaufleute (Baumwolle, Weine, Spirituosen), Reeder (Norddeutscher Lloyd, DG Hansa, DG Neptun), Bankkaufleute und Fabrikanten (Silber- und Goldwarenfabrik, Wollkämmerei). Hermann Melchers schätzte im Jahr 2004, dass seine Firma im Jahr 1912 mit ihren Überseebesitzungen in China heute einen Wert von 250 Millionen Euro darstellen würde.

Andererseits sind in beiden Quellen auch einige Namen bekannter Eiswettgenossen verzeichnet: [167] August Dubbers (Spedition Bachmann; Jahrbuch 1912: 5,2 Millionen, Steueramt 1918: 3,9 Mio.), Hermann Vietsch (1912: 2,8 Millionen, für 1918 keine Angabe); Heinrich Bömers (1912: 2,6 Millionen, 1918: 2,9 Millionen); Philipp Cornelius Heineken,

[164] Schulz, a.a.O., S.709.
[165] Rudolf Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in den drei Hansestädten (Hamburg, Bremen, Lübeck), Berlin 1912. Im Archiv der Handelskammer Bremen, Signatur P82 8 (1a). Martin gab damals – und das war völlig neu – eine Serie dieser Jahrbücher heraus, u.a. von Bayern, Württemberg, Sachsen. Er war 8 Jahre Referent im Reichsamt des Innern, Abteilung „Produktionserhebungen des Wirtschaftlichen Ausschusses zur Vorbereitung des Zolltarifs und der Handelsverträge.“ (Vorwort, S.X). Hamburg hatte damals 725 Millionäre, Bremen 177 , Lübeck 47. Das Vorwort mit Erläuterungen und grundsätzlichen Überlegungen zur Transparenz großer Kapitalvermögen könnte von der Sache her in unseren Tagen geschrieben worden sein. Hermann Melchers stützt sich in seiner Familienchronik aus dem Jahr 2004 auf dieses Jahrbuch. Vgl. Hermann Melchers, Die Geschichte der Firma C. Melchers & Co. von 1806 bis 2006, Bremen, 2004, S. 35.
[166] Liste des Bremer Generalsteueramtes: „Vermögen von über 100.000“. Bremen 1918. Sie ist alphabetisch nach Straßennamen geordnet und enthält 2053 Namen. StAB 4,26 – 377.
[167] Eine Reihe von Eiswettgenossen erreichte mit Eheschließungen einen sozialen Aufstieg, der oft auch mit erheblichen Vermögenszuwächsen verbunden war. Wilhelm Ludwig Bömers, der Großvater von Heinrich Bömers, heiratete 1817 eine Bremerin aus der alteingesessenen Brauerei-Familie Dannemann. Heinrich Bömers heiratete 1889, zwei Jahre nach Übernahme der Firma Reidemeister & Ulrichs, Margarethe Ulrichs, eine Enkelin des Firmengründers. Vgl. Georg Bessell, Heinrich Bömers, Senator in Bremen. Chef der Firma Reidemeister & Ulrichs. Ein Lebensbericht. 2. November 1864 – 1. April 1932. In Zusammenarbeit mit der Familie Bömers. Bremen 1964, S.17. Carl Wilhelm August Fritze heiratete die Ratsherrentochter Anna Vollmers. Vgl. Schulz, a.a.O., S. 341. Wilhelm Fritze, sein Bruder, der Eiswette-Mitbegründer, heiratete Elisabeth Focke, Tochter des reichen Notars und späteren Postdirektors Ulrich Focke. Seine Schwiegermutter vererbte ihm 1837 ein großes Landgut in Horn (die sogenannte Borgward-Villa). Vgl. 200 Jahre W.A.Fritze, a.a.O., S.12 und Schulz, a.a.O., S.80/81. Carl A. Wuppesahl heiratete im Jahr 1900 Anna Niemann aus der alten Bremer Kaufmannsfamilie J.H. und C. Niemann, den Gründern der Dampfschifffahrtsgesellschaft „Neptun“. Vgl. Bremer Nachrichten, 15.11.1950: „Goldene Hochzeit im Hause Carl A. Wuppesahl.“ Hans Degener-Grischow heiratete 1907 die Tochter des Kaufmanns und Konsuls Hermann Schellhass (1825 – 1901), einer Urenkelin des Gründers der Tabakfabrik E.F. Schellhass Söhne in Bremen. Vgl. Stichwort Degener-Grischow in der Bremischen Bibliographie, a.a.O., S. 102.

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Norddeutscher Lloyd (1912: 2,1 Millionen; 1918: 1,2 Millionen.), Christian Specht, Reeder (1918: 1,3 Millionen.), Rudolph Feuß (1912: 1,2 Millionen); C.A. Wuppesahl [168] (1918: 1,1 Mio.), Hans Degener-Grischow, Rechtsanwalt und Notar (1918: 480.000.)

Fünf biographische Skizzen

Heinrich Wilhelm Bömers

(*1817 Hessisch-Oldendorf an der Weser +1887 Bremen) Eiswette-Mitglied; 1870 Konsul des Königreichs Sachsen; Weinhandelsfirma Reidemeister & Ulrichs

Der Vater Wilhelm Ludwig Bömers (*1791) stammte aus einer alteingesessenen Kornhändler- und Ratsherrenfamilie in Stadthagen. Er kam 1808 nach Bremen und übernahm 1832 die Brauerei Dannemann von seinem Schwiegervater, dessen Tochter er 1817 geheiratet hatte. Heinrich Wilhelm fühlte sich neben seinem rüstigen Vater in der Firma nicht ausgelastet und machte eine Lehre in der Weinhandlung Gravenhorst. Er wurde der erste Weinhändler der Familie. Als er 1856 Teilhaber der Firma Reidemeister und Ulrichs wurde, in die er 1850 eingetreten war, brachte er 4259 Reichstaler mit ein.[169] In den fünfziger Jahren wurde er zunächst Prokurist, dann (1857) Teilhaber und schließlich Alleininhaber der Firma, die schon damals einer der führenden Weinhandlungen in Bremen war. Als der Sohn des Mitinhabers Ulrichs 1870 starb, übernahm er dessen Konsulatsamt für das Königreich Sachsen.[170] Was ihm noch nicht beschieden war, erreichten Sohn und Enkel: Sie wurden Vorsteher, bzw. kaufmännische Schaffer des Hauses Seefahrt.[171] Obwohl der Vater Wilhelm Ludwig Bömers schon „Bürger der Stadt mit Handlungsfreiheit“ war, musste auch der Sohn noch den Bremischen Staatsbürgereid leisten, um das Recht auf uneingeschränkten Handel zu erwerben. Sein Eid vor dem Senat der Stadt fiel in die Zeit der revolutionären Ereignisse von 1848. Im April war eine dem Senat durch Petition abgerungene neue Bürgerschaft nach allgemeinen Wahlen zur Ausarbeitung einer Verfassung zusammengetreten. Das geschah, anders als in anderen Teilen Deutschlands, ohne Barrikadenkämpfe.[172] Und so sollte es auch bleiben. Es war ein besonderer, den Ereignissen der Zeit geschuldeter Eid, den Wilhelm Heinrich Bömers am 21. Juni 1848 schwur: „Ich will dem Bremischen Freistaate treu und hold sein und der Verfassung desselben gewissenhaft nachleben. Ich will der Obrigkeit gehorsam sein und zu keinem Aufruhr Anlass geben, noch mich dazu gesellen.

[168] Am 18.11.1921 errichtete Carl A. Wuppesahl eine Stiftung in Höhe von 1 Million Mark, deren Zweck es war, „die Existenz der Kinder des Stifters und deren Nachkommen nach Möglichkeit zu sichern, auch das Gefühl der Familienzugehörigkeit zu fördern.“ So war es im ersten Paragraphen des Stiftungsprotokolls festgelegt. Allein die eingebrachte Summe ist schon bemerkenswert, noch mehr aber ist es ihre Geschichte. Denn so lautlos, wie die Million auftauchte, verschwand sie auch wieder. Die Inflation zehrte sie auf. Eine neue Anlage fand nicht statt. Niemand in der Firma dürfte etwas davon bemerkt haben, da die Summe dem laufenden Privatvermögen entnommen war. Wuppesahl hatte weder seinen Sohn Henrich informiert, der immerhin schon 18 Jahre alt war, als die Stiftung gegründet wurde, noch seine vier Töchter. Als die Behörde des Bremer Innensenators die Stiftung nach dem Tod von Carl A. Wuppesahl 1954 auflösen wollte, fielen die Erben aus allen Wolken. Vgl. StAB 4, 13/4 – 215. Senatsregistratur Reg. Nr. 678. Akte betr. die Carl August Wuppesahl- Stiftung vom 18. Nov. 1921.
[169] Vgl. Karl Löbe, Weinstadt Bremen, 1000 Jahre Umgang mit Wein. Bremen 1981, S.126.
[170] Der Titel blieb normalerweise in der Familie. Ulrichs‘ Sohn Friedrich hatte den Titel nach dem Tod des Vaters übernommen. Jetzt übernahm ihn der neue Firmenchef Heinrich Wilhelm Bömers. Vgl. Bessell, a.a.O., S.19.
[171] Sohn Heinrich 1904, Enkel Heinz 1928, dessen Sohn Heinz 1961, dessen Sohn Michael 1980. Auskunft des Archivs Haus Seefahrt.
[172] Vgl. Elmshäuser, a.a.O., S.76.

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Die mir als Staatsbürger obliegenden Pflichten will ich nach meinen besten Kräften erfüllen; Schoß [173], Accise [174] und die Consumptionsabgabe [175], sowie alle unter Gewährschaft des Eides gestellte öffentliche Abgaben will ich gewissenhaft entrichten, auch meiner Wehrpflicht genügen. Wenn ich verfassungsmäßig bei Berathung, Beschlußnahme oder Verwaltung von Staats- oder Gemeindeangelegenheiten mitzuwirken habe, will ich nach bestem Wissen und Gewissen keine andere Rücksicht als die auf das gemeine Beste vorwalten lassen, überhaupt aber das Wohl des Bremischen Freistaats zu fördern und jeden Schaden und Nachtheil von ihm abwenden redlich bemüht sein. So wahr mir Gott helfe!“[176]

Auf der 50-Jahr-Feier 1879 ergriff neben dem zweiundsechzigjährigen Konsul Heinrich Wilhelm Bömers auch der vierundsechzigjährige Carl Johann Wuppesahl das Wort.[177]

 Carl Johann Wuppesahl

(*1815 Bremen +1901 Bremen) Eiswette-Mitglied seit 1871; See-Assekuranzen; Kaufmännischer Schaffer des „Hauses Seefahrt“

Bild 15 Johann Carl Wuppesahl, Nestor der Eiswette in der Kaiserzeit.

[173] Schoß ist die älteste bremische Steuer, eine auf Vermögen erhobene Abgabe. Vgl. Schwarzwälder II, S.41 und passim. Bürger mit Vermögen über 3000 Talern waren schoßpflichtig. Da die immerhin 2600 Schoßpflichtigen im Jahr 1845 ein Durchschnittsvermögen von 14.000 Talern hatten, lag Bömers 1856 noch im unteren Bereich der Vermögensskala, während es schon einige sehr reiche Bürger gab. Vgl. Schwarzwälder, Bd. II, S. 170/171.
[174] Akzise: Ausfuhrsteuer, die am Stadttor erhoben wurde, bevor die Ware die Stadt verließ.
[175] Consumptions-Abgabe: Steuer auf den Verkauf einer Ware.
[176] Karl Löbe, Weinstadt Bremen, a.a.O.
[177] Vgl. Vietsch-Festschrift a.a.O., S.14. Der Inhalt ihrer Reden ist nicht überliefert.

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Als Carl Johann Wuppesahl 1901 im Alter von 86 Jahren starb, war er „das Haupt einer Familie, die in der Stadt und weit darüber hinaus höchstes Ansehen erworben hatte.“[178] Er wuchs in Bremen auf, wo sein Vater, zugewandert aus Bruchhausen Vilsen, in der Sögestraße als Angehöriger des Dritten Standes eine Werkstatt als Knopfmacher betrieb. (S.24 und S.56) Seine Anstellung als „Lehr-Bursche“ in der Firma J.G. Nordum im Jahr 1830 war ein so wichtiges Ereignis für die Familie, dass der Lehrvertrag bis heute im Familienarchiv aufbewahrt wird.[179] Nach dreijähriger Lehre fand er Anstellung als „Gehülfe“ beim See-Assekuranz-Makler Heironymus Daniel Wichelhausen, der aus einer angestammten Bremer Familie kam. Der Beruf des Assekuranz-Maklers, der als See-Assekuranz-Makler den Reedern Versicherungen für Schiffe und Ladung vermittelte, war erst Anfang des Jahrhunderts vom Geld- und Wechsel-Makler getrennt worden. (S.42) Der Senat der Stadt kontrollierte nicht nur die Amtsausübung, sondern entschied auch über die Zahl der diesen Beruf Ausübenden und sogar über deren Honorar. (S.40) Wichelhausen war erst der dritte Assekuranz-Makler, der von der Handelskammer regelrecht gewählt und vom Senat ernannt worden war. Nach dessen Tod 1837 wurde Carl Johann von seinem „amtlichen“ Nachfolger Julius Alexander Castendyk übernommen, auch er aus einer angesehenen Bremer Familie. (S.42) Der zielstrebige Carl Johann, der als junger Bursche jahrelang mit dem Kontor Tür an Tür in einem Zimmer der Witwe Finke zur Miete wohnte, war 1840 „vor der Senats-Inspektion der Mäkler“ vereidigt worden.

[178] Gutmann, C. Wuppesahl, a.a.O., S.56. Die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diese Veröffentlichung.
[179] Im Faksimile abgedruckt bei Gutmann, C. Wuppesahl, a.a.O., S.16.

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Er musste mit seiner Selbstständigkeit warten, bis der Senat der Stadt sich dazu entschloss, „die Vermehrung der Zahl der Aßekurancmäkler um Einen“ zu genehmigen. Er war schon 43 Jahre alt, als ihn 1858 die Handelskammer wählte und dem Senat zur Ernennung vorschlug. Dieser bestätigte seine Wahl unter zwei Voraussetzungen: Er hatte eine „Caution bis zum Belaufe von 2000 Reichsthalern“ zu „leisten“ und er musste – drei Jahre vor Einführung der Gewerbefreiheit in Bremen – noch das „Bremische Bürgerrecht mit Handlungsfreiheit“ erwerben.[180] (S.12) Der Eidestext, den er dafür schwören musste, bezeugt, dass die revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 inzwischen in weite Ferne gerückt waren. Vor dem Senat schwor er „vor Gott“ und gelobte, dass er seinen „Beruf als Aßecuranzmäkler stets getreu und gewissenhaft erfüllen will. Insbesondere … alle bestehenden obrigkeitlichen Verordnungen, welche sich auf meinen Geschäftsbereich beziehen …genau befolgen will … (und) jederzeit so handeln, wie es die Pflichten eines rechtschaffenen und gewissenhaften Mannes erheischen… So wahr helfe mir Gott!“ (S.14) Das Geschäft florierte, so dass die Firma 1864 großzügige Kontorräume im Nebengebäude der Börse beziehen konnte. (S.50) Als er 1871 Mitglied der Eiswette wurde, war er ein gemachter Mann. Sein Sohn Henrich August Wuppesahl (1846 – 1918), Teilhaber der Firma seit 1876, war beim Tod des Vaters schon Aufsichtsratsmitglied in verschiedenen Aktiengesellschaften und fünf Jahre lang Mitglied der Bremer Bürgerschaft für die Zweite Klasse. Er übte dieses Mandat bis 1917 aus. Bei seinem Tod würdigten ihn die Bremer Nachrichten am 30. März 1918 „als Seniorchef der weithin bekannten hochangesehenen Assekuranzmaklerfirma gleichen Namens in Bremen.“ Die langjährige Leitung seines „mit Handel und Schifffahrt aufs engste verknüpften Geschäfts“ hätten ihn „zu einer maßgebenden Autorität auf diesen Gebieten gemacht.“ Der Bürgerschaft hätte er „als eins der einflussreichsten Mitglieder“ angehört. Hervorgehoben wurde sein Engagement im Künstlerverein und im Bürgerparkverein. „Während des Krieges hat er bei der Lebensmittelversorgung mitgewirkt und mit voller Hingabe an die vaterländische Sache zu ihrem Siege beizutragen sich bemüht.“[181]

Heinrich Nolze

(*1854 Bremen +1927 Bremen) Präsident der „Lustigen Eiswette“ (bis 1914); Kaufmännischer Schaffer des Hauses Seefahrt; Konsul des Königreichs Württemberg; Mitglied und Präsident der Bürgerschaft; Vorstandsmitglied der Dampfschifffahrtsgesellschaft „Neptun“; Vorsitzender des Bremer Reedervereins; Aufsichtsratsmitglied der Bremer Lagerhausgesellschaft, des Norddeutschen Lloyd und der Atlas-Werke

Heinrich Albrecht Nolze hat seinen Platz in der Geschichte der Eiswette. Es waren Mitglieder der „Lustigen Eiswette“, deren „verdienstvoller Leiter“ er bis 1914 war, die sich

[180] Von 1840 bis 1865 erwerben weniger als tausend Personen das Bürgerrecht mit Handlungsfreiheit. Von 1855 bis 1859 gab es noch 180 Anträge Vgl. Peter Marschalk, Der Erwerb des bremischen Bürgerrechts und die Zuwanderung nach Bremen um die Mitte des 19. Jahrhunderts. In. Bremisches Jahrbuch 66 (1988), S. 295 – 305. Hier S.298 und S.301.
[181] Außer Henrich – der nicht Mitglied der Eiswette war – wurde auch Enkel Carl August (1873-1954) Mitglied der Bürgerschaft (1927-1933). Auch er war in verschiedenen Aufsichtsräten tätig. Beide traten als großzügige Spender auf, der eine für die innere Rathausgestaltung (Henrich), der andere für die Kunsthalle. Carl August war Vorstandsmitglied des Bürgerparkvereins und des Schulschiff- Vereins, war aktiv im Verein der Freunde des Focke-Museums und in der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Wie sein Großvater wurde er Eiswettgenosse (1924) und kaufmännischer Schaffer (1921), wie auch dessen Sohn (Urenkel) Henrich (1935, bzw. 1938). (Die Generalversammlungen des Hauses Seefahrt mit der Schafferwahl fanden auch statt, wenn die Schaffermahlzeit ausfiel.) In der fünften Firmen-Generation stehen Carl Max Vater und Georg Abegg, Söhne von Töchtern des Carl August. Beide waren bis in die 90er Jahre persönlich haftende Gesellschafter der C. Wuppesahl Kommanditgesellschaft. Sie sind Eiswettgenossen (seit 1963, bzw. 1974). 1949 übernahmen die Wuppesahls als Schriftführer die Protokollführung der Eiswetten, zunächst Carl August, ab 1952 Sohn Henrich und von 1975 bis 2012 Georg Abegg. (Sein Nachfolger ist der Rechtsanwalt und Notar Dr. Jan-Martin-Zimmermann.)

nach dem Ersten Weltkrieg mit denen der ursprünglichen zusammentaten, um eine Wiederaufnahme der Eiswette-Feiern zu beraten und zu beschließen. Nolze konnte an den Vorbereitungen nicht teilnehmen, weil eine schwere Krankheit ihn daran hinderte, der er 1927 erlag.[182]

Heinrich Nolze, dessen Vater noch Schlossermeister in Bremen war,[183] machte eine vierjährige kaufmännische Lehre beim Bremer Tabak-Export-Geschäft J.H. und E. Niemann, wurde 1874 „Gehülfe“ im Reedereikontor der Dampfschifffahrtsgesellschaft „Neptun“, 1882 Prokurist und 1885 Vorstandsmitglied. Von 1894 bis 1911 war er als Vertreter der Zweiten Klasse Mitglied der Bürgerschaft. Seit 1905 bis zum Ende des Kaiserreichs amtierte er als Königlich Württembergischer Konsul. Mit Nolze, schrieben die Bremer Nachrichten anlässlich seines Todes, „ist einer der bekanntesten und bedeutendsten Männer aus der bremischen Schifffahrtsgeschichte der letzten Jahrzehnte dahingeschieden, der sich in Bremen selbst wie in auswärtigen Handels- und Schifffahrtskreisen einen hochgeachteten Namen erworben hat.“ Anlässlich seiner Wahl zum (ehrenamtlichen) Präsidenten der Bremer Bürgerschaft im Jahr 1908, versprach er, „dass er die Verhandlungen streng gerecht und unparteiisch führen würde.“ “ Das sei notwendig, schrieben die Bremer Nachrichten, denn der Präsident muss „über den Parteien und Klassen stehen können.“[184]

Carl Johann Wuppesahls Sohn Henrich August (1846 – 1918) war dagegen schon mehrere Jahre Prokurist in der väterlichen Firma, als er mit 33 Jahren Teilhaber des Unternehmens wurde. Rudolf Feuß, der später die Festschrift zum hundertjährigen Eiswette- Jubiläum verfasste, nannte Henrich, der nun schon in der zweiten Generation anerkannter Kaufmann war, „einen der markantesten Vertreter der bremischen Kaufmannschaft …in seinem ganzen Wesen und Streben“, konnte sich aber der feinen Einschränkung nicht enthalten: „obgleich nicht Kaufmann im eigentlichen Sinne des Wortes, da er vielmehr ein sogenanntes „Handelshilfsgeschäft“ leitete.[185] Carl Johann hatte seine berufliche Laufbahn noch bei den kaufmännischen „Hausvätern“ begonnen, den zwischen 1750 und 1770 Geborenen, die „vom Geist der Unterscheidung nach Herkunft, Ehre und Stand beseelt“ waren.“[186] Nolze machte vierzig Jahre später zu einer Zeit Karriere, da in Bremen „der materielle Erfolg zum ausschlaggebenden Kriterium der Elitenrekrutierung“ geworden war.[187]

Wuppesahl war ihr Nestor in der Kaiserzeit. Er war noch 25 Jahre als Handlungsgehilfe tätig, bevor er 1858 die Gründung seiner eigenen Firma in die Wege leiten konnte. Seine Familiengeschichte mündete schließlich in einer Art Eiswette-Saga, die sich bis heute in die fünfte Generation erstreckt. Seine kaufmännische Laufbahn spielte sich ab „auf der Zeitenscheibe zwischen Segel- und Dampfschiff, zwischen der zu Ende gehenden Epoche des Reedereikaufmanns und der beginnenden Epoche der großen Schifffahrtsgesellschaften.“ [188] Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Aufstieg von Heinrich Nolze, dem Präsidenten der „Lustigen Eiswette“ war dagegen rasant. Er wurde schon nach acht Jahren Gehilfen-Tätigkeit Prokurist und mit 31 Jahren Vorstandsmitglied der „Neptun“ Dampfschifffahrtsgesellschaft. Es war der beispiellose Boom der deutschen Schifffahrt nach der Reichsgründung, der seiner Laufbahn einen mächtigen Schub verliehen hatte.

[182] Die Angaben in diesem Abschnitt sind entnommen Löbe, a.a.O., S.114.
[183] Diese Zeilen stützen sich auf zwei Artikel in den Bremer Nachrichten vom 5. März 1908 und vom 27.9.1927, sowie auf den Artikel über ihn in der Bremischen Biographie von 1962, a.a.O.
[184] Bremer Nachrichten, 27.9.1927. Er amtierte bis 1911.
[185] Rudolph Feuß, Wuppesahl, Henrich August, a.a.O.
[186] Schulz, a.a.O., S.701.
[187] Vgl. Schulz, a.a.O., S.704.
[188] Hermann Apelt in einem Nachruf für den Enkel Carl A. Wuppesahl im Jahr 1954: „Bremen trauert um Carl Wuppesahl“. Bremer Nachrichten 2.12.1954. Apelt war Bremer Hafensenator im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und nach dem 2. Weltkrieg.

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Die Entwicklungslinien der beiden so unterschiedlichen Kaufmannskarrieren trafen sich an ihrer höchsten Stelle im Jahr 1895, als der achtzigjährige Wuppesahl gemeinsam mit dem vierzig Jahre jüngeren Nolze das Schaffermahl des Hauses Seefahrt ausrichtete.[189] In den Lebensläufen dieser beiden Eiswettgenossen zeigte sich ein „Typus von bürgerlicher Persönlichkeit und Erscheinung“, den man „hanseatisch“ genannt hat: zuverlässig, ehrlich und weltoffen.[190]

Hermann Vietsch

(*1845 Bremen +1914 Bremen) Letzter Präsident der Eiswette vor dem 1. Weltkrieg (1899 – 1913); Mitglied der Eiswette seit 1883; Versicherungsagent; Konsul des Großherzogtums Mecklenburg- Schwerin; von 1886 bis 1902 Mitglied der Bremischen Bürgerschaft; Rechnungsführer des St. Katharinen-Stifts

Am 11. Januar 1914 starb Präsident Friedrich Hermann Vietsch. Aus Pietät verzichtete die Eiswettgenossenschaft auf die Ausrichtung der Feier, die am 17. Januar stattgefunden hätte.[191] Biologischer Zufall und historische Pointe: Das Ende seiner Präsidentschaft markierte auch das Ende der längsten Eiswett-Epoche.

Vietschs Bewerbung um das „Patent als Großherzoglich Mecklenburg-Schwerinscher Consul“ im Jahr 1883 verdanken wir einen Blick auf seinen beruflichen Werdegang.[192] Als junger Mann war er nach „Übersee“ gegangen, wo er langjährig beruflich tätig war, sodass er, nach seinen Angaben, die englische, französische und spanische Schriftsprache beherrschte. Er sammelte dort nicht nur kaufmännische Erfahrungen, sondern arbeitete auch längere Zeit beim deutschen Konsul in Mexiko.[193] 1874 kehrte er nach Bremen zurück und machte sich selbstständig als Vertreter von Lloyd’s in London und „General-Bevollmächtigter mehrerer großer englischer Assecuranz-Compagnien und General-Agent der Herren Heidsieck & Co. in Reims.“[194] Im gleichen Jahr leistete er den Bremer „Staatsbürgereid“.[195] Das Exequatur [196] erteilte ihm 1883 Bürgermeister Otto Gildemeister als Vorsitzer der „Senatskommission für Kriegs- und Auswärtige Angelegenheiten“. [197] Im gleichen Jahr war er Mitglied der Eiswette geworden. Beides war ein Stück Weges in die Elite der bremischen Gesellschaft. 1886 wurde er als Vertreter der Zweiten Klasse Mitglied der Bremer Bürgerschaft und war dort in mehreren Deputationen bis 1902 aktiv (u.a. in der Militärdeputation). 1899 wurde er Präsident der Eiswette und war später Mitglied im Kaufmannskonvent. Viele Jahre übte er eine ehrenamtliche Tätigkeit als Rechnungsführer des St. Katharinen-Stiftes aus.[198] 1910 schied er, offensichtlich kinderlos, aus seiner Firma „Vietsch junr.“ aus und übergab sie den Kaufleuten Friedrich Drewes und Eduard Focke.[199]

[189] Die anderen Schaffer waren W. Dannemann, J. Seekamp, J.Kuhlmann und H. Hellmers. Auskunft des Archivs von Haus Seefahrt.
[190] Elmshäuser, a.a.O., S. 88.
[191] Das war der dritte Sonnabend im Januar. Von 1829 bis 1904 hatten die Feiern – mit ganz wenigen Ausnahmen – an einem Montag im Januar stattgefunden, meistens am zweiten oder dritten. Erst danach an Sonnabenden. So war es auch1913 gehalten worden. Vgl. Vietsch Festschrift, a.a.O., Datenüberblick auf der letzten Seite.
[192] Seine biographischen Daten entnehmen wir vor allem dem Aufsatz von Mathias Manke, Das Konsulat des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin in Bremen (1835 – 1914). In: Bremische Jahrbuch 82 (2003), S.119 – 164. Vgl. die Akte Vietsch im Handelsregister. StAB 4,75/5-684.
[193] Er gab an, dass er im mexikanischen Konsulat gearbeitet hatte, als dies noch preußisch war. Demnach muss er zu Beginn seines überseeischen Aufenthaltes Anfang bis Mitte zwanzig gewesen sein. Vgl. Mathias Manke, a.a.O., S.154.
[194] Eintrag ins Handelsregister am 2. Januar 1875. StAB 4,75/5-684. Akte Vietsch. Er war auch als „Havarie-Commissar für russische Unternehmen in St. Petersburg tätig. Vgl. Löbe, a.a.O., S.113. 195 Vgl. StAB 2-Dd.-11.c.2.M.1. Mecklenburg-Schwerin. Konsulatsakte Vietsch. Handschriftliche Notiz am Rande. Der Bürgereid war bis 1904 Pflicht. Danach war er zur Erlangung des aktiven und passiven Wahlrechts zur Bürgerschaft erforderlich. Vgl. Peter Marschalk, a.a.O., S.305.
[196] Das Exequatur: Erlaubnis des Empfangsstaates zur Ausübung der konsularischen Funktionen.
[197] StAB 2-Dd.11.c.2.M.1. Akte Mecklenburg-Schwerin 1774;1835-1883.
[198] Vgl. Mathias Manke, a.a.O., S.155.
[199] Er erhielt eine „Entschädigung“ von 7000.- RM. „In Anerkennung seiner Verdienste um die Firma“ gewährten ihm die beiden Gesellschafter jeder eine monatliche Rente von 275 Mark. Dies wurde in einem Vertrag festgelegt. Vertrag vom 24. April 1910. StAB 4,75/5-684. Handelsregister Akte Vietsch. Die Firma Drewes und Focke wurde am 26.Januar 1944 mit einer Liquidationsmasse von rund 2300.- RM aufgelöst. „Dazu kommt … ein Sitz in der Baumwollterminbörse, der einen praktischen Realisierungswert hat. Man wird ihn im Höchstfall vielleicht mit 500.- RM annehmen können.“ Schreiben des Rechtsanwalts E. Noltenius jr. An das Amtsgericht vom 8. Nov. 1943. Ebda.

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Bild 16 „Großherzogtum Mecklenburg-S Consulat Bremen“ – Wappenschild an der Agentur von Hermann Vietsch – Schüsselkorb.

Vietsch war nie in einer schicken Konsulatsuniform durch die Stadt stolziert. In seinem Nachlass fanden sich lediglich Petschaft [200], Stempel, Konsulatsinstruktion und ein nicht zu übersehendes Wappenschild (97 mal 76 cm) mit der Aufschrift: „Großherzogtum Mecklenburg-S Consulat Bremen“, das an seiner Agentur im Schüsselkorb angebracht war. Das Konsulat kam nicht nur seiner Reputation zugute, sondern hatte auch den großen Vorteil, dass damit so gut wie keine Pflichten verbunden waren. In Schwerin war man 1910 darauf gestoßen, dass Vietsch in den vergangenen 27 Jahren nur einen einzigen Bericht über seine Amtsausübung erstellt hatte, der in der Konsularinstruktion für jedes Jahr vorgeschrieben war.[201] Der schriftlichen Beschwerde begegnete er mit dem Einwand, dass es keine nennenswerten konsularischen Vorgänge gegeben hätte, was sicher der Wahrheit entsprach. In den Unterlagen fanden sich lediglich seine zahlreichen Urlaubsgesuche für Kur- und Badeaufenthalte von bis zu acht Wochen. Zwei Monate nach seinem Tod im Januar 1914 wurde das Bremer Konsulat für das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin „eingezogen“, obwohl schon fünf Bewerbungen auf dem Tisch lagen.[202] Das Operettenkonsulat des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin war kein

[200] Das Petschaft: Stempel aus hartem Material, der geeignet ist, ein Siegel in den Siegellack einzudrücken.
[201] Wie wenig Bedeutung man im Schweriner Außenministerium den Konsulaten beimaß, ja wie nachlässig man mit ihnen umging, geht daraus hervor, dass das Ableben eines Konsuls längere Zeit unbemerkt bleiben konnte, „wie es sich z.B. 1884 beim Memeler Konsulat ereignet hat.“ Mathias Manke, a.a.O., S.158.
[202] Mecklenburg-Schwerin hatte 1868 noch 138 (!) Konsulate, reduzierte diese Zahl im Laufe des nächsten Jahrzehnts aber drastisch, schon deswegen, weil das Großherzogtum „seit der Reichsgründung beständig am Rande eines Staatsbankrotts stand.“ Mathias Manke, a.a.O., S.159. Im Bundesrat hatte Mecklenburg mit dem Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz sogar zwei Vertretungen. 1919 war Mecklenburg das einzige Land, das ohne Umweg über eine Verfassung direkt vom Feudalismus in die Republik sprang.

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Ruhmesblatt in der kaufmännischen Vita des Hermann Vietsch, wie auch nicht die Annahme eines Ordens, den er 1901 aus Anlass der Regierungsübernahme durch Großherzog Friedrich Franz IV erhalten hatte. (Das „Ritterkreuz des mecklenburgischen Greifenordens“).[203] Die hohe Ehre eines Schaffers, bzw. Mitglieds oder Vorstehers des Hauses Seefahrt wurde ihm nicht zuteil.

Christoffer Wessel Debbe

(*1837 Bremen, + 1912 Bremen) Lehrer; Gründer der Realschule C.W.Debbe; 27 Jahre Mitglied der Bremer Bürgerschaft; Eiswettgenosse seit 1872

Debbes Vater war noch „Arbeitsmann“. Er selbst wurde vor 1858 Seminarist im ersten bremischen Lehrerseminar. Aus einer privaten Schule hatte er eine vollständige Realschule entwickelt und dazu beigetragen, das Bremer Schulsystem „zum liberalen Gegenmodell … der preußischen „Regulativ-Pädagogik“ zu machen, „dem Symbol der reaktionären Politik“. Anerkannt in der allgemeinen Öffentlichkeit, gehörte er 27 Jahre der Bürgerschaft an und entfaltete eine rege „gemeinnützige“ Tätigkeit als Mitbegründer des „Naturwissenschaftlichen Vereins“ und Präsident der „Allgemeinen Deutschen Lehrerversammlung“.[204] Seine Aufnahme in die Eiswettgenossenschaft 1872 [205] war Ausdruck „eines Wandels im gesellschaftlichen Gefüge der Stadt.“[206] „Die wissenschaftlich gebildeten Schullehrer (stiegen) zu einer geachteten Profession in der Stadt auf.“ „Ihr gewachsenes Sozialprestige öffnete ihnen die bis dahin fest verriegelten Türen zu den Vereinen der gesellschaftlichen Führungsschicht.“ Juristen waren sowieso von Anfang an dabei. Sie waren ja Teil der Verfassung, die eine bestimmte Anzahl von ihnen als Senatoren vorschrieb. Auch Professoren gehörten dazu. Nun waren es auch Angehörige anderer freier Berufe. 1904 wurde zum ersten Mal ein Ing(enieur) als Eiswettgenosse genannt, Symbol für ein neues Zeitalter. Es wird ein Ingenieur sein, der die Eiswette zur Hundertjahrfeier in ganz neue Dimensionen führen wird.

Eiswette und Schaffermahlzeit

Anders als das Schaffermahl kommt die Eiswette in der lokalen Berichterstattung bis 1928 nicht vor. Sogar in der Biographie des Senators Heinrich Bömers findet sie keine Erwähnung, obwohl der seit 1898 Mitglied war, während die Schaffermahlzeiten von ihm mit großer Wertschätzung beurteilt wurden. Sie waren für ihn „die interessantesten und fröhlichsten Veranstaltungen, die er nie versäumte.“[207] Darin kommt ein „Prestige- Gefälle“ zum Ausdruck, das vor allem an der fehlenden Gemeinnützigkeit der Eiswette lag. Die Stiftung „Haus Seefahrt“ hatte außerdem seit 1663 einen „festen Wohnsitz“ – bis 1875 in der Hutfilterstraße und ab 1876 in der Lützower Straße.[208] Die Mahlzeiten auf den Generalversammlungen dienten schon lange dem Zweck, Geldspenden zur Unterstützung von alten Seeleuten, deren Frauen und Witwen einzubringen, während die Eiswette als private Veranstaltung nur zur Erbauung ihrer Teilnehmer diente.

[203] Die Annahme von Orden durch Landesfürsten war zwar nicht mehr verboten, galt aber in Bremen immer noch „als ein moralisches Sakrileg.“ Schulz, a.a.O., S.28.
[204] Vgl. Bremische Biographie, a.a.O., Stichwort Debbe. .a.O.
[205] Vgl. Vietsch-Festschrift, Liste der Eiswettgenossen, S.17.
[206] Schulz, a.a.O., S. 632. Die folgenden Zitate sind entnommen aus Schulz, a.a.O., S.604.
[207] Georg Bessell, a.a.O., S.32.
[208] Der ursprüngliche Sitz hatte im Zuge des Straßenbaus der heutigen Bürgermeister-Smidt-Straße weichen müssen. Das Haus in der Lützower Straße, das in Hafennähe lag, wurde 1944 bei einem Bombenangriff zerstört. Seit 1952 wird die Schaffermahlzeit in der Oberen Rathaushalle veranstaltet, obwohl die Stiftung wieder ein eigenes Quartier in Bremen-Grohn hat – den Seefahrtshof – auf dessen Gelände acht Wohnhäuser stehen. Vgl. Wikipedia, Stichwort „Haus Seefahrt“ vom 31.10.2016.

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Ein Blick in die Gästeliste der Schaffermahlzeit von 1897 zeigt das unterschiedliche Gewicht, das die beiden Veranstaltungen im gesellschaftlichen Leben der Stadt hatten. 1897 waren geladen (Auszug):[209]

Das Ehrenmitglied Oberbaudirektor Franzius, der Reichsbevollmächtigte für Zölle und Steuern Geheimer Oberfinanzrat Müller, der Generaladjutant des Kaisers Graf von Waldersee, der Preußische Gesandte bei den Hansestädten Graf von Wallnitz, der Chef der Marinestation Nordsee Vizeadmiral Karcher, der Kommandierende Admiral der Marine von Knorr und andere hohe Offiziere, die Konsuln von Frankreich, Russland und der USA, hohe Beamte aus dem Finanz- Post- und Bauwesen, die Staatssekretäre des Inneren von Boetticher und des Reichsschatzamtes von Posadowsky-Wehner, eine Reihe preußischer Minister, der Direktor der Kolonialabteilung Freiherr von Richthofen, der Schriftleiter der „Weser-Zeitung“ (ohne Namen), der Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts Dr. Sieveking, das Mitglied des Reichstags Prinz von Schönaich-Carolath, der Österreichisch-Ungarische Botschafter von Magyar-Szöghen, der Präsident des Reichsbankdirektoriums Dr. Koch, der Direktor der Hamburg- Amerika-Linie Meyer, der Inhaber der Schichau-Werft, Danzig (ohne Namen), der Maler Fritz Mackensen-Worpswede (!), der Verleger Bertelsmann- Bielefeld, der Generaldirektor der Gute-Hoffnungs-Hütte Oberhausen, der Erbgroßherzog von Oldenburg mit Kammerherr, Ordonanzoffizier und Oberschenk und andere. 245 der Eingeladenen nahmen schließlich teil.

Zunächst fällt natürlich die unterschiedliche Zahl der Teilnehmer ins Auge: Das Schaffermahl besuchten etwa 300 Männer, da zu den 245 Gästen noch die einladenden Mitglieder des Hauses Seefahrt kamen. Auf der Eiswette waren es im gleichen Jahr 56. Noch aufschlussreicher ist der Unterschied in der gesellschaftlichen Stellung und geographischen Verteilung der Gäste. Die Einladung von Spitzenvertretern der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Elite des ganzen Deutschen Reichs, unter ihnen der höchste Beamte des Kolonialamtes und zwei ranghohe Angehörige der Admiralität zeugen vom Willen, die Übereinstimmung mit der kaiserlichen Politik zum Ausdruck zu bringen. Die Zusammenkünfte der Eiswettgenossen hingegen fanden von Beginn an im Windschatten der großen Bremer Politik statt. Man hatte auf den Feiern Besseres zu tun, als seine Zeit mit politischen Vorträgen zu verbringen, die sich dem Kolonialfieber oder der Flotten-Euphorie hingaben.

Den zahlreichen Titeln und hohen Ämtern auf der Schaffermahlzeit standen so gut wie keine auf der Eiswette gegenüber. 48 Genossen benennt Vietsch im Rückblick von 1904: Genossen, die als Präsidenten, Redner oder Amateur-Künstler eine Rolle gespielt hatten. Unter ihnen sind zwei Doktoren (ein Arzt, ein Jurist) und zwei Konsuln. „Herr“ stellt Vietsch den Namen oft voran, den „citoyen“ sozusagen.[210]

[209] In der Sammlung des Bremer Chronisten Fritz Peters zur Schaffermahlzeit findet sich ein Zeitungsbericht der Bremer Nachrichten vom 26. Juli 1943 über die Schaffermahlzeit am 12. Februar 1897. Ein „Dr.K.“ schreibt einleitend: „Vor uns liegt eine vergilbte Akte, durch Zufall bei einem Bremer Althändler entdeckt, durch Ankauf von einem Bremer Kaufmann für die interessierte Nachwelt gerettet, mit der Aufschrift „Die Schaffermahlzeit am 12. Februar 1897“. Sie enthält, handgeschrieben, im Original alles, was zur Vorbereitung, Durchführung und Abwicklung der Schaffermahlzeit geschah, von der Teilnehmerliste bis zur Schlussrechnung, von den Antwortschreiben der geladenen Gäste bis zum Pressebericht und von den Sitzungsniederschriften bis zum Festliedersonderdruck.“ StAB 7,60/2 – 15 c I.
[210] Die Liste von 1904 sieht dann schon etwas anders aus. Außer fünf Konsuln und fünf Doktoren gibt es nun den (Unternehmens-) „Direktor“, der mit sechs Nennungen am häufigsten vertreten ist. Neben einem Geheimrat und einem Professor tritt hier zum ersten Mal ein Ingenieur als Genosse auf. Vgl. Feuß-Festschrift, a.a.O., S.17. 

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Es gab in Bremen nur drei Titel, die „anerkannt und auch im privaten Verkehr gebraucht wurden: Herr Doktor, Herr Konsul und Herr Senator. Der letzte natürlich war der höchste.“[211] Der Konsul konnte durchaus ein wichtiges Amt sein, wenn er dazu diente, die Handelsbeziehungen zu dem vertretenen Land zu fördern. 1810 hatte Bürgermeister Christian Abraham Heineken missbilligend auf „die reich gestickten Konsulatsuniformen, die großen Wappenschilder über ihren Haustüren, das sich gebende diplomatische Ansehen, die diplomatischen Diners“[212] der Bremer Kaufleute geschaut, aber nicht, weil er etwas gegen die Tätigkeit als solche gehabt hätte, sondern weil sie eine Nähe zu Monarchie und Adel verriet, die im Gegensatz zur freistaatlichen Verfassungstheorie stand, nach der es keine Rangunterschiede zwischen den Staatsbürgern geben sollte.[213] Konsul war der einzige „echte“ Titel, den ein erfolgreicher Bürger erwerben konnte. Dieses Amt auszuüben, war inzwischen der „Wunsch jedes angesehenen Kaufmanns in Bremen,“ schreibt Herbert Schwarzwälder in seiner Geschichte der Stadt.[214] Aber was waren die Konsulate von Sachsen (Bömers), Württemberg (Nolze) und Mecklenburg-Schwerin (Vietsch) im Vergleich zu denen von Frankreich, Russland oder den USA, wie sie auf der Schaffermahlzeit vertreten waren?

Zusammenfassung von Kapitel I

Die Entstehung der Eiswette ist nicht zu trennen von der Entwicklung des bürgerlichen Clublebens in Bremen, ja man könnte sie mit einiger Berechtigung als ihren Ableger betrachten. Elf Jahre lang hatte sich die kleine Runde junger Kaufleute und anderer angesehener Bürger zum Kartenspiel und zum Kegeln getroffen, bevor sie 1828, auf 18 Personen angewachsen, die Wette um die Vereisung der Weser als letzte einer Reihe abschloss und schließlich institutionalisierte.

Die Mitgliedschaft in den Clubs der Stadt, in denen die jungen Herren seit 1817 verkehrten, war entscheidend für den Aufstieg in der bürgerlichen Gesellschaft, denn dort traf sich die gesellschaftliche Elite. In der Loge „Zum Ölzweig“ (die noch heute in Bremen besteht) hatten sie sich zum ersten Mal verabredet, trafen sich in der „Union von 1801“ und auch im „Museum“ zum Kartenspiel. Im Mittelpunkt stand L’hombre, das Kartenspiel der vornehmen europäischen Gesellschaft. Die erste Wette, eine Sitte, die ihren Weg aus den englischen Clubs über den Kanal gefunden hatte, schloss man in einer Stimmung des Übermuts schon im Winter 1819/20 während eines Balles in der „Erholung“ ab, dem angesehensten Club der Stadt. Ihr folgten weitere, die jeweils Anlass zu gemeinsamen Festschmäusen boten. Der Spaß fand im Sommer seine Fortsetzung beim Kegeln vor den Toren der Stadt. Dort, bei Schürmann in Horn, kam es dann während einer Kegelpartie im November 1828 zur berühmten Eiswette. Jedes Jahr wurde der Wetteinsatz nun mit einem Kohl- und Pinkelessen im Januar „verzehrt“. Auch die Pudelessen – der „Verzehr“ der Kegelspiel-Einnahmen – fanden im jährlichen Rhythmus statt. Wir können davon ausgehen, dass die Herren regelmäßige Clubgäste waren. Als man 1850 beim Kegeln auf der letzten Eiswette bei Schürmann im Kreis von 19 Personen beschloss, die jährliche Feier in die Räume der „Union“ zu verlegen, wurde das im Protokoll nur beiläufig vermerkt. Die Eiswette war selbst Teil des Clublebens geworden. Die Protokolle der Veranstaltungen zeichnen das Bild einer unbeschwerten Spaß- und Spielgesellschaft.

[211] Georg Bessell, a.a.O., S.9.
[212] Zitiert bei Andreas Schulz, a.a.O., S.28/29.
[213] Vgl. Schulz, a.a.O., S.28/29.
[214] Herbert Schwarzwälder, Bd. II, a.a.O., S.94.

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Außerhalb der Stadt fand man sich noch lange zum Kegeln zusammen, bis die wachsende Zahl der Neuzugänge es allmählich aus den Protokollen verschwinden ließ. Umso intensiver wurde bis 1913 das Kartenspiel gepflegt. Der Umzug in die Räume der „Union“ 1851 führte zu einer steigenden Teilnehmerzahl, zunächst nur im bescheidenen Rahmen, bis man dazu überging, Gäste einzuladen. Die „Satzung“ von 1873 begrenzte dann die Mitgliederzahl auf 60.

Die herausragende Gestalt der Eiswette in der Kaiserzeit war Johann Carl Wuppesahl, den die Genossen selbst als ihren Nestor bezeichneten, der „klassische“ Typus des hanseatischen Kaufmanns. Die Eiswette hatte keine hohen Titelträger in ihren Reihen wie das Schaffermahl, aber sie stellte der steifen Feierlichkeit dort ihre heitere Unbeschwertheit entgegen, ein Element, zu dem die sozialen „Aufsteiger“ nicht erheblich beigetragen haben mögen. Auch „kleine Meister und Gewerbetreibende“ wurden aufgenommen, bescheidene Kaufleute wie Hermann Runge, der einen Tuch-, Groß- und Einzelhandel Am Markt hatte, Ärzte wie Christian E. Krummacher, der eine Praxis in der Knochenhauer Straße betrieb, „Dienstleister“ wie der Architekt Alexander Müller oder der Lehrer Christopher Wessel Debbe. Sie gestalteten als Redner oder Präsidenten die Feiern mit. Zwei Lehrer – Rudolph Feuß und Otto Heins – werden nach dem Ersten Weltkrieg sogar zu tragenden Kräften auf den Eiswettfeiern.[215] Man wurde nicht Eiswettgenosse, weil man Karriere machen wollte, sondern weil man schon wirtschaftlichen Erfolg hatte. Der wurde, besonders seit der Reichsgründung, zum entscheidenden Kriterium für die Aufnahme in die führenden gesellschaftlichen Kreise und damit auch in die Genossenschaft der Eiswette.

Burschenschaftliche Elemente, wie die „Mitgliedschaft“ auf Lebenszeit, die Unterscheidung von Novizen und alten Herren, das ausgiebige Trinken mit markigen Sprüchen oder die Damenreden, Bräuche, die sich allmählich ritualisierten, mündeten nicht in eine hierarchisch organisierte Gesellschaft. Sie waren wohl eher dem bürgerlichen Zeitgeist geschuldet. Man feierte unbeschwert von politischen Turbulenzen, aber auch ohne Überschwang bei den großen Ereignissen. Die Treue zum Kaiser stand außer Frage, man huldigte ihm wie im übrigen Deutschland. Aber die Protokolle der Jahre nach 1871 lassen keine nationale Euphorie erkennen. Die Eiswette war eine Bühne, auf der sich der männliche Teil der guten Bremer Gesellschaft nach Herzenslust selbst darstellte und feierte. Der Eiswettgenosse wusste, was er seinem Stand und seiner Stadt schuldig war. Der zweiundachtzigjährige Johann Carl Wuppesahl rief den Neumitgliedern („Aspiranten“) auf der Feier von 1897 gewissermaßen als Credo der Genossenschaft zu: „Strenge, Disciplin, Subordination, Freiheit und Lustigkeit – Hurrah!“[216]

Es ging nie um „gepflegte“ Unterhaltung, sondern immer um das Gaudi. Viele Mitglieder, schrieb Eiswette-Chronist Löbe, hätten spontan „ihren Teil dazu beigetragen.“ In den Protokollen hätte er so manches Beispiel „liebenswerter unfreiwilliger Komik“[217] gefunden, das in der vertrauten Männerrunde sicher zu noch größerer Heiterkeit beigetragen haben dürfte. Höhe- und Endpunkt der Feier war jedes Mal das ausgiebige Kartenspiel. Spätestens in diesen Stunden dürfte den geistigen Getränken reichlich zugesprochen worden sein. Längst war man von Kohl und Pinkel, wie er in der Wette vorgesehen war, zu opulenten Schlemmereien übergegangen. Undenkbar, dass ein Senator oder gar der Bürgermeister sich unter die Feiernden gemischt hätte. Dafür ging ihr zu sehr der Ruf einer Männergesellschaft voraus, auf der es hoch herging. Mit ihrer Stadtverbundenheit, den plattdeutschen Reden und Sprüchen und vor allem mit ihrer Art von Humor und Spott, der vor der eigenen Person nicht Halt machte, war die Eiswette ein Bremer Geschöpf.

[215] Es dauerte noch hundert Jahre, bis das Präsidium auf Anregung von Präsident Karl Löbe formell beschloss, nicht nur „erste Leute ihres Gebietes“ aufzunehmen, sondern „auch einmal einen Angestellten, wenn er treu zur Sache stehe und ein guter Bremer sei.“ Löbe, a.a.O., S. 132.
[216] Löbe, a.a.O., S. 142.
[217] Löbe, a.a.O., S.90.

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Als sie 1913 unfreiwillig zum letzten Mal im Kaiserreich stattfand, gehörte sie „fest … in das gesellschaftliche Leben der Stadt.“[218] Hermann Vietsch, der letzte und langjährige Präsident (1897 – 1913), schrieb in der Festschrift von 1904, die Genossen könnten auf 75 Jahre „in harmloser Fröhlichkeit verlebter Feste zurückblicken.“[219] Bis 1913 war die Eiswette eine durch und durch zivile, allem Militärischen abholde, sehr private und vergnügliche Männergesellschaft.

Was die Eiswettgenossen über alle Jahre nicht wirklich bekümmerte, war, „ob de Werser nu geiht oder steiht“. In diesem Sinne machte Präsident C.E. Krummacher in den sechziger Jahren den Eintrag ins Protokollbuch: „Wir Eiswettgenossen feiern alljährlich in Gemütlichkeit den Winter, unbekümmert darum, ob’s draußen friert oder taut; Frost- und Tauwetter verschmelzen hier zu einer angenehmen Temperatur.“[220] Das Weser-Eis war von Anfang an nur eine Frage des Wetteinsatzes.

[218] Löbe, a.a.O., S.114.
[219] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S. 3.
[220] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S. 5.