Inhaltsverzeichnis
- Trauma Räterepublik
- Die Feiern von 1924 bis 1928
- Der Eiswette-Mythos entsteht (1929) und lebt
- Drei Legenden – ein Autor
- Die Hundertjahrfeier in der „Glocke“ 1929
- Hans Wagenführ. Präsident der Eiswette von 1928 bis 1932
- Exkurs: Die Bremer Gästebücher des Hans Wagenführ
- 1. Band von März 1914 bis Dezember 1919
- 1914 Kriegsbeginn / In Russisch Polen bei Bruder Felix / Erste Hilfsaktion
- 1915 Zweites Kriegsjahr / Eisernes Kreuz für Bruder Felix / Deutscher Einmarsch in Belgien / Kriegseuphorie
- 1916 Drittes Kriegsjahr / Geschützführer-Zeugnis 1. Klasse / Der „Killer“ von Lord Kitchener / Feier in der Wallbar zur Indienststellung von U 51 – AG „Weser“
- 1917 Viertes Kriegsjahr / Erste Geburtstagsfeier im Ratskeller / Unterseebootsflottille Flandern / Der Droschkenraub
- 1918 6. November: Der traurigste Tag eines U-Boot- und Soldatenlebens / Novemberrevolution
- 1919 Ehemalige Kriegsgefangene als Gäste
- 2.Band von Januar 1920 bis Oktober 1932
- 1920 Spende für Kapp-Putsch-Offiziere / Der letzte U-Boot-Kommandant kehrt aus englischer Kriegsgefangenschaft zurück / Krankenhausaufenthalt
- 1921 25jähriges Dienstjubiläum / Eisernes Kreuz / Entlassung aus der Klinik
- 1922 Große Feier im Ratskeller zum 51. Geburtstag
- 1923 Ruhrkampf / Inflation
- 1924 Felix Graf Luckner wird „Wall-Barbar“ / Ehrenurkunde der Unterseebootskameradschaft / Das Ubootslied
- 1925 Besuch des Kronprinzen Wilhelm von Preußen in Bremen / Empfang im „Kaiserlichen Yachtclub“
- 1926 Keine Feiern in der Wallbar / Besuch von Graf Luckner und Frau
- 1927 Besuch des „Kaiserlichen Yachtclubs“ in der Wallbar / Gerüchte über Zahlungsschwierigkeiten von Emil Fritz („Astoria“)
- 1928 Telegramm Wilhelms II. aus dem Exil in Holland an den „Kaiserlichen Yachtclub Bremen“
- 1929 Seltenes Foto: im Familienkreis
- 1930 „Der Rattenfänger von Bremen“ / Glückwunschtelegramm von Senator Heinrich Bömers
- 1931 Große Feier mit 300 Gästen zum 60. Geburtstag im Ratskeller
- 1932 Letztes Foto / Untergang der „Niobe“ / Der letzte Gast
- Die Gästebücher als Zeitdokument
- „Wall-Bar“ und Ratskeller
- Wer war Hans Wagenführ? / Die Familie
- Früher Tod
- Das Gästebuch des „U-Boots-Tischs“ von 1996 bis 2015
- Die Eiswette von 1929 bis 1933. Reichswehr, Freikorps und Stahlhelm
- Exkurs: „Staats-Streich“: Eiswettgenossen enthüllen vorzeitig das Deutsche Kolonialdenkmal (1932)
- Der Bremer Kaufmann einst und jetzt –Eine öffentliche Kontroverse im Januar 1932
- Heinrich Bömers
- Zusammenfassung von Kapitel II
Trauma Räterepublik
Die Bremer Kaufmannschaft war bis 1914 von der „Illusion einer vom Senat geleiteten einheitlichen stadtbürgerlichen Gesellschaft“[221] ausgegangen. „Es ist fraglich, ob die politischen Debatten, die Wahlkämpfe und die von Klassenkampf und revolutionären Parolen gesättigte Agitation den Senat um die bürgerliche Oberschicht der Stadt überhaupt erreichten oder gar beunruhigten. Glänzende Geschäfte in Industrie und Handel, ein Senat, der von Männern bestimmt wurde, die sich nach Herkunft, Tradition und Ausbildung als selbstverständlich zuständig für die Regierungsgeschäfte der Stadt erachteten und die weder auf das politische Tagesgeschäft noch auf Meinungen oder Mehrheiten allzu viel Rücksicht nahmen, schufen in Klima der Sicherheit und Zuverlässigkeit, das in seltsamem Kontrast zu den oft drängenden sozialen Problemen stand.“[222]
Was Konrad Elmshäuser hier in seiner Geschichte Bremens zusammenfasst, deckt sich mit der Stimmung, die unter den Eiswettgenossen herrschte und mit der Art und Weise, wie sie die Eiswetten gestaltet hatten. Umso größer war der Schock über den verlorenen Krieg und vor allem über die Novemberrevolution, die alles ihnen „Heilige“ in Frage stellte. Die Räterepublik in Bremen hinterließ in der Kaufmannschaft eine Spur der Angst vor einem sozialistischen Umsturz, die sich in den Jahren der wirtschaftlichen Erholung Bremens von 1924 bis 1929 etwas legte, aber mit der Wirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre wieder virulent wurde. Eiswettgenosse Rudolph Feuß hatte in seiner 1929 verfassten Festschrift zum 100jährigen Jubiläum noch in guter Erinnerung, warum man erst vier Jahre nach Ende des Krieges wieder zusammengekommen war: Es wäre „kein Raum für die Eiswette“ gewesen, … weil die fürchterlichen Jahre der ersten Nachkriegszeit, 1918 bis 1923, uns mit ihren Ereignissen wenig erfreulicher Natur fast noch mehr als die Kriegsjahre selbst seelisch belasteten.“[223] Drei wichtige Eiswettgenossen – Bömers, Gebert, Borttscheller –[224] die aktiv oder passiv in die Ereignisse von 1919 involviert waren, seien hier zum besseren Verständnis der weiteren Entwicklung mit ihren persönlichen Erlebnissen, bzw. Eindrücken von der Novemberrevolution kurz vorgestellt.
Von Beginn der Revolution an bis zu ihrer militärischen Niederschlagung am 4. Februar 1919 war Heinrich Bömers aktiv auf der „konterrevolutionären“ Seite tätig. Seit der Absetzung von Senat und Bürgerschaft am 14. November 1918 hatte er an Verhandlungen mit Vertretern des „Aktionsausschusses des Arbeiterrats“ teilgenommen. Er gehörte dem „Zwölferausschuss“ an, der aus sechs Senatsmitgliedern (außer Bömers die Bürgermeister Hildebrand und Donandt, Biermann, Apelt und Spitta) und sechs Mitgliedern der Revolutionsregierung bestand. [225] Bömers nahm auch an der Sitzung mit Bankdirektoren am 20. Januar teil, in der die Revolutionäre sich in einer Vereinbarung „völlig unter die Kuratel der Banken stellen lassen“ mussten, wie er selbst später berichtete. Trotzdem unternahm er gleichzeitig auf eigene Faust den Versuch, ein militärisches Eingreifen zur Niederschlagung der Revolution in die Wege zu leiten. Zusammen mit Oberst Caspari besuchte er den ihm persönlich bekannten kommandierenden General des X. Armeekorps in Hannover, v. Knobelsdorff, um ihn davon zu überzeugen, „dass für Bremen bald etwas geschehen müsse“.[226]
[221] Elmshäuser, a.a.O., S.85.
[222] Elmshäuser, a.a.O., S.87/88.
[223] Feuß, a.a.O., S. 36.
[224] Bömers war seit 1898 Mitglied der Eiswettgenossenschaft, Hugo Gebert war es seit 1924. Er wird 1933 bis 1939 ihr Präsident werden. Georg Borttscheller war seit 1929 ständiger Gast. Er wurde 1936 Genosse und wird von 1951 bis 1967 das Amt des Präsidenten ausüben.
[225] Vgl. Peter Kuckuk, Bremen in der Deutschen Revolution 1918 – 1919. Revolution, Räterepublik, Restauration. Bremen 1986, S. 64. Vgl. auch Theodor Spitta, Aus meinem Leben. Bürger und Bürgermeister in Bremen. München 1969, S. 284. Anfang Januar 1919 warteten die sechs Senatoren vergeblich auf ihre Verhandlungspartner, als ein Mitglied der Revolutionsregierung erschien, sie für verhaftet erklärte und ihnen verbat, das Rathaus zu verlassen. Sie hätten sich solange als Geiseln zu betrachten, bis geklärt wäre, ob mehreren in Delmenhorst von Militär festgenommen Genossen etwas geschehe. Dann hätten sie damit zu rechnen, erschossen zu werden. Deichmann durfte den Raum verlassen, weil er gesundheitlich angeschlagen war. Spitta berichtet darüber in seinen Erinnerungen: „Wir übrigen Senatsmitglieder brachten einige Stunden mit Humor, auch wohl mit Galgenhumor, in Donandts Zimmer zu.“ Es stellte sich über Telefongespräche nach Delmenhorst heraus, dass es keine Festnahmen gegeben hatte. Daraufhin wurden die fünf Senatoren mit der „Verwarnung“ entlassen, „keine Gegenrevolution zu unternehmen.“ Spitta, a.a.O., S. 284 -286. In der Familiengeschichte wurde daraus die Legende, dass Großvater Heinrich „im Keller des Rathauses eingekerkert“ war. So Enkel Heinz Bömers 1998 im Interview mit dem Historiker Diethelm Knauf. Vgl. Bremen 1871 bis 1945. Eine Filmchronik. Eine Produktion des Landesfilmarchivs Bremen und der Tele Factory. Recherche und Buch von Diethelm Knauf. Bremen 1998.
[226] Kuckuk, a.a.O., S.221.
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Die Initiative blieb zwar ohne Erfolg, in der Summe aber, schreibt Georg Bessel in seiner Biographie von Heinrich Bömers, kam Reichskanzler Ebert „nicht ohne dringende Vorstellungen von Seiten bremischer Kaufleute und Senatoren zu dem ihm nicht leicht fallenden Entschluss, militärische Machtmittel anzuwenden.“[227] Caspari, der in den zwanziger und dreißiger Jahren regelmäßiger Gast der Eiswette wurde, war wiederum Teil einer Delegation unter Führung des Eiswettgenossen und Generaldirektors des Norddeutschen Lloyd, Philipp Cornelius Heineken,[228] die zur Obersten Heeresleitung nach Kassel fuhr. Ergebnis dieser Verhandlungen war, dass „eine außerhalb der Stadt aufzustellende Bremer Freiabteilung die Zugführung von Waffen und Munition nach Verden zugesichert wurde.“[229] In Verden wurde bekanntlich eine Reichswehrtruppe unter dem Befehl von Oberst Gerstenberg versammelt, verstärkt durch ein aus Bremern gebildeten Freikorps unter dem Kommando von Oberst Caspari, das hauptsächlich aus jungen Offizieren bestand. Mit seinen 55 Jahren schloss sich Heinrich Bömers, der Bremen “in Räuberzivil“ heimlich verlassen hatte, in Offiziersuniform dem Freikorps in Verden an. Er wurde allerdings nicht aktiv eingesetzt, sondern „einer Abteilung beim Stabe des Obersten Gerstenberg, welcher die Verbindung mit Berlin und Hamburg aufrechterhielt“[230] zugeteilt. Von Verden aus wurde Bremen nach kurzen Gefechten „erobert.“
Hugo Gebert kehrte als Oberleutnant der Reserve aus dem 1. Weltkrieg zurück. Als Mitbegründer einer „Aktionsgemeinschaft“, die durch Flugblattaktionen die Jugend Bremens gegen die Revolution zu mobilisieren versuchte,[231] war er von Beginn der Ereignisse an politisch aktiv. Er trat als Redner auf öffentlichen Versammlungen des „Bürgerausschusses“ in Erscheinung, der sich schon im November gebildet hatte, um gegen die Ziele der Unabhängigen Sozialdemokraten und Kommunisten zu kämpfen. Er forderte die Wiedereinsetzung des Senats und der Bürgerschaft und wandte sich gegen die Bewaffnung der Arbeiter.[232] Der Einzug von 700 aus dem Krieg heimkehrenden Soldaten am10. Dezember 1918 hatte beim revolutionären Soldatenrat die Befürchtung eines „gegenrevolutionären Putsches des Bürgertums“ ausgelöst. Zwei Tage später wurde Gebert mit 21 anderen jungen Leuten bei der Vorbereitung von Flugblattaktionen festgenommen. Ihm wurde vorgeworfen, „heimliche Propaganda“ zu machen, „die den Umsturz der jetzigen Regierung bezwecke.“[233] Nach juristischer Beratung durch einen amtierenden Richter ließen die Mitglieder des Soldatenrats die Festgenommenen am nächsten Tag wieder frei.[234] Über sein weiteres Eingreifen in die Niederschlagung der Räterepublik ist nichts bekannt.
Georg Borttscheller erlebte den 11. November 1918 als Berufsoffizier in Brüssel, das noch von deutschen Truppen besetzt war. Er erinnerte sich: „Bei der Einfahrt in die belgische Hauptstadt fiel uns die Unruhe auf und die Masse der Feldgrauen auf den Straßen. Kurz vor dem Palast-Hotel, wo das Oberkommando Quartier genommen hatte, wurden wir angehalten. … Die Reifen des Autos brauchten nicht erst zerschnitten zu werden, denn es war schon stahlgerädert … Aber die Achselstücke verloren wir im Nu. Ich versuchte, dem roten Mob gegenüber mich verständlich zu machen … Seelisch fertig, äußerlich gefasst, bar unserer Rangabzeichen meldeten wir uns im Hotel“. In der Nacht musste er per Telefon den folgenden Befehl weitergeben: „Ab sofort sind bis hinunter zu den Kompanien Soldatenräte zu bilden. … Trauriger Tiefpunkt bis dato in meiner militärischen Laufbahn.
[227] Georg Bessell, Heinrich Bömers. Senator in Bremen. Chef der Firma Reidemeister & Ulrichs. Ein Lebensbild. In Zusammenarbeit mit der Familie Bömers. 2. Nov. 1864 – 1. April 1932, S. 44.
[228] Er war Eiswettgenosse seit 1896.
[229] Bessell, a.a.O., S.45.
[230] A.a.O.
[231] Vgl. Hartmut Müller, Gebert – Stichwort in der Bremischen Biographie, a.a.O., S.161.
[232] Vgl. Kuckuk, a.a.O., S.103.
[233] Kuckuk, a.a.O., S.107.
[234] Vgl. Kuckuk, a.a.O., S. 108.
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Die Niederlage war da, der Zusammenbruch vollkommen.“[235]
Die Räterepublik wurde für die Bremer Kaufmannschaft das Menetekel an der Wand.
Die Feiern von 1924 bis 1928
Für den Neuanfang ergab sich ein Problem aus der Tatsache, dass die Genossenschaft bis zum Ersten Weltkrieg eine Versammlung älterer Männer gewesen war. Vietsch spricht in seiner Festschrift von den „in der Mehrzahl älteren Herren“ für die spätere Zeit des Präsidenten Runge (1838 bis 1858).[236] Bis 1861 waren noch Gründungsmitglieder der Wette von 1828 aus dem Geburtsjahrgang 1791 des Wilhelm Fritze (der schon
1842 verstorben war) anwesend.[237] Auf der 50-Jahr-Feier von 1879 waren unter den von Vietsch erwähnten Rednern C.W. Debbe, der 25 Jahre später auch an der 75-Jahr-Feier teilnahm und noch 1912 mit 75 Jahren Eiswettgenosse war, Heinrich Müller, der 1890 noch als Einundsiebzigjähriger dabei war und H. W. Bömers, auf der Eiswette von 1887 auch schon 70 Jahre alt.[238] In Anbetracht des relativ hohen Altersdurchschnitts der Vorkriegs-Eiswetten[239], ist es nicht erstaunlich, dass von den Mitgliedern der 75-Jahr-Feier 1904 im Jahr 1924 nur noch zehn dabei waren[240] und dass 27 von den Mitgliedern des Jahrgangs 1913 nicht mehr am Leben weilten.[241] Die Teilnehmerzahl hatte 1913 bei 92 gelegen.[242] Wenn wir davon ausgehen, dass davon etwa 70 Eiswettgenossen waren (1904: 66), ist ein herber Mitgliederverlust festzustellen. Die wichtigste Aufgabe für einen Neuanfang würde es sein, genügend Teilnehmer zu finden. Man entschloss sich dazu, die „Eiswette von 1829“ und die „Lustige Eiswette“ von 1874, die dem Zeitgeist nicht mehr angemessen schien, zu vereinigen und suchte „die Mitglieder der alten und neuen Eiswette zusammen.“[243] Dass man sich 1924 schon wieder in einem erstaunlich großen Kreis von 92 Mitgliedern und Gästen traf,[244] ist einerseits diesem Zusammenschluss zu verdanken, andererseits der Umtriebigkeit des Neu-Mitglieds Johannes (Hans) Wagenführ, des späteren Präsidenten. Er soll unermüdlich für die neu erstehende Eiswette geworben haben.[245] Im Herbst 1923 traf sich ein Kreis von drei ehemaligen Genossen beider Eiswetten:[246] Hans Wagenführ, Franz Funck, der erste Nachkriegspräsident, der schon nach drei Jahren „nachdrücklich auf seine Ablösung drängte“[247] und damit die Tradition der langen „Amtszeiten“ beendete und Heinz Tietjen, ein großer Freund der Eiswette und ihr regelmäßiger Gast. Tietjen war die gute Seele der Eiswette, so wie Löbe seine Tätigkeit beschreibt: „Er hat sich im Laufe der Jahre nahezu um alles gekümmert, führte Protokolle, dichtete, trug vor, erstattete den Kassenbericht, kurzum er war Mädchen für alles und wollte es auch sein.“[248]
[235] Georg Borttscheller, Bremen, mein Kompaß. Schön war’s. Bremen 1973, S.37.
[236] Vietsch-Festschrift, a.a.O., S.6.
[237] Vgl. Löbe, a.a.O., S.80.
[238] Vgl. Vietsch, a.a.O., S. 14.
[239] Dabei blieb es auch später. Als Georg Borttscheller im Januar 1928 auf dem Presseball in der Jacobi-Halle zum ersten Mal Eiswettgenossen begegnete, nahm er sie wahr als „eine Schar von Herren mittleren und älteren Kalibers.“ Georg Borttscheller, Bemen, Mein Kompaß. Schön war’s. Bremen 1973, S. 166. Die Jacobi-Halle war ein historisches Wein- und Bierrestaurant mit vornehmen Räumen für Festlichkeiten, das an der Stelle einer 1190 erbauten Klosterkirche stand. Im Krieg beschädigt, musste es Anfang der 60er Jahre dem Ausbau der Martinistraße weichen. Heute ist dort – Martinistraße/Ecke Kurze Wallfahrt -das „Jacobi-Haus“.
[240] Es waren die folgenden Herren (in Klammern ihre Eintrittsdaten in die Eiswettgenossenschaft): Eberhard Größer (1893), Philipp Cornelius Heineken (1896), Gustav Peter und Heinrich Bömers (1898), Georg Taaks (1899), P.E. Barckhan (1900), Carl W. A. Hinrichs (1901), H. Schütte (1902), Wilhelm Blanke und Adolph Hellmering (1903). Vgl. Vietsch-Festschrift, S. 17.
[241] Löbe, a.a.O., S.114. Nähere Angaben finden sich bei ihm nicht.
[242] Vgl. Löbe, a.a.O., S. 115.
[243] Löbe, a.a.O., S.114.
[244] Vgl. Löbe, a.a.O., S.115/116. Über das Zahlenverhältnis von Genossen und Gästen findet sich keine Angabe.
[245] Vgl. das Kapitel „Hans Wagenführ“.
[246] Dass Hans Wagenführ Mitglied der „Lustigen Eiswette“ gewesen war, lässt sich nur vermuten.
[247] Löbe, a.a.O., S.116.
[248] Löbe, a.a.O., S. 152/153.
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Allerdings wurde er erst 1936 in die Genossenschaft aufgenommen.[249] Die Aufgabe des vorbereitenden „Comités“ war es, „eine ganz neue Eiswette“ zu gründen, weil „die Zäsur zur Vergangenheit sehr hart“ war.[250]
Am 21. Januar 1924 traf man sich zur ersten Feier nach elf Jahren wieder im Festsaal von Hillmanns Hotel. Als die Teilnehmer eintraten – ohne übrigens die Wette erneuert zu haben – erklangen die Töne einer Kapelle. Das war in der Vergangenheit nur aus besonderem Anlässen der Fall gewesen. Sie spielte den Einzugsmarsch aus Tannhäuser, der nun für immer die Feiern einleiten würde. Löbe berichtet, dass es eine „festliche, aber doch ernste Runde“ war. „Das Protokoll über den Verlauf beginnt mit nachdenklichen Ausführungen. Es sei bisher keine Zeit gewesen, frohe Feste zu feiern.“[251] Das vorbereitende „Comité“ hatte der Eiswette ein Programm-Korsett verpasst; das war neu. Seine Hauptstützen waren drei vorbereitete Reden. Die wichtigste war eine sogenannte Deutschland-Rede, zu der sich eine „Bremen-Rede“ und eine „Gäste-Rede“ gesellten. Der Raum für jene Reden, die, traditionell spontan gehalten, ihrer Natur nach der Unterhaltung einer vertrauten Zuhörerschaft gedient hatten und die ein wesentliches Merkmal der Lustigkeit auf den Feiern waren, wurde erheblich verkleinert. Diese drei Reden wurden in den ersten Jahren nur von Bremern gehalten. Eine politisch „aufgeladene“ Stimmung spiegelt sich in den Ausführungen des Protokollanten wider, der notierte, dass „die Lage des Vaterlandes ernst, ja politisch und wirtschaftlich trostlos“ wäre.[252] Es hätte „einer humorvollen Rede“ des immer gut aufgelegten Hans Wagenführ bedurft, um „den Bann zu brechen.“[253] Die beliebten gesanglichen Amateur-Darbietungen machten gewaltigen Wagner-Arien Platz, die nun von Berufsmusikern des Stadttheaters vorgetragen wurden. 1924 war es Opernsänger Philipp Kraus, der – warum auch immer – die Gralserzählung aus Lohengrin vorzutragen hatte.[254] Zum Programm gehörten nun klassische Soli am Klavier und auf dem Cello.[255] Die ehemals zahlreichen spontanen Aktivitäten der Genossen wurden durch das neue Veranstaltungsmuster stark eingeschränkt. Der tiefste Einschnitt in die traditionelle Gestaltung der Feiern war die Abschaffung des beliebten Kartenspiels, bis dato Höhepunkt der Geselligkeit, unabdingbar für den fröhlichen Ausklang. Auch das Verlesen des Protokolls, das oft zur Erheiterung beigetragen hatte, besonders wenn es in Reimen abgefasst war, wurde gestrichen. Für die allgemeine Belustigung waren – neben den humorvollen Redebeiträgen von Wagenführ – vor allem drei Eiswettgenossen zuständig: die des Plattdeutschen und der laienhaften Verskunst mächtigen Rudolph Feuß, Hugo Gebert und Otto Heins. Rechtsanwalt Gebert, ein begnadeter Unterhaltungskünstler, der in Versform fortsetzen konnte, was er in Prosa begonnen hatte und als dichtender Störtebeker auch mal ein „Eiswettspiel“ auf Platt verfasst hatte, gehörte zu den unterhaltsamsten Eiswettgenossen der zwanziger Jahre.[256] Otto Heins, ein Studienrat mit Hang zum Theater, begann seine Laufbahn als „poeta laureata“ im Jahr 1927 mit der Rezitation aus Werken von Fritz Reuter.[257]
[249] Warum er so spät Genosse wurde, war nicht festzustellen. Über seine Person sind bei Löbe keine Angaben zu finden. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg ist er einer der „Unermüdlichen“. Vgl. Löbe, a.a.O., S. 123.
[250] Löbe a.a.O., S.115.
[251] Löbe, a.a.O., S.115.
[252] Löbe, a.a.O., S.117.
[253] Löbe, a.a.O., S.115/116.
[254] Löbe fragt sich, „ob das nötig und passend war“. Löbe, a.a.O., S.119.
[255] Vgl. Feuß, a.a.O., S.39.
[256] Vgl. die Berichte über die Eiswette in den Bremer Nachrichten von 1929 bis 1933. Vgl. Löbe, a.a.O., S.120.
[257] Vgl. Löbe, a.a.O.
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Später verfasste er die sogenannten Eiswettspiele, die zur festen Größe jeder Veranstaltung wurden.[258] Geschlemmt wurde trotz der „wirtschaftlich trostlosen Lage“ wie zu Kaisers Zeiten. Präsident Wagenführ machte sich 1928 noch einmal lustig über das Braunkohl- und Pinkelessen der Eiswette-Väter, in dem er den Text des alten „Bundeslieds“ aus den neunziger Jahren als Spottgedicht vortrug, das sich darüber lustig gemacht hatte.[259] In wenigen Jahren würde die Eiswettgenossenschaft wieder zu einer volksnahen Speise übergehen, dann Eintopfgericht genannt.
Über die Feiern der Jahre 1924 bis 1928 gibt es nur wenige Informationen aus den Festschriften. Sie fanden hinter verschlossenen Türen statt. Es gab nach wie vor keine Berichterstattung in der lokalen Presse, und es finden sich auch keine Hinweise in der Bremen-Chronik jener Jahre.[260] Bei den Bremer Kaufleuten hatte sich das Eiswettfest hingegen herumgesprochen. 1928 waren die „Anmeldungen so zahlreich“, dass man sie „erst einmal sorgfältig prüfen“ wollte.[261] Aus dieser Bemerkung Löbes geht hervor, dass man sich in jenen Jahren offensichtlich selbst um eine Mitgliedschaft bewerben konnte. Die durchorganisierte und unbefangene Schlemmerei unter Männern, die vordringlich lokalpolitischen Reden und eine ebensolche Teilnehmerschar von Gleichgesinnten, die Mischung aus Heiterkeit und Ernst boten den Kaufleuten eine Entspannung, die in der wirtschaftlich schwierigen Lage der Zeit wahrscheinlich hochwillkommen war. Bis 1928 war die Zahl der Genossen auf 116 gestiegen; 1929 gab es noch eine weitere Steigerung auf 135.[262] Es gibt einen kompetenten Zeitzeugen für die feucht-fröhliche Stimmung, die zu jener Zeit von den Feiern auszugehen schien: „Im Januar 1928 tanzte ich auf dem Presseball in der Jacobi-Halle.[263] Das Fest war im vollen Zuge, da trat eine Schar von Herren auf, mittleren und älteren Kalibers, geführt von Christian Specht, einem Schiffsmakler, recht beschwingt. Sie brachten noch mehr Rotation in den Betrieb. Auf die Frage, woher die Kavaliere kämen, wo sie ihre Stimmung so aufgeladen hätten? Wer von der „Eiswette“ käme, hätte immer aufgetankt. Eiswette?! Nie gehört!“[264] Nach ihrer Vertreibung aus den Clubräumen des „Museum“ hatten einige Eiswettgenossen die Gewohnheit entwickelt, sich im Anschluss an das Fest noch in einem anderen Etablissement zu treffen, wo auch getanzt wurde. Der hier so fröhlich Berichtende war Georg Borttscheller, aus Hamburg zugezogen, seit einem dreiviertel Jahr Redakteur der „Weser-Zeitung“. Schon im nächsten Winter nahm er als Gast an der Eiswette teil; 1936 wurde er Eiswettgenosse und 1951 ihr Präsident mit der längsten aller Amtszeiten der Neuzeit (bis 1967).
[258] Er führte diese Tradition bis zu seinem Tod am 20. Mai 1959 fort.
[259] Vgl Löbe a.a.O., S.92. Der Text steht im Kapitel “Rituale” unter dem Abschnitt “Schlemmen und Trinken”.
[260] Vergleiche die Bremer Chronik ab 780 von Achelis / Focke, H.Wania und Fritz Peters, z.T. herausgegeben von der Historischen Gesellschaft Bremen; vgl. die digitale Chronik der Stadt Bremen von 1851 bis 2009 im Staatsarchiv Bremen.
[261] Löbe, a.a.O., S.142.
[262] Vgl. Bremer Nachrichten vom 15.1.1929.
[263] Die „Jacobi-Halle“ in den Resten einer Klosterkirche von 1190, an der Ecke Pieper / (alte) Langenstraße gelegen, nannte sich „historisches Wein- und Bierrestaurant“. Es verfügte über „vornehme“ Räume für Hochzeiten und Festlichkeiten. Im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, mussten seine Reste 1960 dem Durchbruch für die Martinistraße weichen.
[264] Georg Borttscheller, Bremen, mein Kompass. „Schön war’s“. Bremen (1973), S.166.
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Der Eiswette-Mythos entsteht (1929) und lebt
Mit ihrem ersten öffentlichen Auftritt 1929 schuf sich die Eiswette ihren eigenen Mythos. Den Grundstein dafür legte ein langer Artikel, der aus Anlass der Hundertjahrfeier in der Glocke in den Bremer Nachrichten erschien.[265]
Legende 1: Spenden seit 1829
Im Artikel vom 12.1.1929 wird die Eiswette als eine hundert Jahre alte soziale Veranstaltung dargestellt: „Am Schluss der Tafel fand eine Sammlung für arme Familien statt, deren Ergebnis alljährlich manche stille Träne trocknen konnte.“[266] Die zu Herzen gehende Geschichte zielte auf eine ahnungslose Bremer Leserschaft. Die Teilnehmer der Jubiläums-Eiswette fanden sie aus gutem Grund nicht in ihrer Festschrift, denn sie wussten, dass sie erfunden war. Mit Blick auf hundert spendenfreie Jahre hätte es 1929 keine weniger zutreffende Bezeichnung als die eines Stiftungsfestes geben können.(267) Diese Legende wird von den Eiswettgenossen heute nicht mehr aufrechterhalten. Allerdings haben sie lange dazu beigetragen, indem sie bis 1975 jeweils zu ihren „Stiftungsfesten“ – durchnummeriert seit 1829 – einluden. Noch im Im Geleitwort des offiziellen „Eiswettbuchs“ von Herman Gutmann von 2010, von zwei Mitgliedern des Präsidiums verfasst, ist die Rede vom „jährlichen Stiftungsfest.“[268] Heute wird im Programmheft nur noch schlicht zur „Eiswette“ eingeladen. In der Lokalpresse ist weiterhin unverdrossen vom „Stiftungsfest“ die Rede. (Zuletzt am 23. September 2021 im Weser-Kurier: Artikel „Schaffermahlzeit erst in 2022“: „… mit der Eiswette fällt auch das zweite große Stiftungsfest aus.“). Und es reichen zweieinhalb Minuten aktuelles Regionalfernsehen auf Sat 1, um sie wieder aus dem Hut zu zaubern. Die Reportage zur ausgefallenen Eiswettprobe am 6. Januar 2022 beginnt mit der lapidaren Falschmeldung, dass die Eiswette „seit fast zweihundert Jahren für gemeinnützige Zwecke spendet.“
Legende 2: Eiswettproben seit 1829
Im Artikel der Bremer Nachrichten hieß es weiter: „Am 6. Januar jeden Jahres begab sich ein Feststellungsausschuss zum Osterdeich, um die Eisverhältnisse der Weser in Augenschein zu nehmen.“[269] In der Jubiläums-Festschrift schmückte Feuß das noch aus: Die Herren des Ausschusses hätten die Aufgabe gehabt, „sich vor Sonnenaufgang zu einem Spaziergang von der Tiefer am Osterdeich entlang bis zum Punkendeich zu bequemen…“[270] Im „Urtext“ von 1829 war als Wette aber nur die Frage festgeschrieben, ob die Weser „im Laufe“ des Winters „bis spätestens zum 4. Januar“ zugefroren wäre. Der 4. Januar war lediglich der letzte Tag dieser Winter-Wette und zugleich der Stichtag für den Verzehr des Wetteinsatzes. So hatte man sich dann anfangs auch am 4. Januar bei Schünemann zum Verzehr der Wette und zum Kegeln getroffen. Zu Eiswettproben heutiger Art hätte man sich, nach dem Wortlaut, möglicherweise sogar mehrfach zur Begutachtung „vor Sonnenaufgang“ am Punkendeich treffen müssen.[271] Das mochte man sich nicht antun. So blieb es hundert Jahre die Sache des Präsidenten, kraft seines Amtes lediglich das Ergebnis auf den Feiern zu verkünden.[272] Die Geschichte von der „jahrhundertealten“ Eiswettprobe wurde inzwischen aus den Annalen der Eiswette getilgt,[273] ohne dass dieser Umstand etwas daran geändert hätte, dass die Legende lebt und gepflegt wird. Im Weser-Kurier vom 20.01.2018 („Der Schneider, der Schröder und ein Kamel“, S.7) wird überraschend das Jahr 1869 als Beginn der Schneider-Karriere genannt, und ganz selbstverständlich kündigte Eiswett-Präsident Patrick Wendisch 2017 dem Bremer Publikum am Punkendeich die 188. Eiswettprobe an.
[265] Hundert Jahre Bremer Eiswette. Das heutige Jubelfest. Bremer Nachrichten vom 12.1.1929. Der Artikel war eine gekürzte und in Teilen geänderte Fassung der Jubiläums-Festschrift von Rudoph Feuß. Vgl. Eiswette von 1829 Bremen. 1829-1929. Rückblick, Umblick und Ausblick. Der Gesellschaft „Eiswette von 1829“ zu ihrem 100jährigen Jubelfeste gewidmet von Senator Feuß.
[266] Hundert Jahre Bremer Eiswette, a.a.O. 12.1.1929.
[267] Eine Ausnahme waren die 200 Mark, die sie 1887 für die Angehörigen des vor der südamerikanischen Küste havarierten Bremer Schiffs „Elisabeth“ gespendet hatte.
[268] Geleitwort von Peter Braun und Günther Eisenführ. Hermann Gutmann, Jochen Mönch, Die Eiswette von 1829. Ein Bremer Fest – Geschichte und Geschichten. Bremen, 2010, S.7.
[269] Hundert Jahre Bremer Eiswette, a.a.O.
[270] Eiswette von 1829 Bremen, a.a.O., S.13/14.
[271] Vgl. Löbe, a.a.O., S.43.
[272] Vgl. Löbe, a.a.O., S.43.
[273] Vgl. Löbe, a.a.O., S. 47, S.63/64 und S.68.
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Legende 3: Sorge um die Vereisung der Weser
2010 trat im offiziellen „Eiswettbuch“ von Hermann Gutmann überraschend ein neues Gründungsmitglied in die Reihe der 18 Eiswettgenossen von 1828: Als 19. soll der zehn Jahre ältere Bruder von Wilhelm, der berühmte Wilhelm August Fritze dazu gehört haben.[274] Allein aufgrund dessen 1813 erfolgter Eheschließung mit der Tochter des Ratsherrn Vollmers hätte er nicht in die Junggesellenrunde gepasst. Mehr noch war es seine hohe gesellschaftliche Stellung als Eltermann (seit 1821), die es ihm verboten hätte, in die ausgelassene Kegel- und Kartenspielgesellschaft der jungen Männer einzutreten. Und schließlich hätte er wohl kaum Gelegenheit zum Kegel- und Kartenspielen gehabt, war er doch seit 1825 als Vertrauter von Bürgermeister Smidt in seiner „freien“ Zeit vor allem mit der Planung des neuen Bremer Hafens im Hannoverschen beschäftigt. Wozu also die erfundene Erweiterung der Gründungsrunde? Als Antwort böte sich eigentlich nur an, dass W.A.Fritze als einer der großen Bremer Kaufleute und Senatoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sehr gut in die Gründungsgeschichte der Bremer Eiswette von 1829 gepasst hätte. Aber wie sollte er sich in die dritte Legende einfügen? .„Man schrieb den 12. Januar 1829. Ein strenger Winter war ins Land gekommen, die Schiffe lagen auf der Weser fest oder kamen nicht herauf, sorgenvoll berechneten die Bremer Kaufleute und Reeder den Schaden. Wird das Eis wieder, wie so oft, den ganzen Winter hindurch den Verkehr sperren?
[274] Gutmann hatte sein Manuskript schon Mitte 2008 dem Präsidium vorgelegt, so dass bis zur Veröffentlichung 2010 ausreichend Zeit gewesen wäre, diesen Fehler zu korrigieren. An anderer Stelle hatte das Präsidium durchaus direkt in die Gestaltung des Manuskripts eingegriffen. So hatte Gutmann Quellenangaben gemacht, die zu seinem großen Bedauern nicht in die Veröffentlichung übernommen wurden. Ein Auszug der Donnersmarck-Rede von 1993 war ohne sein Wissen aufgenommen worden. Das teilte Gutmann dem Verfasser in einer E-mail vom 17. Februar 2011 mit. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Name W.A.Fritze ohne Wissen von Gutmann in sein Manuskript eingefügt worden ist. Im laufenden Text, der dem Kapitel „Die Gründer“ vorausgeht, nennt Gutmann nämlich die korrekte Zahl von 18 Wettgenossen. (Sie wird auch auf der aktuellen offiziellen Webseite der Eiswette genannt. Vgl. dort das Kapitel „Historie“) Vgl. Hermann Gutmann, Jochen Mönch, a.a.O., S. 19 – 23 und S. 134. In der neuesten Ausgabe der offiziellen Website wird Gutmann nicht mehr – wie noch 2016 – unter der Rubrik „Lizenzpartner“ als „Das Eiswettbuch“ zum direkten Internet-Kauf bei der Firma Grashoff Nachf. GmbH (www.grashoff.de/shop) angeboten. Diese Rubrik ist inzwischen ganz gestrichen. Das Präsidium „erlaubt“ sich nur noch einen „Hinweis“ auf das Buch von Gutmann. Vgl. www.eiswette.de vom 23.06.2017.
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Das war die Frage, die alle Gemüter bewegte. … Das war die Geburt der „Eiswette von 1829.“ Das ist wohl die phantasievollste Vision von der Entstehung der Eiswettgenossenschaft. Sie findet sich in der nationalsozialistischen „Bremer Zeitung“.[275] Die Bremer Nachrichten berichteten vom Stil her etwas nüchterner, von der Sache her ähnlich, zum Beispiel 1938: „Damals saßen ein paar Bremer Kaufleute, Reeder und Schiffer … zusammen, da die zugefrorene Weser ihnen die Ausübung ihres Berufes nicht gestattete.“[276] Auch für diese Legende war der Autor der ersten beiden der Stichwortgeber. Er hatte zur Hundertjahrfeier geschrieben: „Namentlich in den Wintermonaten, wenn die Landstraßen für den Frachtverkehr unzugänglich waren, stiegen heiße Wünsche, dass milde Witterung die Weser möglichst lange eisfrei halten oder möglichst bald ihr die den Schiffsverkehr hemmende Eisdecke nehmen möge, zum Himmel empor. … So kam in der „Eiswette“ ursprünglich das Sehnen und Wünschen der Bremer Kaufmannschaft nach freiem Fahrwasser der Weser zum Ausdruck.“[277] Das passte hervorragend zu den angeblich in Sorge zum Punkendeich pilgernden Eiswettgenossen. Diese Legende lebt noch heute, auch in Außendarstellungen, wie zum Beispiel in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1992: „In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts lehnten sich die Griechen gegen die türkische Herrschaft auf, und Engländer, Franzosen und Russen mischten sich in diesen Krieg ein. Das war für den Bremer Handel äußerst abträglich. Nun wurde gewettet, wann sich der Zustand ändern würde. Als das dann der Fall war und man am großen Geschäft mit dem Nachholbedarf bei Kriegsende teilhaben wollte, war es das Eis auf der Weser, das die Schiffe blockierte und ein Auslaufen unmöglich machte. Im November 1929 (Irrtum im Original – d. Verf.) wettete ein Kreis bremischer Kaufleute bei einer Kohlfahrt um die Frage, wie lange die Weser offen oder zu sein würde. So wurde die erste Eiswette abgeschlossen …“[278] Auch im „offiziellen“ Eiswettbuch von Hermann Gutmann finden wir eine ähnliche Fassung: „Am Anfang stand die Sorge der Bremer um die Weser, um die natürliche Verkehrsstraße der Stadt. Denn in manchen harten Wintern war die alte Hansestadt von der übrigen Welt abgeschlossen. Die Weser war zu.“[279]
Eiswett-Chronist Löbe fragte sich, wieso die Eiswettgenossen eigentlich den Punkendeich als Ort der Wette ausgesucht hatten, „obwohl er an seinem Ufer kaum Seeschiffe gesehen haben dürfte? Der alte, um die Gründungszeit bis in die siebziger Jahre benutzte Hafen für Seeschiffe war die Schlachte!“ Zur Gründungszeit der Eiswette hatte die Brücke vor dem Punkendeich „noch schwimmende Schiffsmühlen vor den Pfeilern auf der stromabwärts liegenden Seite. … Warum also sollte ein Seeschiff oder ein Seeleichter an den Punkendeich gehen, wo im Übrigen die Oberländer lagen, die Binnenschiffe der Weser? Und warum wurde als Teststelle nicht ein Platz an der Schlachte gewählt, wo die Prüfung der Schiffbarkeit viel mehr interessierte?“ Wir sind ja in der Zeit der Überseekaufleute und der Kaufmannsreedereien, zu denen die Firma „W.A. und W. Fritze“ gehörte, die sich u.a. im Wollhandel betätigte. Sie besaß 1827 vier Schiffe, die nach Westindien und Nordamerika fuhren.[280] Ein Blick auf den Bau des neuen Hafens an der Außenweser – das spätere Bremerhaven – gibt den Blick frei auf die große Sorge, die damals wirklich die Bremer Kaufleute umtrieb: Es war die rasch zunehmende Versandung der Außenweser, die es Seeschiffen nicht mehr gestattete, vom Meer bis zu den bremischen Häfen zu gelangen. Schon im Juni 1825 hatte Bürgermeister Johann Smidt den kühnen Plan zum Erwerb eines hannoverschen Landstrichs zum Bau des neuen Bremer Hafens. Wilhelm August Fritze war einer der ersten, den er darüber informierte und der seitdem einer der großen Stützen bei der praktischen Umsetzung seines Plans wurde.[281]
[275] „Zum 108. Mal Bremer Eiswette. Bremer Zeitung vom 1.1.1937.
[276] Bremer Nachrichten. 9.1.1938.
[277] Bremer Nachrichten 12.1.1929.
[278] Eckehard und Barbara Brettschneider, Skizzen und Portraits. Bremen. Bd.1 Bremen 1992, S.242.
[279] Gutmann, a.a.O., S.24.
[280] Vgl. 200 Jahre W. A. Fritze &Co., a.a.O., S. 5/6 und Schulz, a.a.O., S. 471.
[281] Schulz nennt ihn – zusammen mit Smidt und Eltermann J. F. A. Rodewald – einen der drei Gründungsväter Bremerhavens. Vgl. a.a.O., S.471, Anm. 46. J.F.A.Rodewald (1782 – 1835) hatte sich mit einer Denkschrift im Kollegium der Älterleute für den Hafenbau eingesetzt. Vgl. Schulz, a.a.O., S.471.
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Am 12. Juli 1828 war unter Kanonenschüssen die Grundsteinlegung des neuen Bremer Hafens an der Geestemündung im Hannoverschen vor vielen Zuschauern und geladenen Gästen gefeiert worden [282] Es ist unwahrscheinlich, dass Wilhelm von der Hafenplanung, die von Smidt lange im Geheimen betrieben worden war, nichts gewusst hat, da sein Bruder und Geschäftspartner Wilhelm August „in Sachen Hafen“ oft außerhalb Bremens unterwegs war. [283] Die im November 1928 abgeschlossene Wette über die Frage, ob die Weser im Winter vereist wäre, fand, wenn man so will, im Windschatten des wichtigsten und schwierigsten Wirtschafts-Projekts Bremens statt.[284]
Löbe ging in seinen Überlegungen noch einen Schritt weiter: „Die Gewohnheit, die Seefahrt wegen schweren Wetters, wegen Eises … im Winter einzustellen, lag 1829 bereits zwei bis drei Jahrhunderte zurück.“ Insofern konnte „die Antwort auf die Frage, ob Weser zu oder offen …demnach nur die Wettenden selbst interessieren. „Weser offen“ konnte niemals bedeuten, dass die Schifffahrt aufrechterhalten werden konnte, und „Weser zu“ nicht, dass sie in dem betreffenden Winter nicht möglich gewesen wäre. So haben es die Eiswettgenossen auch nicht gemeint.“[285]
Mit Bangen sahen die Bremer Kaufleute damals nur der einen Frage entgegen: ob die riesige Investitionssumme für den neuen Bremer Hafen Früchte tragen würde. Es dauerte bekanntlich Jahre, ehe es soweit war. Wilhelm Fritze war der einzige aus der Familiendynastie, der an der Eiswette teilgenommen hat. Der berühmte W.A.Fritze wäre kein Kronzeuge für die Sorge um eine Vereisung der Weser gewesen. Ihn trieb die Sorge um die Versandung der Außenweser um. Sein Blick war auf Bremen als Welthafen gerichtet.
Die Eiswette stand nicht nur bei ihrer Gründung im Windschatten der großen Bremer Politik. Das lässt sich – erweitert auf den nationalen Rahmen – im Grunde für ihr ganzes erstes Jahrhundert sagen, als sie sich weder von der von der 48er Revolution, noch vom deutsch-französischen Krieg oder der Reichsgründung in ihrer privaten Behaglichkeit stören ließ.
Drei Legenden – ein Autor
Verfasser der zitierten Texte ist Rudolph Feuß (1862 – 1945), einer der eifrigsten Eiswettgenossen in den Nachkriegsjahren. 1924 hatte er die Bremen-Rede gehalten, 1925 ein Tafellied gedichtet, das in Vergessenheit geraten ist, 1927 eine Rede und eigene Gedichte auf plattdeutsch vorgetragen.[286] Der Höhepunkt seiner Tätigkeit im Rahmen der Eiswetten war die Festschrift zur Hundertjahrfeier. Sein Vater, ein Zigarrenmacher aus Diepholz, hatte erst 1861 die bremische Staatsangehörigkeit erworben. Seit 1882 war sein Sohn – nach einer Ausbildung in Bremen – als Lehrer tätig und wurde 1905 Schulvorsteher. Im gleichen Jahr erfolgte seine Wahl in die Bürgerschaft. 1910 wurde er zum Senator gewählt [287], seit langen Jahren mal wieder als ein Vertreter der 4. Klasse.[288]
[282] Vgl. Schwarzwälder, Bd. II, a.a.O., S.129ff.
123 – 131. Vgl. auch „200 Jahre W.A. Fritze & Co“., a.a.O., S.8.
[283] Er hatte an den Verhandlungen mit Hannover teilgenommen und im Sommer 1826 in Holland den Wasserbau-Ingenieur Ronzelen für den Hafenbau gewonnen. Vgl. Schwarzwälder, a.a.O., Bd. II, S. 127/128
[284] Schulz spricht von der „wichtigsten Investitionsentscheidung des Bremer Bürgertums in der Geschichte der Stadt“ Schulz, a.a.O., S. 470.
[285] Alle Zitate aus Löbe, a.a.O., S.48-50.
[286] Vgl. Löbe, a.a.O., S.115-117.
[287] Vgl. Bremische Biographie, a.a.O., S.148/149. Vgl. Herbert Schwarzwälder, Bd. II, a.a.O., S.521.
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Feuß war der „klassische“ Fall des sozialen Aufsteigers – nicht nur im Kreis der Eiswettgenossen. Sein Vermögen betrug im Jahr 1912 immerhin 1,2 Millionen Goldmark.[289] Während die Aufsteiger der 50er und 60er Jahre, z.B. Architekt Heinrich Müller und Lehrer Christian Debbe, wichtige Verbündete der Kaufmannschaft bei der Durchsetzung liberaler Wirtschaftsgrundsätze wurden [290], lag Feuß politisch ganz auf der deutschnationalen Linie der Kaufleute. Seine Festschrift, die sich für die Zeit bis 1904 im Wesentlichen auf die Arbeit von Vietsch stützte, ging in ihrem politischen Impuls weit über die unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen der Bremer Kaufmannschaft hinaus. Sie endet mit den Worten: „Die letzten Großtaten unseres Volkes, deren die Welt mit Staunen Zeuge gewesen ist, dürfen als untrügliches Zeichen einer besseren Zukunft gedeutet werden. Verbringen aber, umrungen von Gefahr, im neuen Deutschland Kindheit, Mann und Greis ihr tüchtig Jahr, so erwerben wir uns auch das Anrecht auf Stunden der ausspannenden Freude. Die Eiswette von 1829 darf mit ihrem Frohsinn den Ernst der Tage unterbrechen … Die Eiswette soll uns auch in Zukunft eine Quelle werden, aus der wir schöpfen frische Kraft zu neuer Arbeit, wie es bei unsern Vorfahren war. … zur Ehre eines in sich gefestigten, von den Völkern des Erdballs anerkannten und in seiner Tüchtigkeit bewunderten, den Willen nach Selbstbehauptung und Weltgeltung bekennenden, freien und glücklichen Deutschlands.“[291]
Die Hundertjahrfeier in der „Glocke“ 1929
Der Januar 1929 war ein idealer Zeitpunkt, um den Kaufmann in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu rücken. Die Bremer Wirtschaft hatte sich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre erholt und ging unter sehr guten Vorzeichen in das Jahr 1929. Der Schiffbau verzeichnete einen großen Aufschwung, eine Flugbau-Industrie war im Entstehen, der Flughafen war ausgebaut worden.
[288] Das Bremer Wahlrecht von 1854 bis zum Ende des Kaiserreichs kannte 8 Klassen. 1. Klasse: Akademiker, 2. Klasse: Kaufleute mit Handelskammerwahlrecht, 3. Klasse: Gewerbetreibende mit Gewerbekammerwahlrecht, 4. Klasse: Übrige Wähler, gestaffelt nach Einkommen. Die Klassen 5, 6 und 8 waren Wählern in Vegesack, in Bremerhaven, bzw. im übrigen Landgebiet, die 7. Klasse Wählern mit Landwirtschaftskammerwahlrecht vorbehalten. Die 4. Klasse war in ihrem Wahlrecht so drastisch eingeschränkt, dass die Herrschaft der Kaufleute gesichert blieb. Noch 1911 war nicht einmal ein Drittel der Reichstagswähler bei den Bürgerschaftswahlen stimmberechtigt. Die Stimmen von 17 Wählern der 1. bis 3. Klasse hatten gemessen am Bevölkerungsanteil dieselbe Bedeutung, wie die Stimmen von 297 Wählern der 4. Klasse. Vgl. wikipedia Stichwort „Geschichte der Stadt Bremen“ am 3.10.2016.
[289] Vgl. Jahrbuch der Millionäre von 1912, a.a.O., S.116.
[290] Heinrich Müller gehörte zu den eifrigsten öffentlichen Unterstützern für das neue Gewerberecht, das die alten Zunftrechte aufhob und die uneingeschränkte Freigabe der gewerblichen Produktion brachte. Es wurde 1861 in der Bürgerschaft verabschiedet. Vgl. Schulz, a.a.O., S. 579/580.
[291] Feuß-Festschrift, a.a.O., S. 41/42.
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Am Sonntag, dem 6. Januar, fand die erste wirkliche Eiswettprobe in der Geschichte der Eiswette statt. Der „Jahrhundertwinter“ 1929 hatte mit seiner außergewöhnlichen Kältewelle in ganz Europa für zugefrorene Flüsse gesorgt und auch die Weser unter einer Eisdecke verschlossen, die sich erst allmählich am Tag der Eiswettprobe öffnete. Publikum gab es noch nicht, aber Wagenführ hatte die Presse informiert, und am 8. Januar erschien in den Bremer Nachrichten ein Foto des Spektakels. Es zeigt fünf behütete ältere Herren im Ulster am Osterdeich – in der Mitte der Präsident mit Zylinder – die dabei sind, den Eisstand der Weser zu überprüfen. Zwei von ihnen sind mit „Messstab“ und „Lageplan“ ausgerüstet. Der Text darunter setzte die Bremer davon in Kenntnis, dass dies in Vorbereitung „für das 100jährige Stiftungsfest der „Eiswette von 1829“ geschähe. Es war der erste öffentliche Auftritt der Eiswette überhaupt.
Zum Eiswettfest am Sonnabend, dem 12. Januar, lud der Präsident zum ersten Mal eine erheblich größere Zahl von Gästen ein als es Eiswettgenossen gab. Den 135 Eiswettgenossen saßen 180 Gäste gegenüber. Ob der Wunsch nach einer großen Zahl von Teilnehmern ausschlaggebend war bei der Auswahl des Veranstaltungsortes oder ob umgekehrt die Tatsache, dass sich diese dafür anbot, weil sie gerade im Herbst 1928 von Senator und Eiswettgenosse Bömers eingeweiht worden war, kann dahingestellt bleiben. Bömers Wunsch, den großen Festsaal des Konzerthauses, für dessen Wiederaufbau er als Bauherr der Domgemeinde und Vorsitzender der Baukommission entscheidenden Anteil hatte, einer sinnvollen Nutzung zuzuführen, traf sich mit dem Willen von Eiswette-Präsident Hans Wagenführ, die Hundertjahrfeier der Eiswette im ganz großen Stil zu veranstalten.[292] Seitdem ist die Anzahl der Gäste – mit zwei Ausnahmen – wesentlich höher als die der Eiswettgenossen.[293] Die „Glocke“ blieb – mit wenigen Ausnahmen – bis 1995 der Ort für die Eiswettfeiern.[294] Auch die Zusammensetzung der Versammlung war neu. 180 Gäste konnten und sollten nicht mehr nur privat von den Genossen eingeladen werden. Für einen Senator war es ja in der neuen Bremer Gesellschaft kein Problem mehr, als Gast auf dem Gaudi der Eiswette in Erscheinung zu treten.
[292] Das Gebäude war im Januar 1915 einer Feuersbrunst zum Opfer gefallen. Bömers schaffte es, die Finanzierung des Wiederaufbaus aus privaten Mitteln zu organisieren. Vgl. Bessell, a.a.O., S.74.
[293] 1949 wurden gar keine Gäste geladen. Die Zusammenkunft von 1948 zählt „offiziell“ nicht als Eiswettfeier. Vgl. Löbe, a.a.O., S. 126.
[294] Die Feier von 1949 fand im Festssaal des Neuen Rathauses statt, die Feiern von 1950 und 1951 in der Oberen Rathaushalle. Vgl. Löbe, a.a.O., S.126. Erst 1996 zog man mit 705 Teilnehmern in das Congress Centrum in der Holleralle um, wo die Eiswette noch heute mit etwa 800 Teilnehmern stattfindet.
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Heinrich Bömers hatte es vorgemacht, als er weiter an den Eiswetten teilnahm, nachdem er 1909 zum Senator gewählt worden war.[295] Es kamen „Vertreter des Senats, der Handelskammer, Landwirtschaftskammer, der drei Reichswehrteile (! der Verf.), der vaterländischen Verbände (! der Verf.), der Presse und Polizei.“ Darüber hinaus kamen „der Weser Nahestehende … die Strombauverwaltung, der Wetterdienst, die Seeschifffahrt, der Handel und die Industrie.“[296] Mit einem Schlag war die Eiswette aus ihrer Privatheit gerissen. Die Einladung von Vertretern des öffentlichen Lebens, vor allem aber die Zulassung von Pressevertretern, machte sie zu einer öffentlichen Veranstaltung. Die ausführliche Berichterstattung in den Bremer Nachrichten gab einen ersten Vorgeschmack auf diesen neuen Status.[297] Von nun an bis ins Jahr 2010 werden Reporter der lokalen Bremer Presse über die Eiswette berichten.[298] Es gab nur wenige Ausnahmen.[299] Die Einladung von hohen Offizieren der drei Reichswehrteile nahm ihr den zivilen Charakter. Die Einladung von Vertretern „vaterländischer Verbände“ machte sie zu einer nationalen Veranstaltung.
Wie im großen Theater hatte sich zu Beginn der Veranstaltung um 16.00 Uhr [300] der Vorhang der „Glocken“-Bühne für den Auftritt eines Opernsänger geöffnet, der als Minnesänger „in bekannter Meisterschaft“ die Gralserzählung vortrug.[301] Zum ersten Mal flammten Kerzen auf, wurde der Saal verdunkelt, erhoben sich 315 Männer in Frack und mit weißem Binder zu Ehren von zwanzig neuen Mitgliedern („Aspiranten“, „Novizen“),[302] die „bei Kerzenschimmer und „Fackelzug“ feierlich auf die Bühne traten, wo ein als „Poseidon“ verkleideter Schauspieler auf sie wartete und sie nach dem „Schwur“ auf ein Bügeleisen durch Handschlag “verpflichtete“.[303]
[295] Für erzkonservative Mitglieder des Senats, wie Bürgermeister Martin Donandt, der seit 1920 im Amt war, kam die Anwesenheit auf der Eiswette auch nicht in Frage, als sie schon eine öffentliche Veranstaltung geworden war. In den Akten findet sich für 1930 eine Einladung, die er umgehend mit einer simplen Kartenmitteilung ablehnte. StAB, Senatsregistratur, Akte betr. die Stiftungsfeste der „Eiswette von 1829“ (Einladung) vom 4.1.1930. 3 – V.2.No.2225.)
[296] Löbe, a.a.O., S.119.
[297] Reportage in den „Bremer Nachrichten“ vom 15.1.1929.
[298] 26 Jahre – von 1985 bis 2010 – lag die Berichterstattung ausschließlich in den Händen des Weser-Kurier-Redakteurs Heinz Holtgrefe. Mit Beginn der Präsidentschaft von Patrick Wendisch im Jahr 2013 wurde kein Journalist der Lokalpresse mehr auf den Feiern zugelassen.
[299] Über die Eiswettfeier von 1932 gibt es keine Zeitungs-Berichterstattung. Auf der Feier von 1949 waren keine Journalisten zugelassen.
[300] Vgl. die Darstellung bei Löbe, a.a.O., S.119 und die Reportage in den „Bremer Nachrichten“ vom
15.1.1929.
[301] Es war der Berufssänger Philipp Kraus, der zum regelmäßigen Gast wurde. Löbe schrieb: „Überhaupt wurde für die Darbietungen viel Personal des Theaters, später auch des Astoria hinzugezogen. Eine rühmliche Ausnahme machte viele Jahre hindurch Dr. Heins, der wiederholt auch seine Schüler als Akteure auf die Bühne brachte und manchmal sogar mitspielte.“ Löbe, a.a.O., S.119.
[302] Im Laufe der Jahrzehnte hatte sich der Brauch ergeben, „dass die Anwärter vor die Mitglieder treten und Versprechungen abgeben mussten.“ Der Inhalt beschäftigte sich „immer mit der Wette und mit ihrer einwandfreien Durchführung. Die Verpflichtung zur Treue der Gemeinschaft gehörte auch dazu. Nur aus dem Jahr 1871 ist bekannt, dass man aus der Aufnahme neuer Mitglieder eine feierliche Handlung machte.“ Im Protokoll von Präsident Krummacher über die Feier von Sonntag, dem 8. 1.
1871 hieß es, dass die vier Aspiranten, unter ihnen Carl Johann Wuppesahl, „in die Vorhalle des Festsaales geführt und dem Präsidenten vorgestellt (wurden). Nach dreimaliger Verneigung vor demselben gegen Norden, Süden, Osten und Westen stellte der Präsident die üblichen Fragen an die Aspiranten, welche dieselben befriedigend beantworteten. … Der Präsident begrüßte die Neuaufgenommenen mit herzlichen Worten, indem er dieselben gleichzeitig in den Pflichten und den Rechten eines Wettgenossen unterrichtete und wurden dieselben dann unter Vorantragung des Vereinsbanners von den älteren Wettgenossen in den Festsaal geleitet …“ Löbe, a.a.O., S.141. Es scheint nicht nur dieses eine Mal gewesen zu sein. In der Darstellung von Klaus Berthold ist irrtümlich Montag, der 7. Januar 1891 als Tag der Eiswette angegeben. (Das war ein Mittwoch). Vgl. Klaus Berthold, Stiftungsfeste der Eiswette von 1829. Eine folgenreiche Wette um vaterländischen braunen Kohl und Zubehör. In: derselbe, Bremer Kaufmannsfest. Rituale, Gebräuche und Tischsitten der bremischen Kaufmannschaft. Bremen. 2008, S.106 – 121, hier S.114. Vgl. auch Karl Löbe, a.a.O., 2. Auflage 1998, S. 151.
[303] Bremer Nachrichten vom 15.1.1929.
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Auch die Jubilare wurden zum ersten Mal geehrt, auch sie auf der Bühne, wo der Präsident ihnen für eine mindestens 25jährige Mitgliedschaft eine „Silberne Medaille“ verlieh „mit dem bekannten Wappen der Eiswette.“ Man verfolgte das „Festspiel“ für vier Personen von Studienrat Otto Heins und sang gemeinsam das von Rudolf Feuß gedichtete Lied „Dat schöne Bremen“. Hugo Gebert trat sogar zweimal auf: als dichtender Störtebeker und mit einer lustigen „Betriebsratsversammlung der Denkmäler Bremens“, deren Wortlaut nicht überliefert ist. Der neue Ton kam in den drei vorbereiteten Reden zum Ausdruck, vor allem in der „Deutschland-Rede“, und obwohl von diesen Reden nur Bruchstücke in der Reportage der „Bremer Nachrichten“ zu finden sind, zeigen sie doch die politische Richtung an, in die sich die Eiswette nun bewegte. Philipp Heineken, ehemals Generaldirektor des Norddeutschen Lloyd, seit 1921 Aufsichtsratsvorsitzender, beklagte in seiner Deutschland-Rede „die schwere Last“ der „fortschreitenden Zersetzung des Wirtschaftslebens durch den Marxismus.“ Es war, als regierte in Bremen nicht seit 1928 eine Große Koalition mit drei sozialdemokratischen Senatoren (unter ihnen Wilhelm Kaisen) und dem Stellvertretenden Bürgermeister Deichmann.[304] Er fuhr fort: „Gerade Bremen müsse immer bedenken, dass es ein Glied des großen Deutschlands ist, unter dessen Schutz es groß und stark wurde. Gerade in bösen Zeiten gelte es, Treue zu halten – nur in der Einheit liegt unsere Stärke! Sein Hoch galt dem Vaterland. Gemeinsam sang die Festversammlung das Deutschland-Lied.“[305] Rudolf Feuß sprach „gegen Neuerungssucht und für Bodenständigkeit.“[306] Mit den Gesangsvorträgen der Opernsänger Kraus und Jonssen schloss die Veranstaltung auf die gleiche Weise wie sie begonnen hatte.
Zu den herausragenden Gästen aus der Wirtschaft gehörte Franz Stickan, seit 1925 alleiniges Vorstandsmitglied der Dampfschifffahrtsgesellschaft „Neptun“, der im gleichen Jahr in die Eiswettgenossenschaft aufgenommen wurde. Er brachte wichtige Utensilien der „Lustigen Eiswette“ mit aus dem Nachlass von Heinrich Nolze, dem Leiter der ehemaligen „Lustigen Eiswette“, seinem Vorgänger bei der DG „Neptun“: die Wetturne, die Spardose und vor allem die Signalglocke, die eine wichtige Rolle bei den Spenden auf den zukünftigen Veranstaltungen spielen sollte.[307]
Am ausführlichsten würdigten die Bremer Nachrichten die Rede von Hafensenator Hermann Apelt, der seit 1924 als glänzender Redner ein gern gesehener Gast war.[308] Seine Rede spiegelte den Optimismus der Bremer Kaufleute wider, zu dem der wirtschaftliche Aufschwung in den Jahren 1924 bis 1928 Anlass bot: „Die Hundertjahrfeier falle in eine bedeutungsvolle Zeit, denn noch niemals seien die Schifffahrtsverhältnisse auf der Weser so gut gewesen wie jetzt. Im Übergang von 1928 auf 29 sei die Vertiefung auf 8 Meter auf der Unterweser in vollem Umfange und die der Außenweser auf 10 Meter, ja nahezu 11 Meter durchgeführt. Wenn durch diese erfreuliche Entwicklung das Faktum der Eiswette seine ursprüngliche Bedeutung auch verloren habe, so habe ihre sinnbildliche Bedeutung nicht an Wichtigkeit eingebüßt.“ Auch Senator Heinrich Bömers hatte in seinem Redebeitrag die Meinung vertreten, dass man der wirtschaftlichen Entwicklung Bremens zuversichtlich entgegensehen könne.
[304] Wie politisch verdächtig die Bremer Sozialdemokraten mit Wilhelm Kaisen an der Spitze ihren politischen Koalitionspartnern noch in den dreißiger Jahren waren, geht aus einer Bemerkung Theodor Spittas hervor, die er in seinem Buch über Martin Donandt aus dem Jahr 1938 machte. Spitta begrüßte es dort, dass bis 1928 die Sozialdemokraten „fast acht Jahre aus der Regierung ferngehalten werden konnten.“ Spitta, seit 1911 Senator, lange Jahre der Weimarer Republik auch (Zweiter) Bürgermeister, wurde nach dem 2. Weltkrieg der wichtigste Mann in den ersten Senaten von Bürgermeister Kaisen. Dieser Halbsatz steht in der ersten Ausgabe seines Buches von 1938: Theodor Spitta, Dr. Martin Donandt. Bürgermeister in Bremen. Ein Lebens- und Zeitbild. Als Handschrift gedruckt. 1938, S.130. In einer Neuausgabe von 1948 ist er gestrichen, wie viele andere politisch „unkorrekte“ Aussagen aus der ersten Auflage von 1938. Vgl. das Vorwort Spittas zur zweiten Ausgabe im Johs. Storm Verlag, Bremen 1948, S.7.
[305] BN 15.1.1929.
[306] Ebda.
[307] Vgl. Löbe, a.a.O., S.114.
[308] Er war seit 1909 Mitglied der Bürgerschaft, 1917 und von 1919 bis 1933, sowie von 1945 bis 1955 Senator für Häfen. Bürgermeister Theodor Spitta gab seine Reden postum heraus: Hermann Apelt, Reden und Schriften. Bremen, 1962. Die in Auszügen hier zitierte Rede ist dort nicht abgedruckt.
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Hans Wagenführ. Präsident der Eiswette von 1928 bis 1932
Hans Wagenführ, der wichtigste und populärste aller Eiswett-Präsidenten, schuf mit der Hundertjahrfeier 1929 die Rituale der „modernen“ Eiswette, wie sie heute einem breiten Publikum bekannt sind. Er brachte ein altes Stück auf die Bühne, aber er hatte es umgeschrieben. Es reichte ihm nicht, dass die Kaufmannschaft sich unbeschwert beim fröhlichen Beisammensein selbst – und durchaus selbstironisch – feierte, er machte Ernst damit. Die Eiswettgenossen waren sich bewusst, dass mit ihm ein neues Zeitalter begonnen hatte und dass der umgestalteten Feier ein enorme organisatorische Arbeit vorausgegangen war, denn als Friedrich Carl, Präsident des Landesfinanzamtes, 1929 in einer Rede auf den Präsidenten vorschlug, ihn schon im zweiten Jahr seiner Präsidentschaft „wegen seiner großen Verdienste die neu gestiftete silberne Medaille zu verleihen“, fand er den „einhelligen Beifall der Mitglieder und der Gäste.“[1]
[1] „Bremer Nachrichten“ vom 15. Januar 1929 in einem Artikel zur 100-Jahr-Feier der Eiswette.
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Im Nachruf der „Bremer Nachrichten“ zu Wagenführs Tod am 7. Dezember 1932 hieß es: „Trauernd steht ein großer Freundeskreis“ an der Bahre dieser „ungemein rührigen, vielseitigen Persönlichkeit“, die „in vielen gesellschaftlichen Kreisen und Vereinen Bremens … Anerkennung und Wertschätzung genoss.“ „In hingebender Weise“ habe er sich „während des Krieges zuerst als Helfer der Fliegertruppen[2], dann als solcher der U-Bootswaffe“ betätigt. Man werde „sein Andenken stets in Ehren halten.“[3] Wagenführ hatte sich durch weihnachtliche Bescherungen der U-Boot-Besatzungen in Wilhelmshaven von 1915 bis 1918 bis in die Admiralität hinein den Ruf eines Wohltäters der Kaiserlichen Marine erworben. Zu seiner Popularität trug bei, dass er seine „Care-Pakte“, die offensichtlich viel Nützliches und Köstliches enthielten, jedes Jahr persönlich überbracht hatte. Die Eiswette würdigte ihn zu Beginn jeder Feier bis 1939 besonders wegen dieses Engagements mit dem „Lied vom guten Kameraden“ und dem „Fahr wohl“, „das Wagenführ seinen Freunden von der U-Bootswaffe so manches Mal und für manchen zur letzten Fahrt bei der Ausfahrt gebracht hatte.“[4]
Wagenführ hatte unter anderem wegen dieser „segensreichen Tätigkeit“ das „Eiserne Kreuz am Band“ erhalten. Der wichtigste Grund dafür dürfte allerdings gewesen sein, dass er „unermüdlich bemüht“ war, „den schwer kämpfenden U-Bootbesatzungen … ihre Aufgabe erleichtern zu helfen“. Als Verantwortlicher für die elektrische Ausrüstung der auf der AG „Weser“ gebauten U-Boote – immerhin 83 in den Jahren 1914 bis 1918[5]– hatte er durch „seine bedeutenden Fachkenntnisse … zur Vervollkommnung der elektrotechnischen Einrichtungen der U-Bootswaffe“ beigetragen.“ „Die Verwertung der elektrischen Hilfskraft (war) von ganz erheblicher Bedeutung für den U-Bootbau,“[6] denn die Elektromotoren in den dieselgetriebenen lauten U-Boote erlaubten kurzfristig geräuschlose Unterwasserfahrten und schnelle Tauchgänge.
[2] Weihnachten 1914 hatte er eine erste Bescherung für die deutschen Feldflieger in Polen organisiert. Es handelte sich um 80 Geschenk-Pakete, die er, unterstützt durch anonyme Spender aus der Bremer Kaufmannschaft, zusammengestellt und selbst überbracht hatte.
[3] Bremer Nachrichten vom 8.12.1932.
[4] Reportage über die Eiswette in den „Bremer Nachrichten“ vom 22. Januar 1934.
[5] Bereits 1912 gab es auf der Werft ein Konstruktionsbüro für U-Boote. Der Anteil der Marinebauten an den abgelieferten Neubauten betrug in den Jahren 1909/10 bereits etwa 50 %, 1917/18 fast 100 %. Die Werft hatte 1914-1918 ca 6000 Beschäftigte in der Kriegsproduktion. Vgl. Geschichtswerkstatt Gröpelingen – verschiedene Fundstellen im Internet; vgl. wikipedia Stichwort AG Weser am 25.05.2018. Ein großer Aktenbestand der AG Weser wird im Historischen Archiv Krupp der „Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung“ in Essen aufbewahrt. Dort hat man trotz intensiver Recherchen keine Unterlagen gefunden, die Auskunft über die Beziehung zwischen der Werft und der AEG Bremen im Ersten Weltkrieg h ätten geben können. Brief vom 23. August 2018 an den Verfasser.
[6] Alle Zitate aus: „Weser-Zeitung“ vom 15. Februar 1921. Artikel zum 25jährigen Dienstjubiläum Wagenführs bei der AEG Bremen.
Bei der AEG in Hamburg und Bremen
Karl August Johannes (Hans) Wagenführ – so lautet sein erster Namenseitrag in das Bremer Adressbuch von 1907 – wurde am 8. Februar 1871 in Finsterwalde geboren, einem kleinen Ort in der Niederlausitz zwischen Berlin und Dresden, der damals etwa 7000 Einwohner hatte. Er studierte in Berlin, Darmstadt und Stuttgart das Ingenieurfach, wie es damals hieß. Nach Beendigung seiner Studien unternahm er mehrere Reisen in die Vereinigten Staaten, um sein Fachwissen zu vertiefen. 1896 wurde er bei der AEG in Hamburg als Elektro-Ingenieur angestellt, wo er zehn Jahre blieb. 1906 wurde er betraut „mit der Einrichtung der Bremer Abteilung, die zuerst der Hamburger angeschlossen war.“[7]
[7] Aus dem Nachruf in den „Bremer Nachrichten“ vom 8. Dezember 1932.
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Er wurde technischer Direktor und baute sie „zu einer selbstständigen Niederlassung aus, die für Bremen von erheblicher Bedeutung wurde“, wie es in seinem Nachruf hieß.[8] Produziert wurde hier nicht.
1916 bis 1920: jeweils drei größere Anzeigen, u. a. unter „Elektromotoren“.
1922 wird die Niederlassung um ein Lager für Wiederverkäufer in der Kleinen Weidestraße mit Büro in der Bahnhofstraße erweitert.
1926 bis 1928 gibt keinen Eintrag im Adressbuch.
1929 und 1930 erscheinen, wie in den Anfängen 1905, nur noch zweizeilige Anzeigen unter den Rubriken „Elektrische Licht- und Kraftanlagen“ und „Elektrotechnische Bedarfsartikel“. 1931, als man in die Georgenstraße 50/51 umzieht (die heutige Bürgermeister-Smidt-Straße), findet sich, wie 1932, nur noch jeweils eine zweizeilige Anzeige unter der Rubrik „Elektrische Licht- und Kraftanlagen“. Die offensichtliche Einschränkung der wirtschaftlichen Aktivitäten in den zwanziger Jahren dürfte mit der maritimen Abrüstung und den wirtschaftlichen Turbulenzen jener Jahre zusammenhängen.
„U-Boots-Tisch“ im Ratskeller und Eiswette
Wagenführ war seit seiner Ankunft in Bremen regelmäßiger Gast im Ratskeller. Nun ergab es sich, dass in den Kriegsjahren 1914/18 immer wieder junge U-Boot-Kommandanten im Ratskeller ohne rechten gesellschaftlichen Anschluss beim Wein „herumsaßen“. Ihre Boote lagen während der Bau- und Ausrüstungszeit auf der AG „Weser“. Die künftigen Kommandanten waren zur sogenannten Baubelehrung vor Ort, meistens zusammen mit dem künftigen Ersten Wachoffizier (I WO) und dem Leitenden Ingenieur (LI), beide im Rang eines Leutnants zur See oder eines Oberleutnants zur See.[9] Es ergab sich sozusagen von selbst, dass Wagenführ als Stammgast Kontakt zu ihnen aufnahm. Aus diesen Begegnungen entwickelte sich 1915 der „U-Boots-Tisch“ (auch „Wagenführ-U-Boots-Tisch“), der 100 Jahre lang alle vierzehn Tage in der Regel im „Kaisersaal“ des Ratskellers stattfand.
[8] A.a.O..
[9] Diese Informationen haben freundlicherweise Dr. Jörg P. Hardegen und Dr. Helge Strasser dem Verfasser zur Verfügung gestellt, beide Söhne von U-Boot-Kommandanten, die Mitglieder des Stammtischs waren. Walther Strasser, geboren am 28.12. 1889, wurde Anfang 1918 im Rang eines Oberleutnants Kommandant eines U-Bootes (UC 59), Heimathafen Kiel. 1938 wurde er im Rang eines Kapitäns zur See Kommandant des Bremer Wehrbezirksbereichs II. Vgl. Helge Strasser, Kapitän zur See Walther Strasser (1889 – 1976). Ein Lüneburger in der Zeit der Extreme, in: Heimatkalender 2008 für Stadt und Kreis Melzen, S.79 – 92. Reinhard Hardegen, geboren am 18. März 1913, gestorben am 9. Juni 2018 „war „ein deutscher Marineoffizier, Kaufmann und Politiker. Im Zweiten Weltkrieg war er einer der erfolgreichsten und bekanntesten deutschen U-Boot-Kommandanten. Danach gehörte er zu den Gründern der Bremer CDU.“ Wikipedia, Stichwort Reinhard Hardegen vom 19.09.2018.
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Es war ein Männer-Stammtisch, gegründet aus Dank an die U-Boot-Fahrer, zu ihrer Unterhaltung und zur Stärkung des „vaterländischen Gedankens“. Auch spendable Kaufleute waren als Gäste dabei. Man unterhielt einen Flaschenvorrat an gestifteten Ratskeller-Weinen, aus denen reichlich für die Gäste eingeschenkt wurde. Man saß in lustiger Runde um einen großen Tisch und sprach kräftig dem Wein zu. Es gibt ein (verschollenes) Foto, wo die Herren hinter einem gewaltigen Bestand an vollen und leeren Flaschen um den Tisch versammelt sind.[10] Der Ratskeller war vor dem Ersten Weltkrieg das, was in seinem Namen zum Ausdruck kommt: „Wenn am Abend die Feder aus der Hand gelegt wurde, dann begaben sich die beiden Wuppesahls, Vater (Henrich) und Sohn (Carl), hinüber in den Ratskeller, wo sie ihren Stammtisch hatten. Da saßen Senatoren und Kaufleute der Stadt, und bei einem Gläschen Wein wurden die Geschicke Bremens diskutiert und besprochen. … Vor 9 Uhr am Abend trafen die beiden Wuppesahls selten zu Hause ein.“ So steht es in der Firmen-Chronik dieser alteingesessenen und hochangesehenen Bremer Kaufmannsfamilie.[11] Ob man sich beim Abendschoppen oder am „U-Boots -Tisch“ traf, auf jeden Fall werden es die Begegnungen im Ratskeller gewesen sein, die manchen Kaufmann aus der Eiswette-Genossenschaft in Kontakt zu Wagenführ brachten.
Als umtriebiger, fantasievoller Bürger mit großem organisatorischen Talent war er genau der Richtige, um die Eiswette wieder in die Spur zu bringen. 1923 wurde er Mitglied eines dreiköpfigen Komitees, das ihre Wiedererstehung und Neugestaltung organisieren sollte und für die er unermüdlich um neue „Genossen“ warb. 1924 gehörte er zu den Mitgliedern der ersten Stunde, 1928 wurde er ihr Präsident.[12] Die Eiswette war in ihrer Struktur genau auf ihn zugeschnitten: deutschnational in den Rede-Beiträgen, gastfreundlich und heiter in der Atmosphäre, zu der er mit seinen humorvollen und geistreichen Reden erheblich beitrug. In der Stadt war er als „beliebter Tafelredner“ bekannt.[13]
[10] Der Stammtisch wurde fester Bestandteil der Bremer Gesellschaft und blieb es auch nach Wagenführs Tod. Anlässlich des geplanten Hitler-Besuchs in Bremen am 1. Juli 1939 reservierte die senatorische Behörde dem „U-Boots-Tisch“ für Hitlers abschließende Rede in der „Weser-Kampfbahn (heute „Weser-Stadion“) ein Kontingent von 30 Karten der besten Kategorie (T- Tribüne), während für die „Eiswette“ lediglich zehn der einfachen Kategorie „weiß“ vorgesehen waren. Zu den Gruppen und Vereinen, für die Karten reserviert wurden, gehörten u.a. die „Skagerrakgesellschaft“ (60 Karten), die „Tsingtau-Kameradschaft“ (100 Karten), der Club zu Bremen, „Haus Seefahrt“, der „Weser Yacht-Club“ und die „Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ (DGzRS). Vgl. Staatsarchiv Bremen, Senats-Registratur M.2.g. No. 190 vom 22. April 1939.
[11] C.Wuppesahl. Assekkuranz-Makler seit 1858. 125 Jahre Geschichte und Geschichten aufgeschrieben von Hermann Gutmann, Bremen 1983, S.74.
[12] Vgl. zu diesen und den folgenden Ausführungen das Kapitel „Die Hundertjahrfeier in der „Glocke“ 1929; Unterkapitel „Die Eiswette wird öffentlich und deutschnational.“
[13] Nachruf in den Bremer Nachrichten vom 8.12.1932.
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Aber bevor die Eiswettgenossen ihn auf den Schild hoben, gab es – ganz gegen die Tradition – eine geheime Abstimmung. Das genaue Ergebnis ist nicht bekannt und damit auch nicht, wie viele Genossen 1927 noch Vorbehalte hatten gegen den Mann mit der ungewöhnlichen Lebensführung, den Junggesellen, geboren in Finsterwalde, Bewohner einer Mietwohnung und Angestellter eines Industrieunternehmens.[14] Schließlich war er doch „ein guter Bremer Bürger geworden“, wie es im Nachruf der „Bremer Nachrichten“ hieß, der Stadt „stets treu geblieben“, die „zu seiner neuen Heimat“ geworden war. Zu seinem 59. Geburtstag 1930 schickte ihm Eiswettgenosse Senator Heinrich Bömers, einer der wichtigsten Politiker und Kaufleute Bremens jener Jahre, ein Glückwunsch-Telegramm: „Dem hochverehrten und verdienten Geburtstagskinde bitte ich herzlichste Wünsche für viele weitere Jahre erfolgreicher Arbeit in Beruf und Freundeskreis aussprechen zu dürfen.“ Die Eiswette war ihm, neben seinem jährlichen Geburtstagsfest im Ratskeller, zur wichtigsten Feier geworden. „Noch auf dem Krankenlager war die Fortführung der Eiswette eine seiner Hauptsorgen.“[15] Unter den acht Todesanzeigen war die Eiswettgenossenschaft allerdings nicht vertreten.
Die „Wall-Bar“
„Wer sie nicht kennengelernt, kennt Bremen nicht“
Als Wagenführ 1906 mit 35 Jahren nach Bremen kam, bezog er im dritten Stockwerk des bürgerlichen Mietshauses Am Wall 77/78 (kurz vor der Doventorstraße, heute Doventor) eine Wohnung, die er bis zu seinem Tod nicht aufgab. Er stattete sie – nicht nur für damalige Zeiten – ganz ungewöhnlich aus. Die anschauliche Schilderung ihres Interieurs durch einen Zeitgenossen gibt einen Begriff davon, wie sehr Wagenführs Lebensstil sich von dem der bürgerlichen Kreise unterschied, zu denen er aufgrund seiner beruflichen Position eigentlich gehörte: „Die Wände des Eingangs und der Flur waren mit bemalter Leinwand bespannt. Man glaubte, durch ein altertümliches Gässchen zu gehen. Rechts und links waren alte Häuserfronten zu sehen mit Türen und kleinen Fenstern. „Über die Straße“ waren Wäscheleinen gespannt, an denen Babywäsche zum Trocknen hing. Durch eine als große Wohnungstür dargestellte Tür kam man ins Klosett, wo beim Abrollen des Papiers lustige Weisen erklangen. Ein Zimmer war im maurischen Stil gehalten, das eigentliche Wohnzimmer war eine Kajüte. Überall hingen Plakate mit kuriosen Ordnungsvorschriften, aber auch kostbare Bilder.“[16]
Als Wagenführ im März 1914 anfing, ein Gästebuch zu führen, war die Wohnung in seinem großen Freundeskreis schon als „Wall-Bar“ bekannt, in der eine Feier die andere ablöste, im großen und im kleinen Rahmen.
[14] Erst 1970 beschloss das Präsidium der Eiswette unter der Leitung von Karl Löbe (Präsident von 1968-1970), „nicht nur erste Leute ihres Gebietes zu nehmen, sondern auch einmal einen Angestellten, wenn er treu zur Sache stehe und ein guter Bremer sei.“ Aus der Eiswette-Chronik von Karl Löbe, 150 Jahre Eiswette von 1829 in Bremen, Bremen 1979, S. 131/132.
[15] Nachruf in den Bremer Nachrichten am 8. Dezember 1932.
[16] Löbe, a.a.O., S. 116 / 117.
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Wagenführ lud zu Speis und Trank ein. Er war ein äußerst großzügiger Gastgeber. Seine regelmäßigen Besucher nannten sich witzig die „Wall-Barbaren“. Wie verschiedene überlieferte Liedtexte dokumentieren, dürfte auch der Gesang nicht zu kurz gekommen sein.
Exkurs: Die Bremer Gästebücher des Hans Wagenführ
Mit 180 Abbildungen
Einführung
Wagenführ ist heute nur noch wenigen Eiswettgenossen aus der Geschichte ihrer Veranstaltung ein Begriff. Kein Artikel ist ihm in der „Bremischen Biographie von 1912 bis 1962“ gewidmet; sein Name steht nicht im „Großen Bremen Lexikon“ von Herbert Schwarzwälder, noch nicht einmal im Index von dessen fünfbändiger „Geschichte der Freien Hansestadt Bremen“. Auch in Bremer Seglerkreisen kennt man den Namen des einstigen Vorsitzenden und Gründungsmitglieds des Kaiserlichen Yachtclubs Bremen nicht mehr.
Der Nachruf in den „Bremer Nachrichten“ ist eine der wenigen Quellen. Nur in der Eiswette-Chronik zum 150jährigen Jubiläum gibt es noch einen kurzen Abschnitt zu seinem Wirken als Präsident.[17] Die Quellenlage hat sich in jüngster Zeit überraschend erheblich verbessert, als zwei Gästebücher von ihm aus den Jahren 1914 bis 1932 das Licht der Öffentlichkeit erblickten, die nach seinem Tod im Schoß des von ihm 1915 gegründeten „U-Boottischs“ wohlbehütet in einen Dornröschenschlaf versunken waren. Nur äußerlich etwas lädiert das ältere und neu gebunden, beide inhaltlich frisch und unversehrt, sind sie nach 86 Jahren wiedererwacht.
[17] Karl Löbe, 150 Jahre Eiswette von 1829, Bremen 1978, S. 115 – 117. Eine zweite, überarbeite Auflage erschien nach dem Tod des Verfassers 1998. Wir zitieren aus der ersten Auflage.
Seite 19
Es bedurfte des Zusammentreffens glücklicher Umstände und der Entschlussfreudigkeit des „Wagenführ U-Boot-Tischs“, dass die beiden Bände, zusammen mit einem Gästebuch des „U-Boottischs“ von 1996-2015, der wissenschafltichen Öffentlichkeit heute zur Verfügung stehen. Am 10. April 2018 konnte der Leiter des Bremer Staatsarchivs, Professor Konrad Elmshäuser, die drei Bände aus den Händen von zwei Stammtischbrüdern des „Wagenführ U-Boottischs“ in Empfang nehmen.[18]
Schon beim ersten Durchblättern erschließt sich dem Leser, dass hier „einzigartige Dokumente“ (Elmshäuser) vorliegen. Die Vielzahl der Einträge, ihre Diversität und der zeitgeschichtlich Bezug sind eingebettet in das bunte Leben eines Zugereisten, der am Ende noch ein „guter Bremer Bürger“ wird. Um den kaleidoskopischen Charakter der Gästebücher – das unvermittelte Nebeneinander von Dokument und persönlichem Eintrag, von Wichtigem und Banalem, von Ernstem und Heiterem – so weit wie möglich zu wahren, wurde die chronologische Darstellungsform gewählt, auch innerhalb der einzelnen Jahre. Die große Zahl an Reproduktionen soll es dem Leser ermöglichen, in diesen Seiten wie in einem Buch zu blättern.
[18] Sie sind im Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen unter der Signatur 7,1156 archiviert.
Seite 20
Die Darstellung erhebt keinen Anspruch darauf, den Inhalt vollständig zu erfassen. Anmerkungen sollen der sachlichen Klärung und – soweit nötig – der historischen Einordnung dienen. Sie sind als Begleitung für eine intensive Lektüre gedacht. Die 180 Reproduktionen aus den Gästebüchern sind von Joachim Koetzle, Staatsarchiv Bremen und Peter Koester-Oerthel; einige vom Verfasser.
1. Band von März 1914 bis Dezember 1919
1914 Kriegsbeginn / In Russisch Polen bei Bruder Felix / Erste Hilfsaktion
40 Seiten
Erster Eintrag am 31. März 1914 um 2 Uhr früh.
„Wenn ich auch gar nicht dichten kann,
So fang ich trotzdem munter an,
Weil hier ein jeder dichten muss
Mit oder ohne Spiritus!
Was gar nicht schwer bei solchem Feste,
Drum folgt dem Beispiel nun ihr Gäste!“
Auf den folgenden sechs Seiten tragen sich Gäste mit fröhlichen Bemerkungen und ihren Unterschriften ein.
Am 6. Juni trägt ein Gast ein:
„Ich muss hier die Bestätigung geben.
Mein alter Hans versteht zu leben.“
In der Bildmitte Rudolf Weichardt (*1881 Altenburg/Thüringen; + 1961 Bremen), hochdekorierter U-Boot-Ingenieur im 1. Weltkrieg. Er wurde im österreichischen (k.u.k) Kriegshafen Pola eingesetzt, wo die U-Flottille Mittelmeer der kaiserlichen Marine stationiert war. Wegen der englischen Präsenz auf Gibraltar war eine Durchfahrt ins Mittelmeer nicht möglich. Deshalb wurden die auf der AG „Weser“ gebauten U-Boote wieder auseinandergenommen, mit der Eisenbahn durch Ungarn transportiert und in Pola wieder zusammengesetzt. Sie waren an der Schlacht um die Dardanellen im Frühjahr 1915 beteiligt. (Alle Informationen von Rolf Marx, Murnau, Enkel von Weichardt am 23.12.2023)
[19] Das Telegramm mit der Attentats-Nachricht erreichte den Kaiser auf der Staatsyacht „Hohenzollern“, auf der er traditionell während der Kieler Woche wohnte, am frühen Nachmittag des 28.Juni. Die Regatten wurden fortgesetzt, und auch das englische Geschwader, das zu einem Freundschafts-Besuch gekommen war, verließ wie geplant die Kieler Förde erst am 30. Juni, dem letzten Tag der Veranstaltung. Die geplanten Festlichkeiten im Kieler Schloss sagte man hingegen ab. Wilhelm II. reiste schon am frühen Morgen des 29. Juni mit dem Zug nach Berlin ab.
Seite 21
Auf der nächsten Seite ist schon Krieg. Wagenführ hat am Sonntag, dem 22. August, zu einem „Kriegskaffee“ eingeladen. Text oben: „Es war mal wieder sehr schön.“ „Stimmt!“ 5 Unterschriften.
Eintrag am 25. August : „Ich möchte einmal hier sein, wenn unser liebes Vaterland wieder im tiefsten Frieden sich befindet.“
Auf den folgenden zwanzig Seiten sind zahlreiche Fotos mit posierenden Offizieren oder Offiziers-Gruppen zu sehen, seltener auch Mannschaften, alle offensichtlich in guter Stimmung. Am 10. Dezember empfängt Wagenführ eine Verwundeten-Gruppe in seiner Wohnung. Auf einer Seite ist das Portrait des Kaisers eingeklebt, unter dem sein Ausspruch vom 26. 8. 1914 steht: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Es ist die Rückseite einer „Deutschen Kriegskarte von 1914“, die Wagenführ als Postkarte erreicht hatte.
[20] Der erste große Angriff des deutschen Heeres auf das neutrale Belgien galt Lüttich, der strategisch wichtigen Industriemetropole, in deren Umgebung zwölf Festungen den Vormarsch der Deutschen in Richtung Frankreich stoppten. Es wurde vom 4. bis 16. August beschossen. Am 15. August brach das wichtige Fort Loncin unter Beschuss der „Dicken Bertha“ zusammen und begrub 350 Soldaten unter sich. Am 20. August hatten die deutschen Truppen Brüssel erobert. Vgl. www.sueddeutsche.de/politik/erster-weltkrieg-in-belgien-deutschlands-folgenschwerer-ueberfall-1.1908899 vom 1.05. 2018.
Seite 22
Zwei seiner jüngeren Brüder, Georg und Felix, sind zum Kriegsdienst eingezogen. Georg ist als „Kriegsmaler“ mehrere Monate an der Front auf der türkischen Halbinsel Gallipoli.[22]
[21] Wagenführ hatte seinen Militärdienst bei der Marine abgeleistet, war aber bei Kriegsausbruch mit 43 Jahren zu alt für den Militärdienst.
[22] Die Schlacht von Gallipoli vom 19. Februar 1915 bis zum 9. Januar 1916. Sieg des Osmanischen Reiches mit den verbündeten Deutschen im Kampf um die Dardanellen gegen Großbritannien und Frankreich. Es gab 100.000 Tote und 250.000 Verwundete. Vgl. Wikipedia Stichwort Schlacht von Gallipoli am 3.04.2018.
Seite 23
Hauptmann Felix ist Berufsoffizier und „alter Südwestkämpfer.“[25] Am 19. Dezember fährt Hans Wagenführ mit dem Zug von Bremen nach Lowicz, etwa 80 Kilometer vor Warschau. Er hat eine Strecke von 850 Kilometern zu überwinden. Sein Passierschein bestätigt, dass er „als Oberingenieur der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft“ unterwegs ist zur Feldfliegerabteilung 30 des II. Armeekorps in Lowicz/Russisch Polen, die im alten Schloss der polnisch-litauischen Fürstenfamilie Radziwill einquartiert ist.
[23] Der militärische Auftrag von Feldfliegern war die Aufklärung. Sie nahmen nicht an Kampfeinsätzen teil.
[24] Russisch Polen wurde im Sommer 1915 von Deutschland und Österreich besetzt und bis 1918 als Generalgouvernement Warschau verwaltet.
[25] So titulierte ihn ein Kriegsberichterstatter in einer langen, offensichtlich für die Truppen gedachten Reportage von den Feldfliegern in Lowicz vom 7. Januar, deren Quelle nicht genannt wird, die aber den Vermerk trägt: „Nachdruck verboten“. Ihr Titel: „Jahreswechsel an der Front in Polen. Bei den Fliegern.“ Zeitgleich ist eine zweite Reportage zum gleichen Thema in das Album geklebt, die sich an das allgemeine deutsche Publikum wendet. Auch sie ist ohne Quellenangabe. Auf sie wird unten noch eingegangen
Seite 24
Im Gästebuch findet sich eine Kriegsreportage vom 7. Januar 1915 über die Feldflieger von Lowicz (ohne Angabe des Zeitungsnamens). Sie trägt den Titel „Im Fliegerheim“ und stellt das Schloss Arkadja, in dem die Abteilung untergebracht ist, in den Mittelpunkt.[26] Da der Reporter aus Geheimhaltungsgründen den Namen nicht nennen darf, wie er seinen Lesern mitteilt, begnügt er sich mit der Andeutung, dass ein berühmtes polnisches Fürstengeschlecht mit dem Anfangsbuchstaben „R“(adziwill) hier residiert hätte.
Die Russen hätten es in einem erbarmungswürdigen Zustand hinterlassen, aber nun sei es durch die deutschen Truppen ordentlich für Offiziere und Mannschaft der Feldfliegerabteilung des Hauptmann Wagenführ hergerichtet. Die Reportage endet fast poetisch: „In diesem in die Einsamkeit hineingebauten Heim eines schönheitstrunkenen Träumers haben unsere Flieger Weihnachten verlebt. Der Bruder des Abteilungsführers hatte die Reise von Bremen bis vor Warschau nicht gescheut, um, mit Schätzen reich beladen, in Feindesland das Fest des Friedens zu verbringen, während ein paar tausend Meter weiter vorwärts die russischen Granaten einschlugen“. Wagenführ hat die Reise nach Lowicz nicht nur seines Bruders wegen angetreten. Es ist seine erste Soldaten-Bescherung.
[26] Der Ober-Titel ist: „Ein Schloss in Polen.“ Autor ist ein Hauptmann a.D.
Seite 25
Wagenführ erhält von Bruder Felix einen Dankesbrief für die Weihnachtspakete, die er von Bremen nach Lowicz mitgebracht hatte. Der Brief ist in gedruckter Form im Gästebuch, nicht im Original:
„Durch Ihre Liebenswürdigkeit sind meiner Feldflieger-Abteilung 80 aufs zweckmäßigste zusammengestellte Liebesgaben-Pakete zugegangen. Einen Teil davon habe ich am Weihnachtsabend in die vor uns liegenden Schützengräben der 4. Division gelangen lassen. Mit dem Rest habe ich meinen Mannschaften eine große Weihnachtsfreude bereiten können. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie meinen und meiner Leute aufrichtigen Dank den gütigen Spendern übermitteln würden. Mit vorzüglicher Hochachtung – Wagenführ – Hauptmann und Führer der Feldfliegerabteilung. Arkadja bei Lowicz, den 3.1.1915.“ Es hat den Anschein, dass der Brief zu einem doppelten Zweck verfasst wurde: in der Lokalpresse zu erscheinen und den Spendern mitzuteilen, was aus ihrer Hilfe geworden war.[27] Der familiäre Aspekt der Aktion musste deshalb zurücktreten und machte Platz für die Anrede mit „Sie“. Die Namen der Spender werden nicht genannt.
Auch zum Gelingen der Silvesterfeier in Lowicz, an der er selbst nicht teilnimmt, hat Wagenführ mit einer Spende von großen Mengen Bier beigetragen.
[27] Da auf der Rückseite des Textes Reklame abgedruckt ist, handelt es sich offensichtlich um einen Zeitungsausschnitt. Angaben über Ort und Datum fehlen.
Seite 26
Das ist ein weiterer Grund dafür, dass er als Zivilist von seinem Bruder und Hauptmann Felix zum Abteilungsmitglied der Feldflieger „à la suite“ [28] gestellt wird. Dies teilt ihm Felix mit folgendem Gedicht mit.
„Wir feiern hier auf Feindeswacht
die heutige Silvesternacht,
die nie so schwer für Deutschland war,
wie gerade jetzt in diesem Jahr.
Sieg, dreimal Sieg woll’n wir erfleh’n
für uns’res Vaterlands Besteh’n.
Zum Sieg der Wille ist vorhanden,
dazu hast du es noch verstanden,
mit edlem Bier uns einzuheizen,
damit mit Ehrgeiz wir nicht geizen.
Sei drum aufs Herzlichste bedankt.
Und wenn dies Schreiben angelangt,
ist zwar der Gerstensaft versiegt,
doch deine Liebe, ja die wiegt
viel höher als die Schwierigkeiten,
die uns in manchem Kampf begleiten.
Indes wir woll’n sie dir vergelten,
indem wir à la suite dich stellten
In all‘ Gefahr und aller Not
mit uns zusammen bis zum Tod!
Du gehörst jetzt der Abteilung an.
Hoch lebe der Reservemann!“ Felix Wagenführ
[28] Der „à la suite“ Gestellte wird einem Truppenteil zugeordnet, hat aber keine militärische Aufgabe und ist auch nicht in die Befehlsstruktur des Truppenteils eingegliedert. Er nimmt in der Regel Aufgaben in der Verwaltung oder der militärischen Leitung wahr und ist zum Tragen einer Regimentsuniform berechtigt. Vgl. wikipedia, Stichwort „à la suite“ vom 29.04.2018. À la suite ursprünglich: être à la suite de la cour : zum Gefolge des königlichen Hofes gehörend.
Seite 27
1915 Zweites Kriegsjahr / Eisernes Kreuz für Bruder Felix / Deutscher Einmarsch in Belgien / Kriegseuphorie
100 Seiten
Das ganze Jahr hindurch geben sich die Gäste die Klinke in die Hand.
Ein Gast notiert in übergroßen Lettern quer über die Seite am 25. Februar 1915: „Hier gibt’s viel zu fressen (aber noch mehr zu trinken) Hochachtungsvoll“.
27. März. Ein Lob-Gedicht
„Wallbar
In Bremen angekommen
Wurden wir hier in Empfang genommen.
Der Schnäpse Zahl,
Ganz ohne Wahl
Machte uns schwer
Den Abschied sehr!
Wir mussten fort
Vom gastlichen Ort
Und wenn wir auch gehn
Auf Wiedersehen!“
Im Dezember schreibt ein Gast:
„Schon wieder mal bei Wagenführ
War ich mit Onkel Berten hier.
So einen Ausflug bis nach Bremen
Lass ich mir um den Tod nicht nehmen.
Man lernt hier nette Leute kennen
Und kann sich dann nur ungern trennen.
Drum ist der Wunsch auf Wiedersehen
Hier stets aus Herzensgrund geschehen
Und gerne stets in jedem Falle
Kommt man zurück zur Bar Am Walle.
Auf Wiedersehen!“
Für viele Offiziere wird die Wall-Bar eine Anlaufstation. Am 8. Dezember bedankt sich ein Offizier auf Urlaub aus Flandern: „Die erste wirklich frohe Stunde in der Heimat nach 14 monatlichem Aufenthalt in Feindesland.“ Der Krieg drückt sich im Laufe des Jahres gewissermaßen als Blaupause durch die Feiern. Viele Einzelaufnahmen von stolzen und posierenden Offizieren finden sich auf den nächsten Seiten.
April 1915; Hindenburg allein als Mittelpunkt einer ganzen Seite
Der erste Tote wird beklagt. Auf einem Foto ist ein Fähnrich zur See in schmucker Uniform mit Säbel zu sehen, der am 24. Januar an Bord der „Blücher“ gefallen ist. Es sind Fotos dabei von abmarschbereiten Truppen in der Kaserne, von Soldaten im Feld hinter einem Maschinengewehr und im Schützengraben.
Eines zeigt einen Soldatenfriedhof.
Auf einem Foto steht Wagenführ neben einem Freund, der einen nagelneuen Uniform-Mantel trägt. Darunter steht: „Ich finde keine Worte – Auf dem Weg zur Front! 7. Mai 1915. W.“
26.6. Ein Abiturient als Gast: „… und los geht das kriegerische Jagen.“ Verse über eine ganze Seite
Text:
„Hier habe ich so manches liebe Mal
Als fleißiger Pennäler gesessen.
Heut war ich ich hier zum letzten Mal
Ein „Mulus“[29] geworden indessen.
Heut Morgen hab ich im Kriegsabitur
In schweren Nöten gesessen.
Hier hat begonnen die Radikalkur
Von den eingepaukten Blechen (?)
Bis jetzt hab ich die Schulbank gedrückt
An manchen schwülen Tagen,
Jetzt heißt’s „Auf die Protzen[30] gedrückt!“
Und los geht das kriegerische Jagen.
Pereat Britannia et ignavi canes!
Pereat Italia et qui illam regit!
Vivat nostra patria et nostri regentes!
Vivat auch Hans Wagenführ et quod illam regit![31]
Derselbe Verfasser schreibt am 29.6. :
« Hurra ! Hurra ! Das war mal was!
Wir hatten alle mächt’gen Spaß!
[29] Mulus war bis ins 20. Jahrhundert hinein in Deutschland die Bezeichnung für einen Abiturienten in der – für ihn recht angenehmen – Zwischenzeit, wenn er nicht mehr zur Schule ging, aber noch nicht auf einer Universität immatrikuliert war.
[30] Die Protze ist ein einachsiger Karren, der zum Transport eines Geschützes mit der Lafette verbunden wird. Die Pferde werden vor der Protze eingespannt. Durch die Einführung der Protze wird aus dem instabilen einachsigen Geschütz eine stabile Transporteinheit. Geichzeitig konnte auf der Protze ein begrenzter Munitionsvorrat mitgeführt werden. „Auf die Protze gedrückt“ soll dem Sinn nach wohl heißen: „Auf die Tube gedrückt!“
[31] Die letzte Strophe: „Möge Britannien mit den feigen Hunden untergehen! Möge Italien mit seinen Herrschern untergehen! Es lebe unser Vaterland mit unseren Herrschern! Es lebe auch Hans Wagenführ und dass er herrschen möge!“
Seite 28
[32] „In Bremen stellte man 1915 im Winkel zwischen Altem und Neuem Rathaus, am sogenannten Grasmarkt, eine hölzerne Rolandstatue unter einem tempelartigen Baldachin auf, den „Eisernen Roland“. Die Eröffnungsfeier fand am 15. Juli 1915 statt. Am 14. Oktober 1915 wurden links und rechts noch zwei erbeutete Kanonen aufgestellt. Gegen eine Zahlung konnte der Roland mit eisernen, silbernen oder goldenen Nägeln benagelt werden. Überwiegend wurden eiserne Nägel zu 10 Pfennig das Stück eingeschlagen. Jeder Spender erhielt eine Bescheinigung vom Zentral-Hilfs-Ausschuss Bremen.“ Zitat aus www.bremen-history.de/schlagt-mir-naegel-in-die-lenden/ am 29.05.2018
Seite 29
Handschriftliche Anmerkung: „Schwarz zieht siegreich in Turnhout ein. [33]
[33] Berlin, 1. Oktober 1914. „Auf der Grenze des holländischen Brabant hörte man in den letzten Tagen oft das Knattern von Gewehrfeuer; deutsche Truppen sind bis auf einige Kilometer von Turnhout vorwärts gezogen.“ … „In Breda sind jetzt alle Hotels und Pensionen voll von Flüchtlingen, und täglich treffen neue Scharen ein. Aus Turnhout wird gemeldet, daß die Deutschen versuchen, alle jetzt noch im Felde befindlichen belgischen Truppen in den Kreis der Antwerpener Forts zurückzutreiben, um alsdann die Belagerung von Antwerpen durchzuführen. Von drei Seiten rücken die Deutschen nach Antwerpen vor: im Westen bei Aalst, das von seinen Bewohnern verlassen ist, und bei Dendermonde, im Süden aus der Richtung Mecheln, während sie im Osten versuchen, den Durchgang bei Turnhout zu erzwingen.“ Zitiert bei www.stahlgewitter.com unter „Der Weltkrieg am 1. Oktober 1914“.
[34] Die liberale Berliner „Vossische Zeitung“ übernimmt am 30. September einen Bericht des „Flandre liberale“, der „ein anschauliches Bild vom Bombardement in Mecheln“ gibt: „Ganz unerwartet begann am Sonntag Morgen um 8 Uhr das dritte Bombardement mit gewaltigen Geschossen, die entsetzliche Verwüstungen anrichteten. Gegen Mittag war es unmöglich, länger in der Stadt zu bleiben; alles suchte zu flüchten. Die Wege waren aber durch Trümmerhaufen vielfach gesperrt. Selbst in den Kellern war man nicht sicher, so stark war die Kraft der Geschosse, die mannshohe Breschen schlugen. Viele öffentliche Gebäude verbrannten, viele Personen wurden auf der Flucht getötet. Vierzehn Personen wurden unter den Trümmern eines Kaffeehauses begraben.“ Aus einem deutschen Heeresbericht vom 1. Oktober 1915. Zitiert bei www.stahlgewitter.com unter „Der Weltkrieg am 1. Oktober 1914“. „Unter akutem Zeitdruck gingen die Deutschen mit großer Brutalität vor. In jenem August 1914 wurden mehr als 5000 Zivilisten ermordet. Eine Reihe von Orten wie Battice, Herve oder Visé wurde erst nach der Eroberung in Schutt und Asche gelegt. In Dinant wurden 674 Menschen – Kinder und Greise eingeschlossen – bei Massenexekutionen getötet. www.sueddeutsche.de/politik/erster-weltkrieg-in-belgien-deutschlands-folgenschwerer-ueberfall-1.1908899 vom 1.05. 2018.
Seite 30
Im Laufe des Jahres stehen immer mehr U-Boot-Offiziere im Mittelpunkt der Fotoserien. Im Juli sind Mitglieder der U-Boot-Besatzung von U 35 zu Gast in der Wall-Bar. Das beigefügte Foto zeigt eine entspannte Mannschaft.
[35] Ziel der Ballonabwehr waren zunächst nicht gegnerische Flugzeuge, sondern feindliche Aufklärungsballone oder Militärluftschiffe, daher setzte sich anfänglich die Bezeichnung BAK für Ballonabwehrkanone durch. Im Laufe des Krieges wurden die Geschütze zur Abwehr feindlicher Flugzeuge eingesetzt und mit Erlass des Kriegsministeriums vom 31. Mai 1916 in Flak (Flugzeugabwehrkanone) umbenannt. (Im Gästebuch findet sich auch die Schreibversion „F.L.A.K.“) Vgl. wikipedia Stichwort www.geschichtsspuren.de/forum/flak- im-1-weltkrieg-t4742.html. vom 26.04.2018
Seite 31
In der mittelalterlich-herrschaftlichen Diktion nachempfundenen Scherz-Urkunde wird Wagenführ u.s. der Auftrag erteilt, „sich bei jedem Besuch in der Wall-Bar tapfer und unverweislich (zu) verhalten, wie es seiner Eidespflicht gemäß ist … Es wird ferner erwartet, dass er den Offizieren der Ballonabwehr Batterie in unverbrüchlicher Treue ergeben bleibe und ihnen die ihnen obliegenden Pflichten gewissenhaft erfüllen werde.“ Unterschrift: Ober, „Reichsabwehrkanzler“.
16. November 1915 / Der „Übergang“ im Gästebuch von den Fliegern zu den U-Booten.
Der Text
Hans Wagenführ, der Wallbar Zier.
Auch gut gefällt’s uns ohne dir
in deinen uns so lieben Räumen,
wenn wir beim Weihnachtsbaume träumen,
wie gut es wäre, wenn der Krieg,
gekrönt mit einem vollen Sieg,
zu Ende wär, und wir zu Haus
bei einem guten Karpfenschmaus.
Doch hat dein gutes Herz bewahrt
Vor Einsamkeit, die uns geharrt.
Wir loben jetzt Frau Böhtkes Kunst
Und deinen Rheinwein, ganz umsunst.
Zum Schlusse wollen danken dir,
dem guten Freund, Hans Wagenführ
Die Ballon-Abwehr-Batterie
Hauptmann Ober
1916 Drittes Kriegsjahr / Geschützführer-Zeugnis 1. Klasse / Der „Killer“ von Lord Kitchener / Feier in der Wallbar zur Indienststellung von U 51 – AG „Weser“
72 Seiten
Im Februar nimmt Wagenführ an einem Lehrgang als Geschützführer 1. Klasse auf der S.M.S. (Seiner Majestät Schiff) „Wiesbaden“ der Kaiserlichen Marine teil und schließt ihn „mit vorzüglichem Ergebnis“ ab. Seine Schießleistungen: Selbstständiges Schießen: treffsicher, besonders mit dem Heckgeschütz; Nahschießen: noch treffsicherer; Unterricht: mustergültig; Exerzieren: vorbildlich: Er erhält die Berechtigung zum Tragen des Geschützführer-Abzeichens 1. Klasse.
Eintrag am 15. 2.
„3 Tage war ich köstlich hier
Bei unserm lieben Wagenführ.
Und wenn der Kutscher noch so schimpft,
War‘ s herrlich doch bei Wagenfünft.“
Eintrag am 15.3.: „Um ein Tausendundeinenacht-Erlebnis bin ich heute reicher geworden.“
Text oben:
Die ich mit Linien hier umrändert,
die haben alle sich so ganz verändert,
Stift und Papier war’n wie gewöhnlich und dennoch ist sich keiner ähnlich, – ?
Manch einer wurde manchmal gut getroffen –
Sollt‘ aber Einer nur das auch von mir erhoffen,
Der tät mir leid, und ich gesteh‘ ihm offen,
Den hielt ich noch vom letzen Mal für rettungslos besoffen.
E.K.
[36] Herbert Kitchener, 1. Earl Kitchener (24. Juni 1850 bis † 5. Juni 1916 Nordatlantik westlich der Orkney), war ein britischer Feldmarschall und Politiker. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde er Kriegsminister und stellte mit dem berühmten Slogan “Lord Kitchener Wants You“ die so genannte Kitcheners Armee. Am 5. Juni 1916 begab er sich an Bord des Panzerkreuzers HMS Hampshire auf eine diplomatische Mission nach Russland. Die HMS Hampshire verließ den Hauptstützpunkt der britischen Flotte Scapa Flow durch den Hoy Sound. Wenig später lief sie westlich der Orkney auf eine Mine, die vermutlich am 23. Mai vom deutschen U-Boot U 75 unter Kurt Beitzen gelegt worden war und sank binnen 15 Minuten. Von der 655 Mann starken Besatzung überlebten lediglich 12. Unter den Getöteten befand sich neben dem 65-jährigen Kitchener auch ein großer Teil seines militärischen Stabs.
[37] Kurt Beitzen (21. Mai 1885 bis 1918 auf See bei Orkney), Kapitänleutnant, U-Boot-Kommandant, EK I und EK II. Er trug nacheinander das Kommando über U 75, U 98 und U 102. Beitzen führte Handelskrieg im östlichen Nordatlantik und versenkte elf Handelsschiffe kriegführender Mächte, aber auch neutraler Staaten, mit einer Gesamttonnage von über 15.000 BRT. Im September 1918 lief Beitzen mit U 102 zu seiner letzten Feindfahrt in die Gewässer um die Orkney-Inseln aus. Das Boot lief auf eine Mine in der „Northern Barrage“, einem ausgedehnten Sperrgürtel um die Orkney- und Shetlandinseln. Das Wrack wurde inzwischen gefunden. Es liegt östlich der Orkneyinseln. Vgl. ,https://de.wikipedia.org/wiki/U-Boot und Wikipedia Stichwort Kurtz Beitzen am 24.05.2018.
Seite 32
Text auf der Gästebuch-Seite unten:
Dem U-Bootsvater einen dankbaren Gruß. Ein Schüler des guten Kuddel (gemeint wohl Kurt Beitzen). Pauli, Kapitänleutnant und Kommandant U 119 [38]
[38] SM U 119 war ein diesel-elektrisches Minen-U-Boot. Es wurde am 20. Juni 1918 in Dienst gestellt. Das Boot war der I. U-Flottille in Helgoland zugeordnet. Erster und einziger deutscher Kommandant war Kapitänleutnant Edmund Pauli. U 119 führte eine Unternehmung durch. Dabei wurde kein Schiff versenkt oder beschädigt. https://de.wikipedia.org/wiki/SM_U_119 – cite_note-3 Am 24. November 1918 wurde U 119 als Kriegsbeute an Frankreich ausgeliefert. Vgl. .https://de.wikipedia.org/wiki/SM_U_119 – cite_note-4 Wikipedia SM U 119 am 24.05.2018.
Seite 33
Der Text im oberen Teil
Lieber Wagenführ, endlich haben wir jemand aus Bremen hier, nur Sie fehlen! Obiges Bild zeigt Klarmachen U 70 zur Fahrt durch den I.W.O. (Ersten Wachoffizier) in Emden[39]. Herzlichst Ihr alter Emil Wünsche.“[40] Zahlreiche weitere Grüße und Unterschriften.
[39] Die Kaiserliche Marine nutzte Emden als Kriegshafen, dort lagen Torpedoboote und U-Boote vertäut. Vgl. Wikipedia, Stichwort „Emden zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs“ vom 4.04.2018.
[40] Otto Wünsche (28.9.1884 bis 29.3.1919), Kapitänleutnant, hatte ab 9. Mai 1914 das Kommando über U 25, das er über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs hinaus kommandierte. Anschließend kommandierte er bis September 1917 U 70 und dann bis Januar 1918 U 97. Er versenkte 76 Schiffe mit zusammen 152.340 BRT und beschädigte sechs weitere Schiffe mit 25.317 BRT. Er war Träger des Eisernen Kreuzes beider Klassen und des Ritterkreuzes des Königlichen Hausordens Hohenzollern. Am 20. Dezember 1917 erhielt er die höchste preußische Tapferkeitsauszeichnung, den Orden Pour le Mérite. Im letzten Kriegsmonat war er noch bis zum 11. November 1918 Kommandant von U 126. Er starb am 29. März 1919 auf dem Krankenlager. Vgl. Wikipedia, Stichwort Otto Wünsche (Marineoffizier) vom 1.05.2018.
Seite 34
Von April bis Oktober finden sich mehrere ausgeschnittene Zeitungsmeldungen über die Tonnage versenkter Schiffe im Sperrgebiet um die Küsten Englands.
Ein Foto der zwölf Offiziere vom SMS „Moewe“. Kapitänleutnant W. schreibt: „In tiefer Dankbarkeit.“. Die Herren lassen ein schwarzes Mützband mit goldenem Aufdruck da, das ins Gästebuch eingeklebt wird.
Es folgen viele Soldatenfotos mit Trinksprüchen und drei Kriegsberichte über Tonnenversenkungen von 20.000, 21.000 und 32.000 Tonnen.
[41] S.M.S. U 61 war ein diesel-elektrisches U-Boot. Es lief am 22. Juli 1916 bei der AG Weser vom Stapel und wurde am 2. Dezember 1916 in Dienst gestellt.
[42] Vgl. die Zahlen zur U-Boot-Produktion auf der AG Weser im einleitenden Kapitel.
Seite 35
Die Speisenfolge
[43] Victor Dieckmann war der erste und einzige Kommandant von U 61. Er führte neun Feindfahrten in der Nordsee und Biskaya, sowie im angrenzenden östlichen Nordatlantik durch. Dabei wurden insgesamt 34 Handelsschiffe der Entente und neutralen Staaten mit einer Gesamttonnage von 84.861 BRT versenkt. Das größte von U 61 versenkte Schiff war der britische Passagierdampfer Etonian mit 6.515 BRT. Vgl. .https://de.wikipedia.org/wiki/SM_U_61 – cite_note-5 Die Etonian wurde am 23. März 1918 angegriffen. Dabei gab es sieben Todesopfer. Drei Tage nach der Versenkung der Etonian, am Abend des 26. März 1918, fuhr U 61 aufgetaucht durch den St.-Georgs-Kanal in die Irische See. Das britische Patrouillenboot PC 51 sichtete es und warf drei Wasserbomben auf das tauchende U-Boot. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/SM_U_61 – cite_note-8 Alle 36 Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Vgl. wikipedia Stichwort SM U 61 am 24.05.2018.
Seite 36
Am 21. Dezember wird Wagenführ aus Warschau ein lebendes Ferkel geschickt, begleitet von einem dreieinhalb Seiten langen selbstverfassten Gedicht. Der Verfasser war überraschend an die Ostfront geschickt worden.
Auszug:
„Lieber guter Wagenführ!
…
Über Nacht, eh ich’s gedacht.
… weiter in das Polenland,
wo ich viel zu essen fand.
Schweine, Butter, Gänse, Tauben
Ohne Marken, kaum zu glauben.
… dachte ich an euch dabei
Denn ich finde, in der Bar
Fehlt solch Kriegsschwein noch fürwahr.
Drum nach allerbestem Wissen
Hab‘ nen Juden ich besch…,
Kaufte ab ihm dieses Schwein,
das jetzt soll dein Haustier sein.
…
Fütt’re dieses Polenschwein,
Was hineinwill, steck hinein!
Und wir schlachten dann das Schwein
Kackfidel beim Glase Wein.
Ein Wallbarbare
Ordentlich einklariertes Mitglied“
62 Seiten
Bremerhaven 17.1.17 Ausfahrt von UC 6210. Unterschriften, darunter Hans Wagenführ
Feier in der „Wall-Bar“ am 24. Januar
Am 8. Februar 1917 feiert Wagenführ seinen Geburtstag zum ersten Mal im Bremer Ratskeller als Präsident einer „außerordentlichen Sitzung der Wallbarbaren.“ Das Bild füllt die ganze Seite aus. Es ist nicht von Carl Stock, wie die meisten Zeichnungen, sondern von einem W.P.
Das „Wall-Bar-Lied“ vom 22. Mai 1917
(Wall)Bar-Lied
nach der Melodie „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins.“
1. Strophe
Wenn des Nachts um halber zehne
Mond und Stern‘ am Himmel steh’n,
Ach, dann sieht man ganz alleene
Menschen jetzt nach Hause geh’n!
Weil das Generalkommando
Gas- und Bierhahn abgedreht,
Darum spielt er den Soliden
Und legt sich ins Bett!
Glücklicher die Wallbarbaren!
Schlägt es zehn,
Sieht man sie zur Wallbar fahren,
Schleichen still drei Treppen rauf
Bis zur Wallbartür
Leise machet Gustav[44] auf
Oder Wagenführ!
Refrain
In der Wallbar des Nachts um halb zwei
Geht es los mit Juchhe und Juchhei!
Alles singt und lacht
Und im Lauf der Nacht
Wird auch mancher besoffen dabei“
2. Strophe
Zapfenstreich und Kriegsgesetze
Gibt es in der Wallbar nicht.
Hannes liefert Bier und Schnäpse
Nur die A.E.G. das Licht.
Also kommt es, dass bisweilen
Tag und Nacht das Haus erdröhnt,
denn die armen Mitbewohner
Sind an Krach gewöhnt!
Und man trinkt an kleinen Tischen
Milden Wein.
Süsse kleine Mädchen mischen
Ihren lauten Jubel ein.
Ab und zu geht Wagenführ
Raus auf den Balkon
Und brüllt runter: „Der Schlüssel zur Tür,
Er kommt ja schon.!“
3. Strophe
Auch dem bremischen Senate
Ist die Wallbar wohlbekannt,
Mannigfache Strafmandate
Hat man schon dorthin gesandt!
Weil das Wohl am Bremer Staate
Einem sehr am Herzen liegt,
Scheut man diese Strafmandate
In der Wallbar nicht!
Gern bezahlt man seinen Taler,
Hängt drauf ,
Wie die Werke großer Maler,
Solch Mandat im Rahmen auf!
Auf die Rückseit‘ klebt man dann
Ein charmantes Weib,
So sorgt Hannes, der freundliche Mann,
Für Zeitvertreib!
[44] Gustav Ober, Stammgast und Freund von Wagenführ; Hauptmann, Chef der Bremer Ballon-Abwehr-Batterie; ab Mai 1916 F.L.A.K.-Batterie genannt.
Seite 37
Es folgt eine 4. Strophe und die Widmung: Dem lieben Wagenführ in alter Frische und Treue. A.H., 22. Mai 1917.
[45] Steckrübensommer“ – die Fortsetzung des sogenannten Steckrübenwinters 1916/17 in das Frühjahr 1917 hinein, eine Hungersnot, die durch Missernten und die britische Seeblockade ausgelöst worden war. Die Bevölkerung musste teilweise durch Suppenküchen notdürftig versorgt werden. Im Frühjahr 1917 sank die Versorgung mit Lebensmitteln auf ihren Tiefpunkt. Erst die Ernte im Herbst brachte eine leichte Verbesserung. Vgl. Wikipedia Stichwort „Steckrübenwinter“ vom 10.05.2018.
[46] Zu Ehren der in der Skagerrag-Schlacht Gefallenen fand am 31. Mai, dem ersten Jahrestag, eine Gedenkfeier auf dem Ehrenfriedhof in Wilhelmshaven mit über 1000 Soldaten statt. Die Seeschlacht vor dem Skagerrak war die größte Seeschlacht des Ersten Weltkrieges zwischen der deutschen Hochseeflotte und der Grand Fleet der Royal Navy vom 31. Mai 1916 bis zum 1. Juni 1916 in den Gewässern vor Jütland. Sie war die größte Flottenschlacht zwischen Großkampfschiffen. Sie änderte nichts an der strategischen Ausgangslage, was es der Royal Navy ermöglichte, die Seeblockade bis zum Ende des Krieges aufrechtzuerhalten. Vgl. www.forum-marinearchiv.de/smf/index.php?topic=24719.45 und Wikipedia Stichwort „Skagerrakschlacht“ vom 10.05.2018.
Seite 38
Eintrag am 6. Juni 1917: „Mit herzlichem Danke scheide ich nach dieser höchst netten amüsanten Begegnung, leider noch zu früh am Tage, kurz vor dem wichtigen Siege.
„Und dann, mein Kind, verzage nie.
Fest steht die deutsche Infanterie
wie Roland der Riese in Bremen.
Bis deutsche Helden, todgeweiht,
das Meer von seiner Last befreit
und bringen Freiheit ? – (unleserlich)“
„Also doch!“
A. von H., Hauptmann“
20. 07. Bremerhaven. „Ausklarierung U 103“. Auf dem eingeklebten postkartengroßen Karton findet sich neben den Unterschriften des Kommandanten Claus Rücker[47] und weiteren 12 U-Bootfahrern die Signatur von Hans Wagenführ.
[47] Claus Rücker (1883 – 1974), 1913 Kapitänleutnant, 1920 Korvettenkapitän; versenkte 80 Schiffe mit 174.655 BRT und beschädigte 3 Schiffe mit 9.551 BRT; EK I und II, Orden des Hauses Hohenzollern; von Oktober 1914 bis Dezember 1916 Kommandant von U 34, von August 1917 bis Mai 1918 von U 103; Vgl. uboat-net., Stichwort „Claus Rücker“ am 22.05.2018. U 103 lief am 9. Juni 1917 bei der AG Weser vom Stapel. Ab August 1917 war das Boot, dessen einziger Kommandant Rücker war, der II. Flottille in Helgoland und Wilhelmshaven zugeordnet. Das Boot führte während des Ersten Weltkriegs fünf Unternehmungen im östlichen Nordatlantik durch. Dabei wurden sieben Handelsschiffe versenkt. Im Mai 1918 bildete U 103 zusammen mit U 46, U 55, U 70 und U 94 eine Kampfgruppe, die einen Geleitzug im westlichen Ärmelkanal angreifen sollte. In der Nacht auf den 12. Mai 1918 wurde U 103 im Kanal von dem britischen Passagierschiff Olympic gesichtet, das US-amerikanische Truppen nach England brachte. In der Dunkelheit bemerkte die Besatzung von U 103 das große Schiff zu spät, um sich in eine günstige Schussposition zu bringen. Die Olympic steuerte die aufgetaucht fahrende U 103 direkt an. Das eingeleitete Alarmtauchen misslang. U 103 wurde gegen 4 Uhr gerammt. Eine Heckschraube der Olympic beschädigte den Turm und den Druckkörper des bereits getauchten U-Boots, das daraufhin aufgegeben werden musste. 35 U-Bootfahrer, darunter der Kommandant, wurden später durch den US-amerikanischen Zerstörer USS Davis gerettet. Zehn Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. wikipedia.org/wiki/SM_U_103 am 31.10.2018.
Seite 39
[48] Das Marinekorps Flandern war ein militärischer Großverband. Es war zur Küstensicherung gebildet worden und zuständig für Operationen der See- und Luftsteitkräfte im Ärmelkanal bis zur Irischen See. Es war eine Reichstruppe, weder der Preußischen Armee noch der Marine unterstellt. Die U-Bootflottille Flandern wurde am 29. März 1915 gebildet. Führer der U-Boote war Korvettenkapitän Karl Bartenbach. Die Flottille (eingeteilt in I und II) versenkte 2554 Schiffe und verlor 80 U-Boote mit 145 Offizieren und mehr als 1000 Mannschaften. Sie wurde im Oktober 1918 aufgelöst und nach Deutschland verlegt. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Marinekorps_Flandern.
[49/50) Die 32 U-Boote, die mit den Unterschriften ihrer Kommandanten im Gästebuch verzeichnet sind: UB 6, 10, 12, 16,17,18,23, 31, 32,38,40,55,56,58, 81, 88, 116, 142, 148 und UC 1, 11, 17, 47, 48, 62, 63, 64, 65, 69, 71, 75 und 79.
Seite 40
[51] Reinhold Saltzwedel (23. 11. 1889 bis 2. 12.1917), war einer der erfolgreichsten deutschen U-Boot-Kommandanten. Er war Kommandant von UB 10, UC 10, UC 11, UC 21, UC 71 und ab 18. August 1917 von UB 81. Das Boot lief auf der zweiten Feindfahrt im Ärmelkanal auf eine Mine und sank mit 28 Mann Besatzung. Saltzwedel versenkte mit seinen Mannschaften auf 22 Feindfahrten 111 alliierte Handelsschiffe mit insgesamt 170.526 BRT. Er war Träger des Eisernen Kreuzes II. und I. Klasse, sowie des Ordens Pour le Mérite. Die 1936 gegründete 2. U-Boot-Flottille der deutschen Kriegsmarine in Wilhelmshaven trug ihm zu Ehren den Namen „Saltzwedel“. Eine Schwimmpier, die Saltzwedelbrücke, des Marinestützpunktes Kiel ist heute nach ihm benannt. Vgl. Wikipedia, Stichwort „Reinhold Saltzwedel“ am 1.05.2018.
Seite 41
Der Kommandant von UB 56, U-Boot-Flottille Flandern, Oberleutnant Hans Valentiner[52] schreibt ins Gästebuch:
„Am Vorabend meiner endgültigen Ausklarierung aus Bremen schreibe ich Ihnen nochmals meinen herzlichsten Dank für die vielen schönen Stunden, die ich dank Ihrer Liebenswürdigkeiten an St. B. und B.B. verleben durfte und rufe Ihnen und allen Bekannten der Wall-Bar ein frohes Wiedersehen und U-Boot-Heil und – Gruß zu. Hans Valentiner.“
[52] Hans Valentiner (1888 bis 1917), Oberleutnant zur See, Kommandant von UB 16, UB 37, UB 71 und seit 19. Juli 1917 von UB56, untergegangen am 19. Dezember 1917 am Cap Gris-Nez an der französischen Kanalküste. Versenkte 50 Schiffe mit 41.829 BRT. EK I und II, Friedrich August Orden (Oldenburg), Königlicher Haus Orden von Hohenzollern.
Seite 42
Juli 1917 „Eine wahre Begebenheit aus der Zeit, wo der Krieg noch schön war.“
Im Januar 1920 wird die versmäßig gelungene, gekonnt bebilderte Geschichte „Der Bremer Droschkenraub“ auf sechs Extra-Blättern eingefügt, die sich im Juli 1917 in der Wall-Bar zugetragen hatte. Es war ein Dummer-Jungen-Streich, den sich zwei „Wallbarbaren“ damals leisteten. Sie „entführten“ eine Pferdedroschke, die ohne Kutscher vor dem Hauptbahnhof stand und fuhren damit zur Wall-Bar.
Nach zwei Stunden klingelte die Eigentümerin, eine resolute Kutscherin, an der Wohnungstür und drosch mit dem Peitschenstil auf den ahnungslos die Tür öffnenden Wagenführ ein. Der umarmte sie und konnte sie besänftigen. Man lud sie zum Umtrunk in der Männerrunde ein, wo sie längere Zeit verblieb und entschädigte sie großzügig für die entgangenen Einnahmen.
Zahllos sind die Einträge dankbarer Gäste, bei denen es sich nun hauptsächlich um Offiziere von U-Boot-Besatzungen handelt. Zahlreich sind die Fotos von U-Boot-Offizieren und Besatzungen, deren Boote in Bremerhaven ausklariert werden. Im Gästebuch finden sich – über die auf den Seiten der U-bootsflottille Flandern genannten Boote hinaus – die Unterschriften von Kommandanten von UB 55 (Foto unten), UB 56, UB 58, UB 63, UB 65, UB 82, sowie von UC 64, UC 82 (Foto unten) und von U 100, U 101, U 102, U 103, U 104. Mit den 39 Unterschriften der im Abschnitt „Ubootsflottille Flandern“ genannten Kommandanten sind im Gästebuch bis zu diesem Zeitpunkt 51 U-Boot-Kommandanten mit ihrem Boot und ihrer Unterschrift vertreten.
[53] U 59 war ein diesel-elektrisches U-Boot, das am 20. Juni 1916 bei der AG Weser in Bremen vom Stapel lief und am 7. September in Dienst gestellt wurde. Der erste und einzige Kommandant war Freiherr Wilhelm von Fircks. U 59 führte vier Feindfahrten in der Nordsee, beziehungsweise im östlichen Nordatlantik durch. Dabei wurden insgesamt 13 Handelsschiffe der Entente und neutralen Staaten mit einer Gesamttonnage von 18.763 BRT versenkt. Das Boot wurde am Abend des 14. Mai 1917 von drei Sperrbrechern in die Nordsee eskortiert. Bei stürmischem Wetter geriet es weiter nach Norden als beabsichtigt. Dadurch fuhr es in ein frisch gelegtes deutsches Minenfeld westlich des Horns Rev. U 59 kollidierte mit einer der Minen und sank infolge der Explosion. Anfangs sah es so aus, als könnte ein Großteil der Besatzung gerettet werden. Doch die Begleitschiffe gerieten in der Dunkelheit ebenfalls in das Minenfeld. Schließlich überlebten nur vier Mann der zum Untergangszeitpunkt 37-köpfigen Besatzung. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/SM_U_59
[54] Die HMS Orion war ein britisches Schlachtschiff der Orion-Klasse. Die vier Schiffe dieser Klasse wurden in England auch als Super-Dreadnoughts bezeichnet. Alle schweren Geschütze standen erstmals auf einem englischen Schlachtschiff auf der Mittelschiffslinie. Vgl. https:/de.wikipedia.org/Wiki/HMS_Orion_(1910)
Seite 43
Es finden sich zahlreiche Zeitungsmeldungen über Versenkungs-Tonnagen, U-Boot-Erfolge im Mittelmeer und anderswo.
Eine Wall-Bar-Weihnachtsfeier hat es anscheinend 1917 nicht gegeben.
1918 6. November: Der traurigste Tag eines U-Boot- und Soldatenlebens / Novemberrevolution
72 Seiten
Seinen Geburtstag feiert Wagenführ am 8. Februar in der Wall-Bar.
Ein WO (Wachoffizier) von U 121 schreibt ihm zum 47. Geburtstag folgende Verse:
Heut‘ ist ein Tag für Euch, Ihr U-Bootsleute,
An den ihr alle denken sollt.
Heut‘ ist für Euch ein Tag der Freude,
Ein Tag der Dankbarkeit, die ihr da zollt
Dem lieben, guten U-Bootsvater,
Der uns im wahrsten Sinn die Heimat bot,
Wenn wir von schweren, harten Fahrten
Im Kampf mit Stürmen, Not und Tod
Zurückgekehrt an diese traute Stätte,
Wo uns ein zweiter Vater ward,
Der wie kein anderer erkannte
Der U-Bootsleute Herz und Eigenart.
Heut‘ tritt der Hannes in ein neues Lebensjahr
Und was an guten, treuen Wünschen
Wir U-Bootsleute ihm zu bieten haben,
Das bringen wir ihm donnernd dar
In diesen Worten:
„Heil Hannes, alles wird torpediert!“
19. Februar: „Wagenführ, der Wallbarbar. Ich kam als fremdes vaterloses Kind hierher und fühlte mich am selben Tag noch einklariert. … Hier kann man tausend Flaschen köpfen und säuft doch nie die Wallbar aus.“
19.4.1918 Stammgast Victor von Knobelsdorff schreibt:
„Die alte Hansestadt und Du am Wall
Bedarf nicht vieler Worte Schwall.
Drum sag ich kurz und klar und laut:
Ich dank dir! – und nun abgebaut.“
Auch in diesem Jahr sind die Besuche der U-Boote und ihrer Besatzungen, die „Ausklarierungen“, so zahlreich wie im Vorjahr. Sie sind alle mit Fotos und Unterschriften eingeheftet. Bis zu 16 Mann stehen auf den Unterschriftenlisten. Zu den Ausklarierten in der Wall-Bar gehören: UB 55, UB 127, UB 129, UB130, UB131, UB 161. Viele Dankes-Eintragungen für die Gastfreundschaft finden sich: „Mit herzlichem Dank und auf fröhliches Wiedersehen!“
Ein Zeitungsbericht vom 14. Mai ist abgeheftet mit dem Titel: „Ein kühner U-Bootführer“. Es ist eine Serie. Der Obertitel heißt „Unsere Helden zur See.“
Zahllose Zeitungs-Meldungen von versenkter Tonnage durch deutsche U-Boote: 8.2. 28.000, 2.4. 19.000, 11.4. 28.000, 16.4. 22.000, 4.5. 17.00, 7.5. 16.000, 20.5. 27.000, 3.6. 29.000 Tonnen.
[55] Am 14. Oktober 1914 wurde Brügge vom Marinekorps Flandern besetzt. Die Stadt wurde der Hauptort des sogenannten Marinegebiets und erhielt einen U-Boot-Hafen in Zeebrügge als Stützpunkt gegen die britische Handelsflotte in der Nordsee. Brügge unterlag während des Krieges einem Zwangsregime durch die deutsche Besatzungsmacht. Die Einwohner waren in ihrer Bewegungsfreiheit beschränkt, durften sich zum Beispiel nicht mehr am Kanal Brügge-Zeebrügge sehen lassen und Brücken nicht ohne weiteres überqueren. Normale Zeitungen durften nicht mehr erscheinen. Einschränkungen des Verkehrs führten zu Behinderungen in Handel und Gewerbe, so dass die Stadt mit hohen Arbeitslosenzahlen zu kämpfen hatte. Allmählich wurde das deutsche Militär zum einzigen Arbeitgeber. Als die deutschen Truppen abzogen, sprengten sie Elektrizitätswerke in La Brugeoise und zerstörten Hafenanlagen in Zeebrügge. Auch ein Teil der lokalen Eisenbahngleise wurden demontiert und Brücken gesprengt. Informationen aus einem Interview mit der belgischen Historikerin Sophie de Schaepdrijver, Kuratorin der Ausstellung „Brügge im Krieg“ vom 14. Oktober 2014 bis 22. Februar 2015 in den Stadshallen, Brügge. www.visitbruges.be/files/uploads/document/pressemappe.
[56] Max Viebeg (1887 – 1961), Kapitänleutnant, seit November 1915 U-Boot-Kommandant, zunächst auf der Ostsee (UC 10, UB 20), dann in der Flandern-Flottille auf UB 32 und UC 65 (3 Offiziere, 31 Seeleute) und vom 8. September bis 11. November 1918 auf UB 80; operierte vom Hafen Zeebrügge; versenkte 169.656 BRT; EK I und II, Orden Pour le Merite. Quittierte den Dienst in der Marine am 28. Januar 1920 und verließ Deutschland, um eine Tee-Plantage auf Java in Niederländisch-Indien zu gründen. Vgl. www.boat.net Stichwort Max Viebig am 9.05.2018.
Seite 44
Im Februar ist ein mehrere Seiten langer Artikel eingeheftet mit dem Titel „Warum die U-Boote keinen Erfolg gehabt haben. Seinem Inhalt nach ist er nach dem Krieg eingefügt worden.
24. September Ausklarierung UB 148 – Unterschriften der Mannschaft
3. November: „Dem U-Boots-Vater herzlichen Dank für die freundliche Aufnahme.“
Die Novemberrevolution Am 6. November wird in Bremen eine „neue militärische Ordnungsgewalt“ eingerichtet.
Am 6./7. November sind zwei Traueranzeigen handschriftlich eingetragen.
Die erste Traueranzeige
Text
„Wir haben gekämpft – unser Bestes gegeben –
Manch Entbehrung gerne erlitten
Mit unseren Leuten, auf wildwogender Bahn
Treu gegen die Briten gestritten!
Fürs Vaterland Alles! – war unser Ziel
Wir konnten es nicht erreichen
Nun müssen beschimpft wir in schlichtem Zivil
Sieglos die Segel streichen!“
Eine Unterschrift
Die zweite Traueranzeige
Text: „Der traurigste Tag meines U-Boot- und Soldatenlebens – 6. Nov.1918[57]
Unterschrieben ist er von acht U-Boot-Kommandanten bzw. Offizieren von U43, U 55, U 86, U 97, U 120, U 122, U 126, U 165.
Der Eintrag darunter heißt:
„U 53 als letztes königstreues Boot unter unserer Kriegsflagge nach langer schwieriger Seefahrt in Kiel am 25. November 1918 eingelaufen.“
Diese Darstellung der Revolution vom 9. November befindet sich – ohne nähere Angaben – auf der Seite mit den Traueranzeigen.
Am 9. Dezember wird die F.L.A.K. – Abteilung Bremen aufgelöst und ihr Führer Hauptmann Ober entlassen. Ober, seit den Anfängen der Wall-Bar Stammgast, dann „Empfangschef“ und „Wallbarprokurist“, wie er sich selbst am Ende eines sehr langen Gedichts bezeichnet, in dem er Wagenführ seine Dankbarkeit und Freundschaft zum Ausdruck bringt.
[57] Am 6. November um 8.00 Uhr morgens setzte sich ein Demonstrationszug, darunter vor allem meuternde Matrosen, von der Torpedo-Divisions-Kaserne in Richtung Innenstadt von Wilhelmshaven in Bewegung. Als die Marine-Station besetzt wurde, war die Menge auf Zehntausende angewachsen. Die Forderungen waren: sofortiges Ende des Krieges, menschliche Behandlung durch die Offiziere und Essen. Es wurde ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet, der die militärische Macht im Flottenstützpunkt Wilhelmshaven übernahm. Damit war die Marinestation als höchste örtliche Militärbehörde in der Hand der Aufständischen. Vgl. www.gegenwind-whv.de/revolution-1918/
Seite 45
Zu seiner „Ausklarierung“ genannten Feier erscheinen 46 Gäste. Es bedarf einer Sondergenehmigung des inzwischen in Bremen installierten Soldatenrates, um die Feier in den „Ratsstuben“ über die Polizeistunde hinaus bis 23.30 Uhr zu verlängern:
Weder von einer Weihnachts-, noch von einer Silvesterfeier findet sich 1918 eine Spur im Gästebuch.
1919 Ehemalige Kriegsgefangene als Gäste
16 Seiten
Als einzige Feier ist 1919 eine Hochzeit im Familienkreis eingetragen:
„Zum Ausklang seel’ger Hochzeitsstunden hab’n wir hier uns zusammengefunden und danken „Ihm“, der stets dabei für diese schöne Festerei.“ Eine der Unterzeichneten ist Annemarie Wagenführ. Es könnte sich um die Schwester von Hans handeln (die in der Todesanzeige von Hans Wagenführ nicht mit ihrem Namen genannt wird). Auch Bruder Felix und seine Frau Marie sind dabei.
Im Januar 1919 trägt sich ein Kapitänleutnant mit großen Lettern ein:
„Frisch auf zu neuen Taten!
Es soll uns wohl geraten!
Der hiesige alte Geist
Die rechte Bahn uns weist!
Heil und Sieg und Kaiser!“
Mai 1919: „Die Wallbar und der gastfreie Besitzer sind unbedingt den sieben Wundern der Welt als achtes einzureihen!“
Mehrere Leutnants der Reserve tragen sich im Februar/März/Mai ein.
„Eisern, jäh und irre –
Wir kriegen die Kerle schon kirre!
Wenn unser alter Wahlspruch auch so nicht in Erfüllung gegangen ist, wie wir es erhofften, so wird in absehbarer Zeit noch eine Abrechnung kommen.“
Leutnant d. R. vom Kampfgeschwader der I. Staffel.
„Heil und Sieg für ein neues Deutschland!“ (Im Original unterstrichen)
„Wieder mal ein Lichtblick in schlimmen Zeiten! Dem lieben Onkel Hannes herzlichen Dank und ein wehmutsvolles Lebewohl.“
„Nach einjähriger Gefangenschaft, aus dem Gefangenenlager Wakefield (England) entflohen, kam auch ich hier durch Bremen. Ich hörte von den dortigen U-Bootsoffizieren, wie nette Stunden sie doch im Hause Wagenführ verlebt hätten. Das Glück wollte es, dass auch ich hier einige Stunden verleben konnte und kann nur bestätigen, was alle U-Bootsoffiziere in Gefangenschaft sagten: „Stets lustig und fidel“.
„Schließe mich dem vorangegangenen Besucher insofern an, dass auch ich leider die Kriegsjahre im englischen Gefangenenlager Wakefield zu verbringen hatte. Habe so viel von dem lustigen Hause Wagenführ gehört, dass, kaum nach Hause zurückgekehrt, ich mich beeile dies gastfreie Haus aufzusuchen.“
Oktober 1919: „Nach fast zweijähriger Pause auf dem Rückwege aus englischer Gefangenschaft in alter herzlicher Weise aufgenommen. Es lebe Onkel Hans! In alter Frische und Treue. Kapitänleutnant, früher Kadett SM UB109“
Im Juni: „Was Deutsch ist, ist dagegen! Deutschland über Alles!“
Weihnachten wird in der Wallbar nur im Kreis von fünf Gästen gefeiert, unter ihnen der Zeichner Carl Stock.
Auf den beiden Innenseiten des 1. Bandes werden später Ehrentafeln der gefallenen U-Bootfahrer eingeklebt: „Mit wehender Flagge sanken vor dem Feinde.“
2.Band von Januar 1920 bis Oktober 1932
1920 Spende für Kapp-Putsch-Offiziere / Der letzte U-Boot-Kommandant kehrt aus englischer Kriegsgefangenschaft zurück / Krankenhausaufenthalt
66 Seiten
15. Januar – Danksagung von Vize-Admiral Paul Behnckes
„Des lustigen oder vielmehr erheiternden Abends voller schöner Erinnerungen an unsere alte, stolze Marine und ihre Taten, besonders unserer U-Boots-Leute, gedenkt in herzlicher Dankbarkeit für alle der Marine erwiesenen Wohltaten als jüngst einklarierter Wallbarbar Paul Behnckes, Vize-Admiral z.V., derzeitiger Chef des III. Geschwaders.“
Am 8. Februar findet eine riesige Geburtstagsfeier statt, die wie auch die folgenden zweigeteilt ist: zum Frühschoppen lädt Wagenführ in den Ratskeller ein, zum Abend in die Wall-Bar. Die beiden sorgfältig gestalteten Einladungen hat wieder Carl Stock gestaltet.
Zum Frühschoppen kommen 60 Gäste; der Gastgeber hat sie sogar gezählt und nummeriert. Unter ihnen ist auch der regelmäßige Besucher Hugo Gebert, sein Nachfolger als Eiswette-Präsident. Zur Kalbskeule am Abend kommen 49 Gäste.
Ein Gast trägt folgende Verse ein:Text
„Vom Wall zum Keller sind ‘ne Menge Schritte –
Jedoch – die AEG liegt in der Mitte.
Dort machst Du dann, auf Deinem Weg vom Hause
Zum Keller hin alltäglich kurz ‘ne Pause.
Der Rhythmus dieser Pendelgänge
Der zieh‘ sich noch Jahrzehnte in die Länge! –
Und sind die Freunde allzumal
Und allesamt begraben,
So möchtest Du im Echo-Saal
Mit Deinem Witz und Redeschwall
Noch unsre Kinder laben!“
Unmittelbar hinter den Einträgen zur Geburtstagsfeier finden sich zwei urkundliche Dokumente, in denen die deutschen Kaiser Wilhelm I. und Wilhelm II. anderen königlichen Hoheiten des deutschen Reiches Mitteilung über gerade vollzogene Beförderungen in den entsprechenden Armeen machen. Das eine von 1894 ist in Berlin von Kaiser Wilhelm II unterzeichnet, das andere von Wilhelm I. in Versailles mit dem Datum vom 18. Januar 1871, also dem Tag der Kaiserproklamation. Es ist gut vorstellbar, dass sie Geburtstagsgeschenke waren.
Versailles, 18. Januar 1871 Beförderungsmitteilung von Wilhelm I.
Berlin, 17. März 1894. Kaiser Wilhelm II. an Königliche Hoheit Großherzog von Oldenburg
Februar 1920:
„Der gemütlichste Ausschank in ganz Bremen ist entschieden bei Onkel Hannes, hier wird man, ohne es zu merken, langsam aber totsicher voll. Was bei einem Helden, als wie icke, natürlich nie vorkommt.“
Kapp-Putsch am 13. März 1920
Die Spende
Dankschreiben des Vize-Admirals Andreas Michelsen vom 1.4.1920.
Text
Wilhelmshaven Tausendmannkaserne, den 1.4.1920
Sehr geehrter Herr Wagenführ,
Sie haben uns mit den übersandten 5000 Mark eine herzliche Freude bereitet, und wir sagen Ihnen unseren aufrichtigen Dank für Ihre Liebesgabe. Wir erblicken in ihr einen wertvollen Beweis dafür, dass in dieser Zeit, wo Willkür mit uns ihr Unwesen treibt, draußen noch wackere Herzen für uns schlagen, die Verständnis für uns und unsere Lage haben. Dass die großartige Gabe gerade von Ihnen kam, hat uns immer zu unseren Herzen gesprochen, als einer unter uns mit Rat und Tat stets hilfsbereiter Freund unseres Korps, in dessen Heim so viele Kameraden in Kriegs- und Friedenszeiten in guten und trüben Stunden eine gastliche Aufnahme gefunden haben.
[58] Am Morgen nach dem Kapp-Putsch vom 12. März „zogen bewaffnete Matrosengruppen unter dem Kommando ihrer Deckoffiziere durch Wilhelmshaven, verhafteten auf der Marinestation, an Bord der Schiffe und in den Kasernen alle Seeoffiziere, entwaffneten sie und sperrten sie in die Tausendmann-Kaserne. Vize-Admiral Michelsen legte sein Amt nieder: Der Führer der Wilhelmshavener Deckoffiziere, Torpedomaschinist Arthur Grunewals, wurde – im Auftrag der Oldenburgischen Regierung – zum Chef der Nordseestation ernannt. Damit war – einen Tag, bevor die Putsch-Regierung in Berlin aufgeben musste – der Staatstreich in Wilhelmshaven unblutig abgeschlagen. In keinem Betrieb wurde gestreikt, auf der Nordseestation ging unter der schwarzrotgoldenen Fahne der Repbulik der Dienstbetrieb ohne Seeoffiziere weiter.“ www.forum-geschichte.at/Forum/archive/index.php?thread-5547-2.html Eintrag vom 16.11.2016. Die Tausendmann-Kaserne war am 27. Januar 1919 eine der Hauptschauplätze des Spartakus-Aufstandes. Hier richteten die Spartakisten ihr Hauptquartier ein. In der Nacht vom 27. auf den 28. Januar belegten Berufssoldaten und Deckoffiziere die Kaserne mit Gewehr- und Artilleriefeuer. Die Belagerten ergaben sich am Morgen. Es gab 8 Tote und 46 Verletzte. Vgl. „Was die Bomben verschonten … vernichtete die Nachkriegspolitik! Ein kritischer Beitrag zum 125jährigen Stadtjubiläum Wilhelmshaven“, Kapitel „Die Tausendmann-Kaserne“. Juni 1994. Hrsg. vom Arbeitskreis Wilhelmshavener Stadtbild. In: www.suedzentrale.de/_downloads/was_die_Bomben_verschonten. pdf
Seite 46
Durch die Liebesgabe war es möglich, die Lager der in der Tausendmannkaserne und krank im Lazarett inhaftierten Kameraden durch Beschaffung von Genussmitteln, durch Gegenstände des persönlichen Bedürfnisses in höchst angenehmer und willkommener Weise zu verbessern. Wir hoffen, dass die Geldsumme damit in Ihrem Sinne verwandt worden ist. Seien Sie versichert, sehr geehrter Herr Wagenführ, dass die uns von Ihnen übersandte Gabe warmen Widerhall in unseren Herzen gefunden. Sie wird als erneuter Beweis Ihrer Freundschaft und Hilfsbereitschaft in dankbarer Erinnerung behalten werden von Ihnen aufrichtig ergebenen
Michelsen[59] und 60 weitere Unterschriften.
16./19. März:
„Mit herzlichem Dank
Für Schlaf, Speis‘ und Trank!
In dankbarer Erinnerung für sonnige Aufnahme in schwerer Zeit.“
Zwei Unterschriften: W.F., Kapitän zur See und H.P, Kapitänleutnant.
6. Juni 1920 (Riesige Buchstaben über eine dreiviertel Seite)
„Ich denke der Zeiten, da ich dereinst ein Junggeselle war.
Verschwunden seitdem ist manches ernste, manch fröhliches Jahr.
Doch selten war ich so gern zu Hause
Wie hier in der Wagenführ’schen Klause.
C.E., Künstler, Säufer
Im Juni 1920 sind 5 Zeichnungen eingeklebt, deren Thema die Versorgung der Bevölkerung im Krieg ist.
[59] Andreas Michelsen (19.2.1869 bis 8.4.1932), Korvettenkapitän, erhielt im Juli 1917 das strategische Kommando über die Aktionen der gesamten U-Boot-Waffe. 1919 Konteradmiral, 1920 Vize-Admiral, legte im Zuge des Kapp-Putsches sein Amt nieder, wurde am 20. Dezember 1920 entlassen; EK I und EK II. Orden Pour le mérite. Vgl. www.uboat.de, Stichwort „Andreas Michelsen“. Veröffentlichte 1925 das Buch „Der U-Boot-Krieg 1914 – 1918, Das maßgebende Werk des verantwortlichen Befehlshabers“, das 2007 neu aufgelegt wurde.
Seite 47
Am 23. Juli 1920 findet in der Wallbar ein „KinTop-Abend“ statt. Aus der Zeichnung geht hervor, dass aufwändiges Gerät installiert worden ist.
Die Weihnachtsfeier findet in der Wall-Bar mit 32 Gästen statt.
Text auf der Rückseite der Postkarte:
„Lieber Onkel Hannes! Heute trafen die beiden weiteren Kisten Wein ein. Herzlichen Dank dafür. Hoffentlich kann ich nun recht bald so schönen Stoff mit Ihnen im Keller zu Bremen trinken. So allein macht es mir halb so viel Vergnügen. Herzliche Grüße Ihr Claus Rücker“
28. August 1920:„Melde mich von Tsingtau und fünfjähriger Gefangenschaft zurück.“ M. v. M.
September 1920 in riesigen Lettern über eine dreiviertel Seite:
„Einklarierter
Derangierter
Griffelspitzer
Tintenspritzer
Muss leider geh’n!
Auf Wiederseh’n.“
November 1920:„Die alten Zeiten! Beinahe wie früher! Hannes ist der Alte geblieben.“
22.11.1920:„Die glücklichsten Stunden verlebt man bei Wagenführ.“
Am 9. Dezember geht Wagenführ in die Chirurgische Privatklinik St. Jürgenstraße zur Behandlung von Komplikationen im Zusammenhang mit seiner Diabetes. Die Weihnachtsfeier mit 32 Gästen findet im Krankenhaus statt.[60]
1921 25jähriges Dienstjubiläum / Eisernes Kreuz / Entlassung aus der Klinik
44 Seiten
[60] Zur Weihnachtsfeier in der Klinik, vgl. das Kapitel „Früher Tod“.
Seite 48
Die „Weser-Zeitung“ berichtet über Wagenführs (fälschlich „Wagenföhr“) 25jähriges Dienstjubiläum in einem Artikel, der ins Gästebuch eingeklebt ist.[61]
Schreiben der AEG-Direktion Berlin zum 25jährigen Dienstjubiläum am 8. Februar
Sehr geehrter Herr Wagenführ,
Ihre nunmehr 25jährige Tätigkeit in unserem Konzern gibt uns willkommenen Anlass, Ihnen für die während dieses langen Zeitraums uns treu und hingebend geleisteten Dienste unseren Dank zu sagen und dem Wunsch Ausdruck zu verleihen, dass Ihre wertvolle Arbeitskraft uns noch lange erhalten bleiben möge. Als Zeichen unserer Anerkennung bitten wir Sie, anliegenden Scheck annehmen zu wollen. Hochachtungsvoll Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft. Zwei Unterschriften.
[61] Wagenführ wird falsch „Wagenföhr“ geschrieben.
Seite 49
Am 8. Februar 1921 unterbricht er den Klinikaufenthalt, um seinen 50. Geburtstag groß im Ratskeller zu feiern. Aus den Unterschriften geht hervor, dass zum Frühschoppen 101 und zur Abendfeier 85 Gäste kamen. Das Bergsteiger-Motiv auf der Einladungskarte drückt es aus: Es geht gesundheitlich bergauf. Am 9. März wird er endgültig entlassen.
Im März 1921 lädt Wagenführ zu einer Vorstellung des berühmten Sängers und Schauspielers Robert Steidl [62] in die „Wall-Bar“ ein. Unter den Gästen ist Emil Fritz, der Direktor des „Astoria“, der sich mit dem Spruch einbringt: „Wer brachte „Ihn“ nach Bremen? Emil Fritz!“
[62] Robert Steidl (1865 bis 1927), Couplet- und Operettensänger, Humorist und Filmkomiker; komponierte 1922 zum Kölner Karneval das Lied: „Wir verkaufen unser Oma ihr klein Häuschen“. Vgl. wikipedia, Stichwort Robert Steidl vom 1.04.2018
Seite 50
Im Herbst besucht der ehemalige Admiral der deutschen Flotte Adolf von Trotha aus der berühmten Militär-Dynastie[63] die „Wall-Bar“, nachdem ihm Wagenführ Fotos von verschiedenen U-Booten geschickt hatte. Am 4. Oktober schickt er Wagenführ einen langen Dankesbrief. Wagenführ ist dieser Brief so wichtig, dass er ihn – außerhalb der Chronologie – an den Anfang des zweiten Bandes zwischen die beiden kaiserlichen Urkunden Wilhelms I. und Wilhelms II. einklebt.
„Krahme bei Brandenburg[64] an der Havel, 4. 10. 1921
„Sehr geehrter Herr Wagenführ,
die so sehr freundliche Zusendung der U-Boots Bilder war mir eine ganz besondere Freude. Es ist eine ganz prachtvolle Aufnahme und stellt einem diese einzigartige Waffe in ihrem ganzen Stolz und ihrer ganzen seemännischen Präsenz so treu und wahr vor Augen, dass mich der Anblick stets von neuem gewaltig packen wird. Dass Sie auch noch an das Bild meines mir so sehr ans Herz gewachsenen Salzwedel[65] (korrekt: Saltzwedel – d. Verf.) denken wollen, ist ein weiterer Beweis Ihrer großen Freundlichkeit, die mich beschämt, wenn Sie mir nicht – bitte verübeln Sie es nicht – erlauben wollen, dass ich die Auslagen ersetzen darf.
Ich habe die Stunden, die ich bei Ihnen verleben durfte, in besonders guter Erinnerung und werde Ihnen dafür stets sehr dankbar bleiben. Sie sind von dem Heldenkampf unserer treuen, tapferen U-Bootsschaar in der Erinnerung nicht zu trennen. Sie haben vielen der Bangen Herz und Sinn erleichtert. Das wird Ihr schönster Lohn sein.
Mit dem Ausdruck besonderer Wertschätzung
Ihr sehr ergebener von Trotha
Vize Admiral a.D.“
[63] Adolf von Trotha (1868 – 1940) diente als Admiralstabsoffizier beim Ostasiengeschwader und nahm an der Niederschlagung des Boxeraufstandes in China teil. 1904 Korvettenkapitän, 1909 Fregattenkapitän und Flügeladjudant des Kaisers, 1910 als Kapitän zur See Abteilungschef im Marinekabinett. Nahm als Kommandant des Großlinienschiffs SMS Kaiser an der Skagerrakschlacht teil. 1916 Konteradmiral und Admiral à la suite des Kaisers, am Ende des Krieges Chef des Marinekabinetts. Er verantwortete den Befehl zum Auslaufen der Flotte am 24. Oktober 1918, was der Auslöser zum Aufstand der Matrosen wurde. Beim Kapp-Putsch erklärte er, dass die Marine den Putschisten zur Verfügung stünde. Am 5. Oktober 1920 wurde er verabschiedet. Vgl. wikipedia Stichwort Adolf von Trotha am 30.03.2018
[64] Krahme ist seit 2002 Ortsteil von Kloster Lehnin.
[65] Vgl. Anmerkung 51 zu Reinhold Saltzwedel im Eintrag zur „Unterseebootsflottille Flandern“ vom Juli 1917.
Seite 51
Die Zeit der ständigen Militär-Präsenz im Gästebuch ist vorbei. Es geht in der Wall-Bar über das Jahr zivil zu. Der Gäste-Eintrag „Heil und Sieg!“ am 22. Januar ist eine Ausnahme.
1922 Große Feier im Ratskeller zum 51. Geburtstag
20 Seiten
Der 51. Geburtstag wird am 8. Februar 1922 groß gefeiert: Frühschoppen im Echosaal des Ratskellers mit 74 Gästen; Abendfeier in der Wall-Bar mit 68 Gästen. Immer dabei: Hugo Gebert, sein Nachfolger im Amt des Eiswette-Präsidenten. Es gibt viele freundliche, zivile Einträge. Keine besonderen Vorkommnisse.
1923 Ruhrkampf / Inflation
24 Seiten
Eintrag am 24. Januar 1923 vom KYC (Kaiserlicher Yacht Club). „Tirpitz sagt: Das deutsche Volk hat die See nicht verstanden. Möge er Unrecht behalten.“
Zum Geburtstag am 8. Februar haben sich 157 Gäste mit ihren Unterschriften zum Frühschoppen im Ratskeller eingetragen.
Viele Glückwünsche. Ein Telegramm lautet: „Die dankbaren U-Bootsleute gratulieren.“
Die Einladung zum 52. Geburtstag ist von zwei der schönsten Zeichnungen von Carl Stock begleitet. Die erste – Wagenführ als Küfer – geht über eine ganze Seite.
Die zweite wirft von der Neustadt aus einen Blick auf die Altstadt über die „Große Brücke“. (Heute Wilhelm-Kaisen-Brücke)
Ein Geburtstagswunsch.
Ruhrkampf
Inflation: Am 7.2. gewinnt „Onkel Hannes“ eine Scherz-Wette im Schnelllaufen zugunsten der Ruhrspende in Höhe von vierhundertvierzehntausend (414.000) Mark.
1924 Felix Graf Luckner wird „Wall-Barbar“ / Ehrenurkunde der Unterseebootskameradschaft / Das Ubootslied
20 Seiten
Am 28. Januar ist zum ersten Mal der „Seeteufel“ Felix Graf Luckner in der Wall-Bar[66]. Er wird noch viele Male auf den Seiten des Gästebuchs mit Fotos und markigen Sprüchen erscheinen. Graf Luckner widmet seinem Gastgeber die folgenden Zeilen.
„Kik in de Sünn! Der Pessimist ist, Gott sei Dank, der einzige Mist, auf dem überhaut nischt wächst! Den ollen Hannes Wagenführ, den unverwüstlichen deutschen Mann mit seinem goldigen, herzhaften Humor, der Kerl immer mit de Vörbeene im Trog, eines Tags wiederzusehen, war meine größte Vorfreude für Bremen. Gott erhalte diesen (… ?) noch recht lange. In diesem Sinne grüßt ihn stets sein Verehrer und Freund Felix Luckner.“
[66] Felix Graf von Luckner (1881 – 1966), Seeoffizier, Schriftsteller. Er wurde als Kommandant des Hilfskreuzers „Seeadler“, eines Segelschiffs mit Motor, zum Kriegshelden, als er die britische Seeblockade mit seinem als norwegischen Frachter getarnten Schiff durchbrach. Nahm an der Skagerrak-Schlacht teil. Vgl. Wikipedia Stichwort Felix Graf von Luckner vom 18.04.2018.
Seite 52
Am 8. Februar 1924 findet wieder eine große Geburtstagsfeier im Ratskeller mit 111 Gästen statt, unter ihnen Philipp Heineken, Vorsitzender im Aufsichtsrat des Norddeutschen Lloyd und Hugo Gebert, der weiterhin regelmäßig Gast bei Wagenführ ist. (Wagenführ ist jetzt Genosse der Eiswette.)
Am 28. 2. 1924 findet eine kleine Feier in der Wall-Bar statt, auf der ein Benno Rentz dieses Bild in das Gästebuch gemalt hat.
2 Seiten Feiern in der Wallbar: vom 1. Mai bis 26. August
Am 22.September wird dem Ehrenmitglied Wagenführ der „Unterseebootskameradschaft“ Ortsgruppe Bremen die Ehrenurkunde überreicht und der Dank ausgesprochen, den er sich „durch sein tatkräftiges Einsetzten für die U-Frontfahrer vollkommen verdient hat.“
Stehend wird das alte Ubootslied gesungen.
1925 Besuch des Kronprinzen Wilhelm von Preußen in Bremen / Empfang im „Kaiserlichen Yachtclub“
24 Seiten
Große Geburtstagfeier im Ratskeller und in der „Wall-Bar“. Zum Frühschoppen kommen 138 Gäste, zur Abendfeier 55. Unter ihnen sind Walter Caspari, Hans Degener-Grischow, Carl A. Wuppesahl, Hugo Gebert und G.A. Fürst.
Vom 16. bis 18. Mai besucht Wilhelm Prinz von Preußen (1882 – 1951), ältester Sohn des im Exil in Holland lebenden Wilhelm II., Bremen, zunächst nur in Begleitung seiner Söhne Hubertus und Friedrich. Am 17. Mai holt er seine Frau und die beiden Söhne Wilhelm und Louis Ferdinand in Bremerhaven vom Schiff ab, mit dem die drei von einer Reise nach Teneriffa zurückkehren. Auf drei Seiten sind zahlreiche Fotos des Ereignisses eingeklebt.
Am 17. Mai empfängt Wagenführ den Kronprinzen im „Museum“ als 1. Vorsitzender des Kaiserlichen Yachtclubs KYC.
Bericht über eine Versammlung der U-Boots-Kameradschaft
(Ohne Datums- und Ortsangaben)
Auszüge:
Ehrengast ist der „von allen verehrte dereinstige Führer der U-Bootswaffe aus dem Weltkriege, jetziger Chef der Marinestation der Nordsee, Vize-Admiral Bauer“. Wenn mit der U-Bootswaffe, wird dieser zitiert, „im Kriege nicht das erreicht worden sei, was hätte erreicht werden können, so sei das nicht die Schuld ihrer Offiziere und Mannschaften. Was deren Tüchtigkeit, Mut und Tatkraft aus der Waffe gemacht haben, sei bei den Gegnern noch unvergessen und habe deren Politik auch weiterhin deutlich beeinflusst.“
„Mitgeteilt wurde, dass am 24. Mai die Weihe des Ehrenmals für die dem Weltkriege zum Opfer gefallenen U-Boots-Helden stattfinden werde. „Ein Kamerad aus Rendsburg lenkte die Gedanken hin auf die in der Nordmark unter dänischer Drangsal für ihr Deutschtum kämpfenden Volksgenossen und bat, ihrer nirgends zu vergessen.“
[67] Zum Vergleich seien an dieser Stelle Auszüge eines Berichts der „bürgerlichen“ „Weser-Zeitung“ vom 18. Mai zitiert:„Während seines Aufenthaltes in Bremen wurden Kronprinz Wilhelm und seine Familie überall da, wo er auf Spaziergängen oder Fahrten durch die Stadt mit der Bevölkerung in Berührung kam, freudige Kundgebungen zuteil. In mehreren Geschäften der Stadt hatte Kronprinz Wilhelm persönlich Einkäufe unternommen, und sobald er von der Menge erkannt war, wurden die Geschäfte … förmlich umlagert und dem Kronprinzen wurden beim Verlassen herzliche Ovationen entgegengebracht. …Freundlich begrüßte er auch die Arbeiter in den Flugzeugwerken (Focke–Wulff–Flugzeugbau, Junkers Luftverkehr AG, Deutscher Aero-Lloyd – d. Verf.) und der Eindruck seiner außerordentlich menschenfreundlichen Persönlichkeit löste starke Sympathien aus. … Auf dem Flugplatz hatte sich zufällig eine Schulklasse kleinerer Mädchen eingestellt, und die Begrüßung, die dem Kronprinzen durch die Kinder zuteil wurde, war besonders spontan und herzlich.“
Seite 53
Nach einer Juxdekorierung des Admirals mit dem Labskausorden „ließ Herr Direktor Wagenführ als Ehrenmitglied und Mitdekorierter zum Dank eine seiner humorgewürzten Ansprachen folgen, und damit war man mitten in dem gemütlichen Teile des Abends angelangt.“
1926 Keine Feiern in der Wallbar / Besuch von Graf Luckner und Frau
16 Seiten
Geburtstagsfeier im Ratskeller mit 130 Gästen. Es gibt keine Berichte über größere Veranstaltungen in der „Wall-Bar“.
Textauswahl:
„Anlässlich der Revision der AEG Bremen verlebte ich in dem gastfreien Hause des Herrn Wagenführ schöne Stunden, die mir unvergesslich bleiben werden. Bremen, den 6./7. September 1926.“
„Seit ungefähr zehn Jahren mal wieder hier. Alles wie früher. Herzlichen Dank. C. Rücker“[68]
„Wer nach Bremen kommt und kann zu dir nicht gehn, der hat das Beste in Bremen nicht gesehn. Dies sagt auch ein glücklich liebend Brautpaar.“ Unterschriften
18.9.1926 Graf Luckner auf einem riesigen Foto mit Ehefrau.
Der Text (linke Seite): „Mein letztes Haus, was ich vor meiner Weltreise besuchte, waren die trauten Räume meines Freundes Wagenführ! – Vergiß mich nicht Hannes! Ihr Freund Felix Luckner“
Der Text (rechte Seite, z. T. auf dem Foto): „Meinem lieben Hannes Wagenführ in aufrichtiger Bewunderung und treuer Anhänglichkeit von seinem Felix Graf Luckner.“
[68] Vgl. Kapitel „1920“.
Seite 54
1927 Besuch des „Kaiserlichen Yachtclubs“ in der Wallbar / Gerüchte über Zahlungsschwierigkeiten von Emil Fritz („Astoria“)
22 Seiten
(Wagenführ wird auf der Eiswettfeier in geheimer, schriftlicher Abstimmung zum neuen Präsidenten gewählt.)
18.1.1927 Feier der „Kaiserlichen Yacht-Schule“ in der „Wall-Bar“ mit 19 Jugendlichen
Text: Die Yacht-Schule des K.Y.C. dankt herzlich für den schönen Abend am 18.1.1927 und für die „einwandfreie“ Lotteria.
Große Geburtstagsfeier mit 141 Gästen zum Frühschoppen im Echosaal des Ratskellers, unter ihnen die „Eiswettgenossen“ Tom Grobien, G.A.Fürst, Franz Stapelfeldt, Hans Degener-Grischow, August Dubbers, Edmund Bartels und Willy Bartmann.
Text:
In die brausenden Hochs im Echosaal nicht mit einstimmen zu können, ist eine Qual. Zu Geburtstagswünschen den Bleistift spitzen und dabei auf dem Trockenen zu sitzen, das ist so gar nicht meine Art. Wischt lieber die Moseltröpfchen aus meinem Bart als Mitglied der prächtigen Tafelrunde, die um dich versammelt! In dieser Stunde entbiete ihr meinen treudeutschen Gruß! Dir selbst Glückauf! Mach nicht zu viel Schmuß! Junghans
1928 Telegramm Wilhelms II. aus dem Exil in Holland an den „Kaiserlichen Yachtclub Bremen“
18 Seiten
(Wagenführ steht zum ersten Mal der Eiswette als Präsident vor.)
Den Frühschoppen zur Geburtstagsfeier im Ratskeller unterzeichnen 137 Gäste, die Abendfeier 61, unter anderem Paul von Lettow-Vorbeck, Walter Caspari, Vize-Admiral Wilhelm Souchon, G.A. Fürst, Georg Daseking, Willy Bartmann und 27 Mitglieder des Kaiserlichen Yachtclubs Bremen. Allein 6 Seiten sind mit Unterschriften von der Geburtstagsfeier im Ratskeller gefüllt.
2 Seiten mit Fotos von Graf Luckner.
Im Juni dokumentiert das Gästebuch den Empfang des Atlantikfliegers Günther Freiherr von Hünefeld in Bremen, der mit den Piloten Köhl und Fitzmaurice die „Bremen“, eine Junkers W 33, zum erstenmal in Ostrichtung geflogen hatte. Ein großes Foto vom 29. Juni zeigt die Autofahrt durch die Obernstraße in der begeisterten Menge. [69] Ein zweites Foto auf der gleichen Seite – später hinzugefügt – zeigt die Trauerfeier für Hünefeld nach seinem Tod am 5. Februar 1929 in der Oberen Rathaushalle in Anwesenheit des Bremer Senats mit Bürgermeister Martin Donandt.
[69] Es ist wegen unklarer Rechtslage bei der Vervielfältigung nicht abgebildet.
Seite 55
Eintrag Frühjahr 1928:
„Vom Essighaus über den Ratskeller in die Wall-Bar.
Luft-Alarm fällt heute aus,
Darum auf ins Essighaus.
Ich darf bitten acht Uhr dreißig.
Doch wer ganz besonders fleißig,
Lenkt zum Markt hin seinen Lauf,
Sucht vorher den Keller auf.
Zum Schluss vereinen sich die Scharen,
wie bekannt als Wall-Barbaren.“
Text: „Dass die Wesermitglieder des K.Y.C. bei Anwesenheit ihres Vice-Commodore alter Tradition getreu ihres Commodore[70] huldigend gedacht haben, hat Mich sehr erfreut. Ich danke allen herzlich und sende beste Grüße. Wilhelm FR (Fredericus Rex)“
Am 7.7.1928 treffen sich in der „Wall-Bar“ Kommandanten und Offiziere der X. Torpedoboothalbflottille (V. Torpedobootflottille) G 11 („Führungsboot“), G 7, G 8 und G 10. Das fünfte zur Flottille gehörende Boot G 9 lief am 3. Mai 1918 auf eine Mine und sank. 31 Mann starben. Der Kommandant überlebte.[71]
[70] Wilhelm II. blieb auch im Exil „Commodore“ (Vorsitzender) des Kaiserlichen Yacht Clubs Kiel und seiner Dependance Bremen.
[71] Vgl.http://wiki-de.genealogy.net/kaiserliche_Marine_(bis_1918); www.denkmalprojekt.org/2016/kaiserliche-marine_grosses-torpedoboot_G-9.html
Seite 56
Text: „Alte Erinnerungen auffrischen und daraus Mut für die Zukunft schöpfen ist doch das Herrlichste im Leben. Der Wallbar und seinem vortrefflichen Wirt , dem getreuen Eckart aller U-Bootsführer herzlichen Dank! Unterschrift (Wallbarbar)
Seite 57
1929 Seltenes Foto: im Familienkreis
12 Seiten
Es wird keine Geburtstagsfeier im großen Rahmen angezeigt.
Drei Seiten zeigen Fotos mit Urlaubsmotiven ohne nähere Angaben.
1930 „Der Rattenfänger von Bremen“ / Glückwunschtelegramm von Senator Heinrich Bömers
18 Seiten
Einladung zum 59. Geburtstag 1930
Es gibt keine Gäste-Unterschriften und keine Einträge von der Feier. Den Jubilar erreichen am 8. Februar fünf Telegramme
Telegramm von Senator Heinrich Bömers am 8. Februar 1930 [72]:
„Dem hochverehrten und verdienten Geburtstagskinde bitte ich herzlichste Wünsche für viele weitere Jahre erfolgreicher Arbeit in Beruf und Freundeskreis aussprechen zu dürfen.“
Einige Urlaubsfotos am See sind ohne nähere Angaben eingefügt.
1931 Große Feier mit 300 Gästen zum 60. Geburtstag im Ratskeller
18 Seiten
Die Zahl der Gäste ist so groß, dass auch die Abendveranstaltung im Ratskeller stattfinden muss; der Frühschoppen um 12.00 Uhr im Bachuskeller, die abendliche Feier um 20.30 Uhr im Hauff-Saal. 15 der 18 Seiten aus dem Jahr 1931 sind allein der Geburtstagsfeier gewidmet, 13 Seiten tragen nur Unterschriften. 300 Gäste haben unterschrieben, darunter die Eiswette-Genossen, bzw. -Stammgäste Eduard Bartels, Georg Borttscheller, langjähriger Präsident der Eiswette nach dem Zweiten Weltkrieg, Hans Carl, Hans Degener-Grischow, Hugo Gebert, der Nachfolger von Wagenführ im Amt des Eiswette-Präsidenten, Tom Grobien, Gerhard Holsing und Heinrich Tietjen. Prominente Gäste sind u.a. Senator Heinrich Bömers, Freikorps-Mitglied und Polizeigeneral Caspari, General Paul von Lettow-Vorbeck, Franz Stapelfeldt, Direktor der AG Weser, Georg Daseking und August Kippenberg. Das Motiv „Wagenführ als Bierkutscher“ ist als Foto fünfmal abgebildet, drei Mal füllt es eine ganze Seite.
[72] Heinrich Bömers stirbt am 1. April 1932.
Seite 58
Weichardt hatte als „Einjährig-Freiwilliger“ Schiffbau-Eleve noch an einer Fahrt des Ausbildungs-Segelschiffs S.M.S. Stosch nach Ägypten teilgenommen, die 1907 verschrottet wurde. Er war zum 1. Weltkrieg nach Bremen gekommen, wo er bei der AG „Weser“ beim U-Boot-Bau arbeitete. Dort hat er Hans Wagenführ kennengelernt, mit dem ihn bis zu dessen Tod eine enge Freundschaft verband. Nach dem Krieg ausgemustert, bezog er als Baurat a.D. eine Pension. Er gründete im September 1919 in zusammen mit Eugen Krafft eine Firma in Bremen, die im Marinebau tätig war (Krafft & Weichardt OHG), die noch bis nach dem 2. Weltkrieg existierte. 1931 nahm ihn Wagenführ als Eiswettgenossen auf. (Alle Informationen von Rolf Marx am 23.12.2023)
1932 Letztes Foto / Untergang der „Niobe“ / Der letzte Gast
12 Seiten
Es findet sich kein Hinweis auf die Geburtstagsfeier. Es gibt keine Unterschriftenliste.
Im Sommer 1932 geht das Segelschulschiff „Niobe“ vor der Insel Fehmarn unter[73].
Im Gästebuch findet sich der erschütternde Bericht eines überlebenden Matrosen.
[73] Am 26. Juli 1932 kenterte die „Niobe“ im Fehmarnbelt in einer nicht vorhersehbaren Gewitterbö und sank in wenigen Minuten. 69 Matrosen kamen dabei ums Leben, 40 wurden von einem Feuerschiff und dem Dampfschiff „Therese Ruß“ gerettet. Ursache für das rasche Kentern war unter anderem der Umstand, dass wegen des guten Wetters alle Luken und Bullaugen geöffnet waren. Vgl. wikipedia Stichwort „Niobe (Schiff, 1913)“ vom 22.04.2018.
Seite 59
Exkurs: Der letzte Gast
Am 28. Oktober 1932 trägt sich der letzte Besucher in der „Wall-Bar“ ein
Otto Schniewind (1887 – 1964)[74]
Eisernes Kreuz II. und I. Klasse, 1917 Kapitänleutnant und Kommandant auf verschiedenen Torpedobooten, von September 1932 bis März 1934 Kommandant der „Köln“, machte in der Zeit des Nationalsozialismus Karriere: 1934 Chef des Stabes des Flottenkommandos, 1937 Konteradmiral und Chef des Marinewehramtes, 1938 Chef des Stabes der Seekriegsleitung, 1940 Vizeadmiral und Admiral, 1941 Flottenchef, 1943 Oberbefehlshaber des Marinegruppenkommandos Nord und damit Gerichtsherr über die Kriegsgerichte in seinem Zuständigkeitsbereich. Er hob am 1. Juni 1944 das Urteil gegen den Matrosen Walter Gröger, geboren am 27. Juni 1922, auf, der wegen Fahnenflucht zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, „weil auf Todesstrafe hätte erkannt werden sollen“ und setzte im neuen Prozess Hans Filbinger als Ankläger ein. Dieser beantragte die Todesstrafe wegen „charakterlicher Schwächen“ und Grögers militärischer Vorstrafen auf Basis einer „Führer-Richtlinie“ von 1940. Der von Schniewind bestimmte Marineoberstabsrichter Adolf Harms verurteilte Gröger am 22. Januar 1945 zum Tode. Am 16. März wurde er in Anwesenheit von Filbinger, der als höchster Offizier den Schießbefehl erteilte, hingerichtet. [75]
[74] Quelle für diesen Abschnitt: wikipedia.org/wiki/Otto_Schniewind_(Admiral) vom 6.05.2018.
[75] Quelle für diesen Abschnitt: Wikipedia, Stichwort „Walter Gröger“ am 20.05.2018.
Seite 60
Hans Filbinger (1913 – 2007)[76]
Filbinger war von 1966 bis 1978 Ministerpräsident, von 1971 bis 1979 CDU-Landesvorsitzender Baden-Württembergs. Durch Recherchen des Schriftstellers Rolf Hochhuth wurden das Schicksal Grögers und die Umstände seiner Hinrichtung in der Bundesrepublik bekannt. Es war das erste bekanntgewordene Todesurteil, das Hans Filbinger beantragt hatte. Nachdem weitere Todesurteilsanträge Filbingers bekannt wurden, die er zuvor bestritten hatte, trat er 1978 als Ministerpräsident zurück. Er entschuldigte sich nie bei Grögers Angehörigen. Nach Einschätzung von Historikern hatte Filbinger durchaus Ermessensspielraum, um die Todesstrafe für Gröger zu vermeiden. Hochhuth verarbeitete Filbingers Verhalten in seinem Theaterstück „Juristen“. Gröger wurde 2002 im Zuge des „Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile“ juristisch rehabilitiert.
Die „Köln“ (1928 bis 1945)
Die „Köln“ war ein leichter Kreuzer der Reichsmarine, Besatzung bei Indienststellung: 21 Offiziere und 493 Unteroffiziere und Mannschaften, zuletzt 820 Mann. Sie war die dritte und letzte Einheit der Königsberg-Klasse, lief am 23. Mai 1928 auf der Reichsmarinewerft Wilhelmshaven vom Stapel. Konrad Adenauer, damals Oberbürgermeister von Köln, hielt die Taufrede.[77] Er zeigte sich recht spendabel gegenüber der Besatzung, wie diese sich auf einem Treffen ehemaliger Besatzungsmitglieder im Jahr 2005 erinnerten.[78] Er versorgte sie mit Zigaretten und Zigarren, mit Rheinwein, Büchern, Schallplatten und Noten für die Bordkapelle. Seit dem 8.12.1932 unternahm sie Ausbildungsreisen für deutsche Offiziere. Im 2. Weltkrieg war sie zeitweise als Minenleger im Einsatz. Sie wurde in Norwegen bei einem Bombenangriff schwer beschädigt und zur Reparatur in den Kriegshafen Wilhelmshaven gebracht. Beim letzten großen Luftangriff der Alliierten auf Wilhelmshaven am 30. März 1945 trafen fünf amerikanische Bomben das Schiff, das auf Grund gesetzt wurde. Zu diesem Zeitpunkt waren nur noch wenige Besatzungsmitglieder an Bord, unter ihnen eine Anzahl Seekadetten in der Ausbildung. Die beiden achteren Drillingstürme blieben einsatzbereit und beschossen, bis die Munition verbraucht war, die von Süden her anrückenden britischen Kampfverbände und fügten ihnen noch Verluste zu. Anschließend wurde das Wrack gesprengt. [79]
Das „Naval Historical Team“ (1949 bis 1952) [80]
Nach der Kapitulation musste sich Schniewind im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess gegen das Oberkommando der Wehrmacht wegen seiner Rolle bei der Besetzung Norwegens verantworten. Er wurde freigesprochen und am 30. Oktober 1948 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen. 1949 setzte ihn die amerikanische Militärregierung ein als Leiter des „Naval Historical Teams“ in Bremerhaven (NHT). Das NHT war eine von der US-Marine aufgestellte Gruppe deutscher Marineoffiziere, die im amerikanischen Auftrag die Marine-Geschichte des Zweiten Weltkriegs aus deutscher Sicht aufarbeiten sollten.[81] Sie unterstand dem Marine-Nachrichtendienst „Office of Naval Intelligence“. Das Interesse der US-Marine galt vor allem den deutschen Kriegserfahrungen im Kampf gegen sowjetische Seestreitkräfte.
[76] Quelle für diesen Abschnitt: Wikipedia, Stichwort „Hans Filbinger am 20.5.2018.
[77] Anwesend waren außerdem Reichswehrminister Wilhelm Groener und der Chef der Marineabteilung, Admiral Hans Zenker.
[78] Vgl. Jürgen Peters, Ehemalige. Kreuzer „Köln“ gegen die Alliierten. In: Nordwest Zeitung (NWZ) online vom 30.03.2005.
[79] wikipedia.org/wiki/Köln_(Schiff,_1928)
[80] Quelle: wikipedia.org/wiki/Naval_Historical_Team am 6.05.2018.
[81] Außer Schniewind gehörten zum Team Vizeadmiral a.D. Friedrich Ruge, Vizeadmiral a.D. Hellmuth Heye, Konteradmiral a.D. Gerhard Wagner und Oberst a.D. Gaul. Zeitweilige Mitarbeiter waren Konteradmiral a.D. Eberhardt Godt, Kapitän zur See a.D. Hans-Rudolf Rösung und Fregattenkapitän a.D. Karl-Adolf Zenker.
Seite 61
Im Rahmen dieser Arbeit entstanden mit den sogenannten Wagner-Denkschriften von 1951 und 1952 die ersten konzeptionellen Leitlinien für die spätere deutsche Bundesmarine.[82]
Die Gästebücher als Zeitdokument
Was sich mit dem ersten Eintrag am 31. März 1914 harmlos und zivil anlässt, schlägt nur wenige Seiten und Monate später in Kriegsgeschehen um. Das Gästebuch verwandelt sich mit dem 22. August 1914, als Wagenführ zum sonntäglichen „Kriegskaffee“ einlädt, bis zum 8. Oktober 1920, als der letzte deutsche U-Boot-Kommandant aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen und mit einem Empfang in der „Wall-Bar“ geehrt wird, in eine Art Kriegsreportage, denn der Autor, obwohl wegen seines Alters nicht zum Kriegsdienst herangezogen, sucht und findet die Nähe der kämpfenden Truppe und nimmt aktiv am Krieg teil, ohne eine Waffe in die Hand zu nehmen. Weihnachten 1914 wird er, wie es Fotos dokumentieren, Teil einer Feldfliegerabteilung in Russisch Polen, deren Chef sein Bruder Felix ist. Seine erste weihnachtliche Bescherung für Soldaten bringt ihm eine Bestellung à la suite bei den Feldfliegern ein.
Im Februar 1916 nimmt er an einem militärischen Schulungslehrgang teil, der ihn berechtigt, das Geschützführer-Abzeichen 1. Klasse der Marine zu tragen. Es ist ein symbolischer Akt, der seine Verbundenheit mit der kaiserlichen Marine ausdrückt. Seine Insignien klebt er im Original an hervorragender Stelle ins Gästebuch. Während zunächst Zeitungsberichte von versenkten Bruttoregistertonnen regelmäßig Eingang ins Gästebuch finden, treten im Laufe des Krieges immer mehr einzelne Personen in den Mittelpunkt. Es sind in der Regel U-Boot-Kommandanten, die in Foto-Portraits, in der Regel als Halbfigur, teilweise mit Autograph und Unterschrift namentlich festgemacht, teilweise auch ohne Kennzeichnung abgebildet werden. Mit der Leidenschaft des Sammlers fügt Wagenführ viele Autogrammkarten ein. Er achtet darauf, dass auch die Namen der U-Boote genannt werden, denn sein Interesse gilt der gesamten U-Boot-Flotte und ihren Siegen. Im Mittelpunkt seines Interesses steht sehr bald die Unterseebootflottille Flandern. Allein ihre Boote finden sich mit den Unterschriften von 39 Kommandanten und den Namen der U-Boote über sieben Seiten aufgelistet. Das Gästebuch wird quasi ein Sammelalbum für deutsche U-Boote von 1914 – 1919.[83] Die große Zahl an Fotos führt zu entsprechenden Seitenzahlen: von 1914 bis 1919 hat jedes Jahr im Gästebuch durchschnittlich 46 Seiten – mit einem „Spitzenwert“ von 100 im Jahr 1915 – in die 165 Abbildungen von U-Boot-Fahrern eingeklebt sind.[84] Zumindest in den Kriegsjahren ist das Gästebuch kaum vom U-Boot-Tisch zu trennen. Zahlreiche Fotos von U-Boot-Kommandanten und Unterschriftenlisten von U-Boot-Besatzungen sind erkennbar nicht in der „Wall-Bar“ entstanden, sondern später eingeheftet worden.
[82] Zur ersten Führung der Bundesmarine gehörten aus dem Kreis der NHT die Admirale Ruge und Wagner.
[83] Um 1900 waren Sammelalben Mode, nachdem die Schokoladenfabrik Stollwerck damit begonnen hatte, Kunden mit Bildern zu allen möglichen Themen zu gewinnen, die in ein Album einzukleben waren. Ein Album aus der Frühzeit, das sich mit dem deutsch-französischen Krieg beschäftigte, trug den Titel „Tapfere Heerführer“.
[84] Insgesamt enthält das erste Gästebuch 268 Fotos von Offizieren, teilweise mit ihren Mannschaften. Der zweite Band von 1920 bis 1932 hat nur noch 23 Abbildungen von Militärs, darunter sind mehrere Portraits von Felix Graf von Luckner und zwei Fotos, auf denen Hindenburg abgelichtet ist.
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Wagenführ mag sie vom Stammtisch mitgebracht haben. Es ist aber durchaus auch denkbar, dass er das Gästebuch zeitweise dorthin mitgenommen hat, wie er das an seinen Geburtstagen ja auch zu tun pflegte. Dass die Gästebücher nach seinem Tod dem U-Boots-Tisch anvertraut wurden, ist durchaus folgerichtig und dürfte seinem Willen entsprochen haben.
Der Bruch in der Dokumentation erfolgt mit dem Ende des Kaiserreichs und dem Waffenstillstand vom 11. November 1918. Die Bruchstelle ist klar auszumachen: Es sind die Aufstände der Matrosen in Kiel und Wilhelmshaven am 6. und 7. November mit der Revolution in ihrem Gefolge. Zwei Traueranzeigen im Gästebuch vom 6./7. November bringen die maßlose Enttäuschung seiner Offiziers-Freunde von der U-Bootwaffe über die fehlende Würdigung ihrer militärischen Leistung und über die vergebliche Teilnahme am Krieg zum Ausdruck. Sie sind Höhepunkte der Dokumentation, sowohl in historischer wie auch in emotionaler Hinsicht. Der Untergang des Kaiserreichs beendet alle Hoffnungen und viele Illusionen. Das Ende der einst so stolzen kaiserlichen Marine wird als Kränkung, ja als persönliche Katastrophe empfunden, was in Anbetracht der maritimen Abrüstung im Gefolge des Versailler Vertrages bei den Berufs-Seeoffizieren eine realistische Einschätzung ist. Ein enger Freund Wagenführs, Korvettenkapitän Max Viebeg, wartet die weitere Entwicklung in Deutschland gar nicht erst ab. Er quittiert den Dienst in der Marne und wandert Anfang 1920 zur Gründung einer Teeplantage nach Indonesien aus. Viele Berufssoldaten werden Probleme bei der Eingliederung ins zivile Leben haben. Wagenführ wird einer Reihe von ihnen dabei praktische Hilfe leisten. Andere suchen Unterschlupf bei den Freikorps. Auch ihnen wird er verbunden bleiben.
Das Jahr 1920 ist mit dem Kapp -Putsch und der Rückkehr des letzten U-Boot-Kommandanten aus englischer Kriegsgefangenschaft noch einmal zeitgeschichtlich dokumentiert.[85] Dann nimmt die Zahl der Dokumente erheblich ab. Das wirkt sich auf die Seitenzahlen des Gästebuchs aus: in den Jahren 1921 bis 1932 liegen sie nur noch bei durchschnittlich 21.[86]
Das U-Boot-Thema tritt, den Zeitläuften entsprechend, in den Hintergrund. Im Kapp-Putsch nimmt Wagenführ Partei für die Aufständischen, als er für einige hundert See-Offiziere, die in der „Tausendmann-Kaserne“ in Wilhelmshaven von republikfreundlichen Deckoffizieren und einfachen Matrosen wegen ihrer „zweifelhaften“ Haltung zur Republik festgesetzt worden waren, die erhebliche Summe von 5000.- RM spendet. Den berühmten Vize-Admiral Adolf von Trotha, der für den folgenschweren Befehl zum Auslaufen der deutschen Flotte am 24. Oktober 1918 verantwortlich war und sich den Putschisten, wenn auch vergeblich, zur Verfügung gestellt hatte, ehrt Wagenführ 1921 mit einer besonderen Einladung. Dessen Dankesbrief heftet er an exponierter Stelle ins Gästebuch ein. Er empfängt auch den Vizeadmiral und Chef des III. Geschwaders, Paul Behnckes, der im Gästebuch von einem Abend „voll schöner Erinnerungen an unsere alte, stolze Marine und ihre Taten, besonders unserer U-Boots-Leute“ schwärmt. Politisch wird es nur noch einmal 1923, als ein Gast zur Zeit des „Ruhrkampfes“ mit zeichnerischen Mitteln einem französischen Soldaten im wahrsten Sinn des Wortes mit einer deutschen Faust „eins auf die Mütze gibt“. Die Kaisertreue bleibt Wagenführs Begleiter. Als Kronprinz Wilhelm von Preußen 1925 Bremen einen Besuch abstattet, lässt er es sich nicht nehmen, ihn in den Räumen des Kaiserlichen Yachtclubs Kiel – Dependance Bremen, dessen 1. Vorsitzender er seit Bestehen des Clubs ist, zu empfangen und mit „Hurra“ zu begrüßen.
[85] Es erstreckt sich über 66 Seiten.
[86] 1921 fällt wegen der Doppelfeier zum 50. Geburtstag und zum 25jährigen Dienstjubiläum mit 44 Seiten noch einmal aus dem Rahmen.
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Ein gedruckter Bericht darüber findet sich im Gästebuch, wie auch zahlreiche Fotos des Kronprinzen und seiner Entourage und eine Zeitungsreportage, die vor allem von Huldigungen des Thronfolgers durch die Bremer Bevölkerung berichtet. 1928 schickt der verblichene Glanz des Kaisers noch einmal einen Strahl in das Leben des Kaisertreuen. Wilhelm II. bedankt sich in einem Telegramm aus dem Exil in Doorn dafür, dass man seiner in der Bremer Dependance des Kaiserlichen Yachtclubs als Vice-Commodore „huldigend gedacht“ hat. So ist das zweite Gästebuch, das 1920 beginnt, vor allem eine Dokumentation der Stimmung, die in jenem Teil der Bevölkerung herrschte, der sich nicht mit dem Ende des Kaiserreichs abfinden konnte und der Republik zutiefst skeptisch bis feindlich gegenüber stand.
„Wall-Bar“ und Ratskeller
„Wenn ich auch gar nicht dichten kann, so fang ich trotzdem munter an, weil hier ein jeder dichten muss mit oder ohne Spiritus! Was gar nicht schwer bei solchem Feste, drum folgt dem Beispiel nun ihr Gäste!“ Der erste Eintrag vom 31. März 1914, Motto und Handlungsanweisung zugleich, ist Auftakt für zahllose weitere im gleichen Stil. Während sich Wagenführs Besucher bei seinen späteren Geburtstagsfeiern im Ratskeller nur mit ihrem Namen in sein Gästebuch eintrugen, ließen sie zu den Feiern in seiner Wohnung Am Wall von Anfang an ihrer dichterischen oder zeichnerischen Phantasie freien Lauf.[87] Es wimmelt nur so von Sprüchen und selbst gebastelten Poemen, die offensichtlich nur das Ziel hatten, gute Laune zu verbreiten und dem Gastgeber zu huldigen. Schon wenn der Gast die Wohnung Wagenführs Am Wall 77/78 betritt, verbreitet die besondere „Inneneinrichtung“ ein fröhliches Ambiente. Ihrem Ruf als Hochburg des Feierns wird die „Wall-Bar“ zu allen Zeitläuften gerecht, auch und gerade in den Kriegsjahren. „Prosit Neujahr 1915“, schreibt einer in riesigen Lettern ins Gästebuch zur Silvesterfeier 1914: „Diesmal war’s noch schöner als sonst! Kaum glaublich, aber wahr!“ Zum Weihnachtsfest 1915 stellt sich Freund Carl Stock zusammen mit Hauptmann Gustav Ober vom Ballon-Abwehr-Bataillon selbst dar, jubelnd , jeder ein Glas Champagner in der Hand. Lustige Verse des einen untermalen die gute Laune. Im März 1916 ist ein Gast „um ein Tausendundeinenacht-Erlebnis reicher geworden“. Der später gekonnt in Versen und Zeichnungen dargestellte „Bremer Droschkenraub“, ein Dummer-Jungen-Streich vom Juli 1917, trägt den Untertitel „eine wahre Begebenheit aus der Zeit, als der Krieg noch schön war.“
Auch der Hungerwinter 1916/17, als Wohnungen nach einem Kälteeinbruch mangels Kohle kaum mehr beheizt werden können und die Bevölkerung teilweise durch Suppenküchen notdürftig versorgt werden muss, kann die Stimmung nicht verderben. Vier Feiern dokumentieren das im Gästebuch um die Jahreswende im Dezember und Januar. Auf die Schlemmerei zur Indienststellung der U 61 am 3. Dezember folgt noch eine zünftige Silvesterfeier zu Ehren des Kapitäns Victor Dieckmann. Im Februar 1917 feiert Wagenführ zum ersten Mal seinen Geburtstag groß im Ratskeller als „außerordentliche Sitzung der „Wallbarbaren“. Der gereimte und bebilderte Eintrag im Gästebuch endet mit der Aufforderung: „Nun Wagenführ feiere beim Becherklang im U-bootshöchstbetriebe dein Fest.“ Im Laufe des Krieges widmet er die „Wall-Bar“ in einen Heimathafen der U-Boot-Leute um. Sie wird zur Entspannungs- und Zufluchtsstätte für U-Boot-Offiziere auf Kurzurlaub, zum „U-Bootshaus“. Gut drei Jahre lang ist die „Wall-Bar“ vor allem ein Ort des Feierns für U-Boot-Offiziere. Seit 1915 finden sich zahllose Danksagungen von U-Bootleuten, oft in Verse gekleidet. Wagenführ wird „U-Boot-Vater“, „U-Boot-Onkel“, der „getreue Eckart aller U-Bootsführer“. Am 17.4.1918 schreibt ein Oberleutnant zur See, Kommandant von S.M. UD 124 die Zeilen: „Am Tage meiner Einklarierung in der Wallbar rufe ich unserem lieben U-Boot-Vater in heller Begeisterung zu: Jetzt habe ich „das“ Fleckchen Erde auf der weiten Welt gefunden, auf dem es für uns U-Bootsleute nur Sonnenschein gibt.“
[87] Vgl. besonders den 1. Band.
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In keiner Bremer Wohnung dürfte in den Kriegsjahren so oft, so laut und so lange in die Nacht hinein gefeiert worden sein, wie in der „Wall-Bar“. Sie ist aber mehr als eine Feier-Hochburg. Felix Graf von Luckner, regelmäßiger Besucher und Freund, fasst rückblickend seinen Eindruck so zusammen: „Hannes, deine Bude mit all dem, was ich so liebe, war mein Ankerplatz, nachdem ich mit der Seeadler zurückkehrte.“ Abiturienten machen hier schon mal ihre Hausaufgaben und feiern ihr Abitur, bevor sie an die Front gehen. Freunde nutzen sie als Ort ihrer Geburtstagsfeiern, entlassene Offiziere danken für ein Nachtquartier. Es sind vor allem Männergesellschaften, die hier einfallen, wo im Juli 1917 vier Kadetten „nach Besichtigung dieses schönen Junggesellenheims“ bekanntgeben, dass sie sich „vorgenommen haben, nicht zu heiraten.“ Auch Frauen finden sich das eine oder andere Mal ein. Im August 1916 schwärmt eine Dame aus Budapest von dem schönen Heim „voll deutschen Gemüts, deutscher Gastfreundschaft, deutscher Kultur und deutschen Humors.“
Erst 1918 nimmt die Lust an großen Feiern ab, als Wagenführ seinen Geburtstag nur im kleinen Kreis begeht und sowohl Weihnachts- als auch Silvesterfeier ausfallen, wenn man den Aufzeichnungen folgt. Für 1919 ist gar nur eine Feier im engen Familienkreis verzeichnet; die Weihnachtsfeier beschränkt sich auf fünf Teilnehmer. Ab 1920 dreht der Gastgeber dann wieder das große Rad, als er jedes Jahr zu seinen Geburtstagen in den Ratskeller einlädt. 1920 kommen schon über 100 Gäste, und es werden immer mehr. Ihre Zahl pendelt sich in den kommenden Jahren zwischen 140 und 200 ein und erreicht ihren höchsten Stand zur Feier seines 60. Geburtstags, als sich 300 Unterschriften über dreizehn Seiten des Gästebuchs erstrecken. Zunächst sind die Geburtstagsfeiern noch geteilt: Nach dem Frühschoppen im Ratskeller findet eine abendliche Feier in der „Wall-Bar“ statt. Die große Zahl der Geburtstags-Gäste erfordet es schließlich, dass sie sich ganz im Ratskeller abspielen. Die Anzahl der phantasievollen Verkleidungen, in denen Wagenführ sich auf den Geburtstags-Einladungen präsentiert, lassen darauf schließen, dass auch in den Jahren 1929, 1930 und 1932 Frühschoppen stattfinden, obwohl es in diesen Jahren keine Unterschriftenlisten gibt. Zu seinem 49. Geburtstag 1920 hatte ein Gast einige pfiffige Verse verfasst, die mit dem folgenden lustigen Vierzeiler beginnen:
„Vom Wall zum Keller sind ‘ne Menge Schritte –
Jedoch – die AEG liegt in der Mitte.
Dort machst Du dann, auf Deinem Weg vom Hause
Zum Keller hin alltäglich kurz ‘ne Pause.“
Der Ratskeller ist neben der Wall-Bar und dem AEG-Büro gewissermaßen der dritte Mittelpunkt einer gedachten Ellipsen-Achse, auf der sich Wagenführs Leben abspielt: nicht länger als ein Kilometer und bequem zu Fuß abzuschreiten.
Wer war Hans Wagenführ? / Die Familie
Wer war dieser Hans Wagenführ, der so viel Spaß daran hatte, in verschiedene Rollen zu schlüpfen? Felix Graf von Luckner, mehrfach mit Star-Fotos und Texten im Gästebuch vertreten, hat sie so beantwortet: „Durch dich habe ich Bremen mit seinem vornehmen Hanseatengeist – kalt nach außen, aber warm im Innern – erst richtig schätzen und und lieben gelernt.“ In Wirklichkeit war Wagenführ nicht „kalt“, sondern im Gegenteil eine liebenswürdige, fröhliche und charmante Erscheinung. Die gute Laune des „lieben Onkel Hans“ mit seinem „nie versiegenden Humor“ waren ebenso Teil seiner Beliebtheit, wie seine legendäre Gastfreundschaft. Mit dem Mythos des vornehmen Hanseaten ist seiner Persönlichkeit nicht beizukommen. Nur seine Bescheidenheit geht in diese Richtung, seine Zurückhaltung, wenn es um das Darstellen eigener Verdienste geht oder das Zurschaustellen von Ehrungen. In den Gästebüchern findet sich kein Foto, das ihm mit dem Eisernen Kreuz abbildet, mit der „Silbernen Medaille“ der Eiswettgenossenschaft oder inmitten beschenkter Seeleute. Es gibt auch kein Foto, das ihn als Präsidenten auf einer der Eiswettfeiern in der Glocke zeigt. Selbst das Foto als Vorsitzender des Kaiserlichen Yachtclubs findet sich nicht im Gästebuch. Es ist ein Zufallsfund aus dem Bremer Staatsarchiv. Er nutzt das Gästebuch nicht zur Darstellung seiner Verdienste. Erst der Nachruf in den Bremer Nachrichten gibt ein Bild davon, wie sehr er in der bürgerlichen Bremer Gesellschaft angekommen war. In die lange Reihe seiner gleichsam naturgegebenen angenehmen Eigenschaften lässt sich eine allerdings nicht so ohne weiteres stellen, denn seine gerühmte Hilfsbereitschaft übte er nur in dem gesellschaftlichen Segment aus, das – wie seine Berufstätigkeit – militärisch ausgerichtet war: bei den kämpfenden Truppen in Russisch Polen, bei den U-Boot-Mannschaften in Wilhelmshaven, als Gastgeber der U-Boot-Offiziere und bei der Eingliederung von U-Boot-Fahrern in das zivile Leben. Nach dem Krieg suchte er die Nähe von Vertretern der „vaterländischen Verbände“. Er war Mitglied im „Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten“ und im „Nationalen Deutschen Offiziersverband“. In den Anzeigen zu seinem Tod attestierte ihm der erste, „Kämpfer für die großen Ziele unseres Bundes“ gewesen zu sein, der zweite lobte ihn wegen „seiner überragenden treuen und sich betätigenden Kameradschaft“. Er hatte sein fröhliches Leben in der Mitte eines militärischen Milieus eingerichtet. Diesem friedlichen und gutmütigen Mann schlugen zwei Herzen in der Brust. Als Steuermann der Eiswette trug er entscheidend dazu bei, dass sie in nationalistisches Fahrwasser geriet. Und doch sind in den Zeitungsberichten über seine Beiträge auf den Eiswetten keine Spuren von radikalen rechten Parolen zu finden. So hat er das auch in den Gästebüchern gehalten. Die Siegesparolen, die hier und da im Gästebuch auftauchen, stammen alle von seinen Besuchern. Es sind solche, wie sie seinerzeit in den kriegführenden Ländern gang und gäbe waren. Man kann sich Wagenführ nicht im Milieu verräucherter Bierkneipen-Hinterzimmer oder auf Stahlhelm-Veranstaltungen vorstellen, markige Reden schwingend. Seine bacchantischen Feiern waren eher wein- als bierselig, auch wenn es seine Gäste offensichtlich manches Mal anders hielten. Sein Getränk war der deutsche Wein, wie ihn der Ratskeller in seinen Gewölben lagerte. Er brachte der Kühnheit des Kriegers zwar grenzenlose Bewunderung entgegen, aber ihm selbst fehlte jedes aggressive Potential, um es ihm gleichzutun. Seine Reaktion auf den Untergang des geliebten Kaiserreichs und auf das Ende der stolzen kaiserlichen Marine war nicht Verbitterung und Hass, sondern Trauer und Spott, wie er sie in den Anzeigen der U-Boot-Kommandanten und in der Karikatur der neuen Machteliten um Ebert und Noske zum Ausdruck brachte. Ihm reichte es, weiterhin im Milieu seiner politischen Couleur leben zu können. Sein „sonniges Gemüt“ – das ihm ein Besucher im Gästebuch attestierte – war es wohl, das ihn die krassen Widersprüche ausblenden oder aushalten ließen, die sein Leben begleiteten.
Die Familie
Von den Eltern, den drei Brüdern und der Schwester gibt es in den Gästebüchern nur wenige Spuren. Fotos mit Familienmitgliedern sind selten. Sie tragen – mit Ausnahme von Bruder Felix – weder Namen, noch Orts- oder Zeitangaben. Als Familie haben die Wagenführs nur einen Auftritt, als man sich 1919 zu einer Feier „Zum Ausklang seel’ger Hochzeitsstunden“ in der „Wall-Bar“ trifft. Ein Foto der Feier gibt es nicht. Der Leser erfährt auch nicht, wer aus dem Familienkreis sich damals verheiratet hat. Die Eltern erscheinen in den Gästebüchern nur einmal und nur indirekt, als sie 1920 ihre Genesungswünsche für den Krankenhaus-Patienten durch einen Berliner Besucher überbringen lassen. Es überrascht nicht, dass seine Gästebücher nicht von einem Familienmitglied aufgehoben wurden, sondern von einem Stammtisch-Mitglied des U-Boot-Tischs. [88] Ein eigenes Familienleben hat Wagenführ nicht geführt. Er war nicht – wie sein unglücklicher Zeitgenosse, der letzte kaiserliche Reichskanzler Prinz Max von Baden – dynastischen Zwängen ausgesetzt, die ihn dazu hätten drängen können, eine Ehe einzugehen, um einen Sohn zu zeugen.[89] Er hatte das Glück, gesellschaftlich hoch geachtet, ein Leben führen zu können, das seinen Anlagen entsprach.
[88] Etwas zahlreicher sind Urlaubsfotos, wobei auch hier – mit einer Ausnahme – jeder Hinweis auf Ort, Zeit und meistens auch auf Begleitpersonen fehlt. Im August 1915 unternimmt er einen Segeltörn; im März 1915 macht er Urlaub am See; im September 1920 ist er in Schwarzberg/Thüringen; 1929 sind mehrere Fotos von einem USA-Aufenthalt eingeklebt mit Ansicht der Niagara-Fälle; im Januar 1931 wandert er im verschneiten Hochgebirge; das letzte Foto zeigt ihn allein auf einem Segelboot.
[89] Vgl. Lothar Machtan, Prinz Max von Baden. Der letzte Kanzler des Kaisers. Eine Biographie. Berlin 2013.
Früher Tod
Am 7. Dezember 1932 starb Hans Wagenführ plötzlich, aber wohl nicht unerwartet. Im redaktionellen Nachruf der Bremer Nachrichten vom 8. Dezember heißt es, dass er „einem alten Leiden erlegen“ sei. Es würde der Wirklichkeit dieses munteren Lebens nicht gerecht, wollte man von einem Leidensweg sprechen, aber seine Krankheit – offensichtlich eine Diabetes – hat ihn mindestens elf Jahre lang begleitet. Vom 9. Dezember 1920 bis zum 9. März 1921 lag er in der Chirurgischen Privatklinik St.Jürgenstraße, wo ihm ein Zeh amputiert wurde.
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Nun war er es, der fürsorglicher Ansprache bedurfte. Dem Gästebuch, das er mitgenommen hatte, ist zu entnehmen, dass er in den drei Monaten seines Klinikaufenthalts nicht weniger als 159 Besucher empfing, deren Genesungswünsche, Sprüche, Gedichte, Zeichnungen und Fotos sich über 22 Seiten erstrecken. Zwei seiner Brüder besuchen ihn, und auch von der AEG Bremen erhält er Besuch (Eintrag: „Unserem verehrten Chef“). Alle anderen sind Freunde und Bekannte, die ihm einzeln, als Ehepaare oder in der Gruppe ihre Aufwartung machen. Einige wünschen sich, dass er sich bald wieder als Gast bei ihnen einfinden möge. Da werden auch Stammtische genannt (z.B. „Der blaue Montag“), sogar der Wirt des bekannten Ausflugslokals „Gartelmanns Hof“ im Blockland begibt sich an sein Krankenlager.
Besonders beeindruckend ist die Weihnachtsfeier, die Freunde für ihn im Krankenhaus veranstalten. Eine Krankenschwester lässt es sich nicht nehmen, ihm ein Gedicht zu schreiben, das sie in feinstem Sütterlin einträgt. 37 Besucher versammeln sich am 25. Dezember 1920 an seinem Krankenbett. Eine legendäre Gastfreundschaft findet ihr Echo.
Die Verse von Schwester Elise
In des Krankenhauses Hallen
Kann mir nichts so sehr gefallen,
Als wenn trauter Schwesternkreis
Mich liebevoll zu nehmen weiß.
Wenn sie mir die Schmerzen lindern,
Meine Ungeduld verhindern,
Leihen meinem grand Humor
Willig noch ihr zartes Ohr,
Ja, führen unterm Weihnachtsbaum
Mich in der Kindheit Jugendtraum.
Unterschriften der Schwestern Johanne, Marie und Hannchen
Der Sänger und Schauspieler Robert Steidl besucht ihn und trägt ins Gästebuch ein:
„Ich dachte vorzufinden den Patienten voll Leid und Weh. Prost Mahlzeit! Den lustigen Wallbären als Caruso ! mit hohem Zeh. Heil! Heil! Heil! Der heitere Heilgehilfe.“
Ein weiterer Eintrag: „Der Umweg über Bremen hat sich gelohnt. So einen Krankenverein gibt es nicht anderwärts und so einen vergnügten Kranken auch nicht.“
Hugo Gebert, sein Nachfolger im Amt des Eiswett-Präsidenten, schreibt ihm am 1.2.1921 folgende Verse:
„Was braucht der Mensch denn grade Zehe.
Du kannst ja auch auf wen’ger gehe,
So denkt der Doktor, wetzt die Scher‘.
Die Ringzeh links, sie ist nicht mehr.
Lass darum deinen Mut nicht sinken.
Die Kehle bleibt ja unversehrt.
Du brauchst die Zeh ja nicht zum Trinken.
Sie hat sich lang genug bewährt.
Beginn das Jahr drum froh und heiter
Und bleibe all so wie bisher.
Dich kriegt ein wenig Weh nicht unter.
Ein futscher Zeh noch weniger.
Am 8. Februar unterbricht er den Klinikaufenthalt zur Feier seines 50. Geburtstags im Ratskeller. Es kommen 186 Gäste. Am 9. März wird er endgültig entlassen.
Bei seinem zweiten Hospitalaufenthalt 1927, als er sich wieder einer Amputation unterziehen muss, erreicht ihn diese Postkarte seines Freundes Carl Stock, dessen Zeichnung nicht so lustig ist, wie sie auf den ersten Blick scheint.
Text:
„Hannes
Drückt dieser Knocken Knopp noch mal auf‘s Knöpp’chen
So hast du bald das letzte Tröppchen
Zu deiner keuschen Brust gesogen.
Drum Vorsicht alter Freund!
Sagt Kaarl, der’s gut nur mit dir meint.
Die Ursache für seinen plötzlichen Tod war allem Anschein nach Unterzuckerung.[90] Die Zehenamputationen 1920 und 1927 sprechen eine deutliche Sprache. Ein wirksames Mittel gegen Diabetes gab es noch nicht. Die verheerende Wirkung des Alkohols auf die Krankheit dürfte aber, wie die Zeichnung von Carl Stock bezeugt, bekannt gewesen sein. Es ist übrigens das einzige Mal, dass im Gästebuch Alkohol als Problem berührt wird, kein Wunder, sind die Einträge auf 700 Seiten doch ein einziges Loblied auf bacchantische Freuden. Der bedenkenlose Weingenuss als „Begleitung“ der Diabetes dürfte zu seinem frühen Tod mit beigetragen haben. Hans Wagenführ starb zwei Monate vor Vollendung seines 62. Lebensjahres am 7. Dezember 1932, keine zwei Monate vor der Machtübertragung an Adolf Hitler. Er wurde auf dem Riensberger Friedhof in Bremen beerdigt.
Fünf von acht Todesanzeigen am 9. Und 10. Dezember 1932 in den „Bremer Nachrichten“. Die Eiswettgenossenschaft hatte keine geschaltet.
[90] Um die Jahrhundertwende starben noch rund 60 Prozent der Diabetiker im „diabetischen Koma“, einer akuten Stoffwechselvergiftung, die zu Bewusstlosigkeit und Tod führt. Erst 1926 wurde Insulin in reiner Form dargestellt.
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Die AEG hatte drei Anzeigen geschaltet. Der kaufmännische Direktor in Bremen, Paul Schwerdt, beklagte den Verlust eines „allzeit treuen, älteren Freundes“, die Angestellten und Arbeiter veröffentlichten eine eigene Anzeige für den “stets hilfsbereiten und wohlwollenden Vorgesetzten.“ Die AEG-Direktion in Berlin lobte in ihrer Anzeige die „rastlose Arbeit“ Wagenführs und „neben seinen geschäftlichen Fähigkeiten“ auch „seine persönlichen Eigenschaften.“
Die Todesanzeige der Familie
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Das Gästebuch des „U-Boots-Tischs“ von 1996 bis 2015
Vorderseite
Rückseite
Durch glückliche Umstände kam der U-Boots-Tisch jüngst in den Besitz dieses versilberten Geschenktellers für den U-Boot-Kommandanten im Ersten Weltkrieg, den späteren Kapitän zur See Walther Strasser zu seinem Geburtstag am 23.12.1953 mit den eingravierten Unterschriften der Stammtisch-Mitglieder.
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die Tradition der vierzehntäglichen U-Boots-Tische im Ratskeller fort, aber die Zahl der unmittelbar mit den U-Boot-Kommandanten verwandten Teilnehmer wurde immer kleiner. Die Ehefrauen waren längst mit von der Partie. 1996 wurde ein eigenes Gästebuch mit den Teilnehmer-Unterschriften und der Dokumentation privater Ausflüge angelegt. Es ist das dritte Gästebuch in der Reihe der dem Staatsarchiv übergebenen Dokumente. Die 100-Jahr-Feier im Dezember 2015 schien den Stammtisch-Mitgliedern ein angemessener Anlass zu sein, um die Übergabe der drei Gästebücher an das Staatsarchiv Bremen in die Wege zu leiten und gleichzeitig ihre Tradition zu beenden.
[91] Walther (so die richtige Schreibweise) Strasser nahm, nachdem er zum Kommandanten in Bremen ernannt worden war, regelmäßig am Stammtisch teil, unterbrochen durch den 2. Weltkrieg und die ersten Jahre des Wiederaufbaus. Es gibt ein „Logbuch“ mit den Protokollen der Sitzungen und mit witzigen Zeichnungen von ihm. Daraus geht hervor, dass man in den fünfziger Jahren zur Spargelzeit jährlich sogar eine „Schiffsreise“ zu den Badener Bergen veranstaltete.
[92] Eiswettgenossen waren auch Alexander Albrecht, Willi Braune, Carl, W. Christian, W. Engehausen, Heinrich Jess (Kapitän zur See und U-Boot-Fahrer im 1.Weltkrieg, der es beim Aufbau der Marine eines südamerikanischen Staates zum Admiral gebracht haben soll), Ernst Rodenberg und Paul Schwerdt.( Vgl. Mitgliederliste von 1954 in der Festschrift zum 125. Jubiläum der Eiswette, a.a.O). Die anderen siebzehn Namen (zum Teil unleserlich) sind: Lui Brauner, Droß, Gese, Hamann (?) Hehrhahn, G.Kier oder Kies, Lauenburg, Fritz Pesler oder Resler, Riemeyer, Röhmer, Rosemeyer, Friedrich Stuttmann, Otto Tinschert, Walter ???, Wolfen, Wuthmann(?) und Opmann(?).
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Die Eiswette von 1929 bis 1933. Reichswehr, Freikorps und Stahlhelm
Es waren Aktive der republikfeindlichen Szene, die in Wagenführs Jahren als Präsident auf der Eiswette eine Bühne fanden und die mit nationalistischen Tönen das Flair der Vorkriegsveranstaltungen merklich veränderten. Die privat zu seinen Geburtstagen eingeladenen Walter Caspari und Paul von Lettow-Vorbeck erhielten von ihm auch Gelegenheit, als Redner auf den Eiswetten aufzutreten.[93a] Paul von Lettow-Vorbeck , Befehlshaber der deutschen „Schutztruppen“ in Deutsch-Ostafrika, 1920 aktiver Teilnehmer beim Kapp-Putsch, bewegte sich auf der politischen Grenzlinie vieler Eiswettgenossen, die einerseits republikskeptisch bis -feindlich eingestellt waren, andererseits auch Vorbehalte gegen die Nationalsozialisten hatten.
[93] Hier machte Kaiser Wilhelm II. jedes Jahr von 1890 bis 1914 bei einem Frühschoppen Zwischenstation auf dem Weg zur Flotte in Wilhelmshaven.
[93a] Caspari war 1930, 1931 und wahrscheinlich auch 1929, 1932 und 1933 Gast (dann noch einmal 1939). Lettow-Vorbeck war 1931 Gast und hielt 1933 (wie auch 1935) die zentrale „Deutschland-Rede“. (1937 hielt er die „Bremen-Rede“ und war 1938 wieder zur „Deutschland-Rede“ eingeladen, konnte aus Krankheitsgründen aber nicht kommen.). Vgl. die Berichterstattung in den „Bremer Nachrichten“ und in der „Bremer Zeitung“ in den entsprechenden Jahren.
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Schon 1919 war er Mitglied der Bremer Ortsgruppe des „Stahlhelm“ geworden[94], der „aus seiner Fundamentalopposition gegen Weimar“[95] kein Hehl machte. 1928 ließ der Stahlhelm verlauten: „ Wir hassen mit ganzer Seele den augenblicklichen Staatsaufbau, seine Form und seinen Inhalt.“ Er versperrt den Weg, „unser geknechtetes Vaterland zu befreien … den notwendigen Lebensraum im Osten zu gewinnen, das deutsche Volk wieder wehrhaft zu machen.“[96] Polizeioffizier Walter Caspari, Chef der Schutzpolizei Bremen, der entscheidend zur militärischen Niederschlagung der der Bremer Räterepublik beigetragen hatte, war bis 1939 regelmäßiger Gast. Wagenführ lud auch Forstrat Georg Escherich als Redner ein, der zur Zeit der Münchener Räterepublik die rechtsradikale „Orgesch“ gegründet hatte, den „wichtigsten paramilitärischen Verband der Nachkriegszeit“ [97] mit zeitweilig bis zu einer Million bewaffneter Mitglieder. Er war in Bremen schon 1925 in Erscheinung getreten, als er am 16. Januar auf einer der Reichsgründungsfeiern des „Stahlhelm“ einen Vortrag gehalten hatte.[98] Die „Weser-Zeitung“ mit ihrem Chefredakteur, dem späteren Eiswett-Präsidenten Georg Borttscheller, war der Überzeugung, dass der hochverdiente Organisator der Einwohnerwehren „die Eiswette von 1930 aus dem traditionellen Rahmen“ herausgehoben hätte,[99] und der spätere Eiswett-Präsident Hugo Gebert dankte ihm 1931 für die Verdienste, die er sich „durch die Wiederherstellung der Ordnung in Bayern und Deutschland erworben“ hatte.[100] Wagenführ sorgte dafür, dass die Kommandanten der Marineleitstelle in Bremen regelmäßig Gäste der Eiswette wurden. Als der Marine Militärverein am Vorabend der Eiswette von 1930 die Mannschaft einer „Torpedoboot-Flottille“ „in ihrer schmucken Paradeuniform“ mit klingendem Spiel vom Bremer Freihafen zum Festlokal begleitet hatte,[101] ließ er es sich nehmen, ihre Offiziere am nächsten Tag als Gäste einzuladen. Uniformträger aller Waffengattungen gehörten inzwischen zum Erscheinungsbild der Eiswette. In der lokalen Presse wurden sie mit Namen, Funktion und Titel jeweils besonders hervorgehoben. Ein General Ronques aus Hannover dürfte Wagenführ aus der Seele gesprochen haben, als er „in zu Herzen gehenden Worten für eine enge Verbindung von Heer, Marine und Bevölkerung und für die soldatische Ertüchtigung unserer Jugend“[102] plädierte. Wagenführ sorgte dafür, dass auch der musikalische Rahmen der Eiswette militärisch wurde.
[94] Vgl. Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen III, Erweiterte und verbesserte Auflage, Bremen 1995, S. 211; vgl. Hartmut Müller, Die Bremer Jahre des Generals Paul von Lettow-Vorbeck. In: Soziale Demokratie und sozialistische Theorie. Festschrift für Hans-Josef Steinberg zum 60. Geburtstag, hrsg. von Inge Marßolek und Till Schelz-Brandenburg. Bremen 1995, S. 89 – 96.
[95] Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 4. Band Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, 2.Auflage 2003, S. 391.
[96] Aus der „Fürstenwalder Hassbotschaft“ vom 2. September 1928, zitiert bei Hans-Ulrich Wehler, a.a.O., S. 391/392.
[97] Hans-Ulrich Wehler, a.a.O., S. 386/387. Vgl. auch Herbert Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen. Bd. III, Bremen in der Weimarer Republik (11919 – 1933), Bremen 1995, S. 211.
[98] Vgl. Fritz Peters, Zwölf Jahre Bremen. 1921 – 1932. Eine Chronik. Bremen 1938, hrsg. von der Historischen Gesellschaft, S. 63.
[99] Weser-Zeitung vom 14.01.1930.
[100] Weser-Zeitung vom 14.01. 1931.
[101] Vgl. „Bremer Nachrichten“ vom 14.01.1930.
[102] „Bremer Nachrichten“ vom 10.01.1933. Bericht über die Eiswette.
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Es spielte nun die Reichswehrkapelle des Bremer Bataillons. Das Totengedenken an die verstorbenen Eiswettgenossen, das vor dem Krieg mit einer schlichten Namensnennung einen rein zivilen Charakter hatte, wurde im abgedunkelten Saal ein feierliches Ritual zum Gedenken an die Toten des Weltkriegs. Wagenführ hatte mit der Neugestaltung der Feier den Nerv der Eiswettgenossen getroffen. Auf der Veranstaltung von 1931 lobte ihn Senator Heinrich Bömers uneingeschränkt dafür, „dass er aus der Eiswette in den letzten Jahren das gemacht hätte, was sie heute ist.“[103] Für 1932 gibt es ausnahmsweise keine Zeitungsberichterstattung, dafür einen nicht namentlich gezeichneten Artikel in den „Bremer Nachrichten“ vom 7. Januar, der die Frage aufwarf, „ob angesichts der allgemeinen Notlage unseres Volkes Veranstaltungen von Festlichkeiten überhaupt noch angebracht“ wären. Es ginge nicht darum, generell „traditionelle gewordene Festlichkeiten“ abzusagen, sondern darum, sie „in einem der Zeit entsprechenden Rahmen“ stattfinden zu lassen. Angesichts des Datums der Veröffentlichung ist eine gezielte Argumentation in Richtung auf die traditionelle Schlemmerei der Eiswette durchaus vorstellbar.[104]
[103] „Weser-Zeitung“ vom 13.01.1931.
[104] „Festlichkeiten in dieser Zeit?“ „Bremer Nachrichten“ vom 7.1.1932. Darin wurde zwar einerseits betont, dass „die Abhaltung von Festlichkeiten in einem der Zeit entsprechenden Rahmen für viele Gewerbezweige … von nicht zu unterschätzender wirtschaftlicher Bedeutung“ wäre. Aber im Weiteren hieß es: „Es soll hier nicht rauschenden und überschwänglichen Festlichkeiten, die mit der allgemeinen Not weiter Volkskreise nicht in Einklang zu bringen sind ,,das Wort geredet werden.“ Die Schaffermahlzeit wurde im gleichen Jahr wegen der „Notzeiten des Vaterlandes“ abgesagt. Vgl. Rüdiger Hoffmann, Die Schaffermahlzeit und das Haus Seefahrt in Bremen, hrsg. Von der Bremer Landesbank Kreditanstalt Oldenburg, Bremen 2007, S.84. Die erste Mahlzeit nach dem Ersten Weltkrieg hatte das Haus Seefahrt aus ähnlichen Gründen erst 1927 veranstaltet.
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Exkurs: „Staats-Streich“: Eiswettgenossen enthüllen vorzeitig das Deutsche Kolonialdenkmal (1932)
Seit die Shakespeare-Company 2016 die szenische Lesung „Bremen – Stadt der Kolonien?“ auf die Bühne gebracht hat, wissen die Bremer, dass ihr „Anti-Kolonialdenkmal“, der rote Klinker-Elefant an der Gustav-Deetjen-Allee, zweimal eingeweiht wurde. Nach Hegel ereignet sich alles große geschichtliche Geschehen zwei Mal. Und Marx fügte hinzu: beim ersten Mal als Tragödie und beim zweiten Mal als Farce. In diesem Fall war es umgekehrt: Eine Gruppe von unbeschwerten deutschen Nationalisten, vor allem aus dem Eiswette-Milieu, nahm dem Elefanten, der schon seit Anfang 1931 fertiggestellt war, im November einfach die verhüllende Plane ab, lange bevor er sich die Reden über die glorreiche koloniale Vergangenheit und Zukunft des Deutschen Reichs anhören musste, die zur Feier seiner Einweihung gehalten würden. Diese war zunächst auf unabsehbare Zeit einem Verbot von Versammlungen unter freiem Himmel zum Opfer gefallen, die der Polizeipräsident über die Stadt verhängt hatte. In jenen Tagen war der Wunsch in der Bremer Kaufmannschaft groß, das Denkmal bremischen Drangs nach buten der deutschen Öffentlichkeit nicht länger vorzuenthalten. Die Initiative zum Bau durch die Bremer Abteilung der „Deutschen Kolonialgesellschaft“ war von einem breiten rechtsnationalen Bündnis unter Einschluss von Banken und bremischen Überseefirmen, auch durch Geldspenden aus der Kaufmannschaft, unterstützt worden. Es begab sich, dass just dem Denkmal gegenüber, in der Blumenthalstraße, der Straße mit der größten Millionärsdichte in der Stadt [342] und eine ihrer schönsten Villen-Straßen, nicht nur Eiswettgenosse Carl A. Wuppesahl wohnte, der sich jeden Tag „darüber ärgerte“, dass er „diese Baustelle … immer vor Augen hatte,“[343] sondern sechs weitere Kaufleute, die seinen Ärger geteilt und ihn in seinem Vorhaben gestärkt haben dürften.[344]
[341] „Festlichkeiten in dieser Zeit?“ BN vom 7.1.1932. Darin wurde zwar einerseits betont, dass „die Abhaltung von Festlichkeiten in einem der Zeit entsprechenden Rahmen für viele Gewerbezweige … von nicht zu unterschätzender wirtschaftlicher Bedeutung“ wäre. Aber im Weiteren hieß es: „Es soll hier nicht rauschenden und überschwänglichen Festlichkeiten, die mit der allgemeinen Not weiter Volkskreise nicht in Einklang zu bringen sind ,,das Wort geredet werden.“ Vom Datum her käme eine Argumentation in Richtung Eiswette in Frage. Die Schaffermahlzeit wurde im gleichen Jahr wegen der „Notzeiten des Vaterlandes“ abgesagt. Vgl. Rüdiger Hoffmann, Die Schaffermahlzeit und das Haus Seefahrt in Bremen, hrsg. Von der Bremer Landesbank Kreditanstalt Oldenburg, Bremen 2007, S. 84. Die erste Mahlzeit nach dem Ersten Weltkrieg hatte das Haus Seefahrt aus ähnlichen Gründen erst 1927 veranstaltet.
[342] Vgl. Günther Rohdenburg, Straßen der Millionäre. Zur Vermögensverteilung in Bremen im Jahr 1918. In: Bremisches Jahrbuch, a.a.O., Bd. 78, 1999, S. 201-214, hier S. 214.
[343] Löbe, a.a.O., S. 121.
[344] Neben seiner Villa mit der Hausnummer 10 wohnten links und rechts in den Häusern 7 bis 9 und 11 bis 16 lückenlos weitere voll Vermögenssteuerpflichtige mit einem Privatvermögen von durchschnittlich 1,6 Millionen RM. (Das höchste lag bei 4,3 Millionen). Vgl. die Liste des Generalsteueramtes „Vermögen über 100.000“ von 1918, a.a.O.
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Wie die sozialdemokratische „Bremer Volkszeitung“ herausfand, war „unter dem Kommando“ von Rechtsanwalt Hugo Gebert, „der von jeher zu Husarenritten Neigung und Talent hatte“, in einer Truppe von fünf „alten Knaben“ ein Plan zur sofortigen Enthüllung ausgeheckt worden,[345] zu der – außer Wuppesahl – noch ein dritter Eiswettgenosse der ersten Stunde gehörte:[346] Rechtsanwalt und Notar Hans Degener-Grischow.[347]
Gebert und Wuppesahl waren nicht nur Eiswettgenossen, sondern auch politische Weggefährten als Mitglieder der Deutschen Volkspartei, deren Bürgerschaftsfraktion sie viele Jahre angehörten.[348]
Am Freitag, dem 13. November 1931 hatte Georg Borttscheller (auch er in der DVP), als Chefredakteur der „Weser-Zeitung“ inzwischen regelmäßiger Gast auf den Eiswetten, einen Telefonanruf von Carl Wuppesahl erhalten, dass am nächsten Morgen um 4.00 Uhr die Enthüllung des Elefanten erfolgen sollte.
[345] Bremer Volkszeitung vom 17.11.1931, „Die enthüllten Enthüller. Zur Elefanten-Köpenickiade.“
[346] Mit von der Partie waren außerdem Brauereidirektor Richard Müller und ein Herr Presuhn, Vorstandsmitglied des Vereins Weserstadion, den Wuppesahl mitbegründet hatte zum Weiterbau der Kampfbahn. Sie wurde 1929 eingeweiht. Vgl. Gutmann, C. Wuppesahl, a.a.O., S.91.
[347] Hans Degener-Grischow (1879 – 1960) hatte seit 1907 eine Kanzlei am Schüsselkorb (die – in Nachfolge – heute als Kanzlei Dr. Castendiek, Helwig & Partner Am Wall besteht). Er war ein wichtiges Mitglied der Eiswettgenossenschaft, führte u.a. die Protokolle der Eisproben von 1929 bis 1939 und trug sie auf den Feiern vor.
[348] Gebert war politisch in mehreren Deputationen der Bürgerschaft aktiv, der er seit 1921 als Abgeordneter angehörte. Wuppesahl war seit 1927 Abgeordneter der Bürgerschaft. Beide blieben es bis 1933.
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Borttscheller sollte einen Reporter und einen Fotografen schicken.[349] Die waren wohl zur angegebenen Zeit an Ort und Stelle, mussten aber unverrichteter Dinge wieder gehen, denn die Plane über dem 11 Meter hohen Elefanten ließ sich nur unzureichend entfernen.[350] Zu einem zweiten Anlauf traf man sich am nächsten Tag im Hause Wuppesahl und schritt, ohne dass die Polizei auf den Plan getreten wäre, mit Hilfe von zwei namenlosen Werktätigen und deren Leitern erfolgreich zur Tat. Nach getaner Arbeit legte man am Fuße des Denkmals einen Lorbeerkranz mit schwarz-weiß-roter Schleife nieder und hinterließ ein Holzschild mit der Aufschrift „Verein zur Förderung der Einweihung des Kolonialehrenmales.“[351] An den Polizeipräsidenten richteten die Herren ein anonymes Schreiben, in dem sie erklärten, dass sie sich zu dieser „Notmaßnahme“ mittags „um Punkt 1 Uhr“[352] – will sagen: in aller Öffentlichkeit – entschlossen hätten. Die sozialdemokratische Bremer Volkszeitung amüsierte sich über die „schwarz-weiß-roten Köpenicker“ der „nationalen Front“.[353]
Es war in der Tat eine kecke Tat, die großes Aufsehen in der Stadt erregte. Tausende von Schaulustigen pilgerten am darauffolgenden Sonntag zum Elefanten.[354] Die Bremer Nachrichten erklärten in ihrer Berichterstattung am 15.11., dass man diese Aktion „nicht billigen“ könnte, versicherten aber den „Enthüllern“ im nächsten Satz ihr volles Verständnis, weil sie „zweifellos aus der Entrüstung darüber“ gehandelt hätten, „dass in Deutschland selbst einer Kriegerehrung heute Hindernisse im Weg liegen.“
[349] Vgl. Borttscheller, a.a.O., S.169. Vgl. auch Löbe, a.a.O., S.120/121.
[350] Aus diesem Grund erschien am nächsten Morgen auch kein Bericht in der Weser-Zeitung. Löbe irrt, wenn er annimmt, dass die Aktion an diesem Tag erfolgreich verlaufen wäre und am nächsten Morgen in der Presse gestanden hätte. Vgl. Löbe, a.a.O., S.120/121.
[351] Löbe, a.a.O., S.121. Löbe konnte sich noch an das Schild erinnern.
[352] Bremer Nachrichten vom 16.11.1931.
[353] Bremer Volkszeitung vom 17.11.1931.
[354] Bericht in der Bremer Volkszeitung vom 16.11.1931.
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Das Denkmal wurde in der Tat von der Deutschen Kolonialgesellschaft nicht nur als Kolonialdenkmal begriffen, sondern auch als „Toten-Ehrenmal für unsere Kolonialhelden.“[355] In der Krypta lag auf einem steinernen Tisch ein Buch mit den 1490 Namen der im 1.Weltkrieg in den Kolonien gefallenen Deutschen (Für die im Krieg auf deutscher Seite gefallenen Askaris war allerdings nicht genügend Platz.). In den Sockel waren Portrait-Medaillons der „Kolonialhelden“ Lüderitz und von Lettow-Vorbeck eingelassen. Die Deutsche Kolonialgesellschaft verbat sich erwartungsgemäß diese Art der Einweihung in einem Schreiben an die Bremer Nachrichten.[356] Die Zeitung veröffentlichte den anonymen Brief eines Lesers, der nun gerade „eine schlichte Feier im würdigen Rahmen“ verlangte, die von „so feierlich-schöner Art sein müsste, dass sie alles Unwürdige und Peinliche, das mit diesem Denkmal verknüpft ist, vergessen mache.“[357]
Die offizielle Einweihungsfeier fand am 6. Juli 1932 zwar auf einem polizeilich abgeriegelten Festplatz statt, aber die Live-Übertragung im Deutschlandsender und über alle norddeutschen Rundfunkanstalten [358] machte sie zu einer der tragischen Veranstaltungen, die mit ihrem Aufruf zu Opferbereitschaft (Bürgermeister Theodor Spitta !) und mit ihren schrillen nationalistischen Tönen (Lettow-Vorbeck) die große Tragödie vorbereiten halfen. In unseliger Eintracht legten Senat, Bürgerschaft, Handelskammer, Reichswehr, Reichsmarine, der Norddeutsche Lloyd und andere anschließend Kränze in der Krypta nieder.
Es wundert nicht, dass sich auf den Fragebögen der Eiswettgenossen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg einem Entnazifizierungsverfahren unterziehen mussten, die Mitgliedschaft im Deutschen Kolonialverein häufig zu finden ist.
[355] Bremer Nachrichten vom 18.11.1931.
[356] Ebda.
[357] Ebda.
[358] Vgl. Wikipedia-Stichwort „Antikolonialdenkmal“ vom 20.10.2016.
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Der Bremer Kaufmann einst und jetzt –Eine öffentliche Kontroverse im Januar 1932
„Wie eine Bombe eingeschlagen.“ Dieses martialische Bild benutzte ein Journalist der
„Bremer Nationalsozialistischen Zeitung“ (BNZ)[359] im Januar 1932, um die Wirkung zu beschreiben, die ein Artikel des Blattes vom Dezember [360] „bei den beteiligten Kreisen“,[361] ausgelöst hätte. In beiden Artikeln war es der BNZ um die Frage gegangen, ob der Gläubigerausschuss der seit Juli 1931 im Konkursverfahren stehenden „Nordwolle“
„die Erhaltung resp. Neugründung der Nordwolle“ verzögerte und damit absichtlich oder fahrlässig ihrer Übernahme durch ausländische Banken zuarbeitete. Im Visier hatte die Zeitung besonders einen „Amsterdamer-Wiener Juden“ aus dem Vorstand einer holländischen Bank, der dieses Ziel „mit eiserner, kalter Konsequenz“ verfolgen würde. Nur wäre das den Ausschuss-Mitgliedern leider „noch gar nicht klar geworden“. Diese Anekdote aus der Vorzeit des Nationalsozialismus in Bremen wäre nicht bemerkenswert, wenn nicht zwei Tage später in der gleichen Zeitung ein Artikel erschienen wäre mit dem Titel „Der Bremer Kaufmann einst und jetzt“[362], anonym verfasst von einem angeblichen „Kenner der Verhältnisse“, auf den wiederum sieben Tage später in den „Bremer Nachrichten“ die Replik „eines älteren Bremer Kaufmanns“ unter dem gleichen Titel erschien, auch sie anonym [363].
„Die Verluste bei der Nordwolle“, begann der anonyme „Kenner der Verhältnisse“ seine Ausführungen in der BNZ, „geben Veranlassung, einmal hineinzuleuchten in die Entwicklung, die der bremische Kaufmannsstand in den letzten Jahrzehnten genommen hat. Bremens Kaufleute nannte man ehemals „Königliche Kaufleute“. Und mit Recht. (… ) Spekulationen jeder Art waren ihnen fremd. (…) Die alten Bremer Kaufleute zogen hinaus als Pioniere ihres Standes (…) ohne indessen für ihre Ideen andere als ihre eigenen Mittel in Anspruch genommen zu haben. (…) Wo sind die alten Bremer Firmen geblieben? (…) Mit den alten ehrenwerten Inhabern dieser alten ehrenwerten Firmen sind sie dahingegangen. (…) Sie wurden abgelöst von neuen Inhabern oder von ganz neuen Firmen, die anderen Geistes waren, die nicht mehr ihren Ehrgeiz im langsamen aber soliden Aufstieg zum Wohle des Ganzen sahen (…) Sie wollten rascher zum Erfolge kommen und damit verfielen sie der Spekulationslus(…) So etwas wie Großmannssucht lag in der neueren Zeit in einem großen Teil des Bremer Kaufmannes, und daraus entstand die Sucht zur Spekulation.“ Die Lichtgestalt war für den Verfasser H. H. Meier, der Gründer des Norddeutschen Lloyd und der Bremer Bank. „Wo“, fragte er, „ist heute der selbstlose Führer, der mit klarem Blick das für die Gesamtheit des Bremer Handels Notwendige erkennt (…)?“
Die Replik in den Bremer Nachrichten begann mit der Feststellung, dass die Redaktion „auf Ersuchen hin“ der folgenden Entgegnung auf den Artikel in der BNZ Raum gäbe. Eine nähere Angabe fehlt. Der Autor, „ein älterer Bremer Kaufmann“ stellte die veränderten äußeren Bedingungen im Welthandel in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Die Rückgänge und Verluste in Handel und Wandel in Bremen, schrieb er, wären „zum größten Teil eine Folge der Krieg- und Nachkriegsauswirkungen…“ gewesen. Durch Wegnahme von Niederlassungen, Außenständen und fast aller Schiffe, sowie durch den Wegfall von Exportmärkten hätte die Kaufmannschaft „unendliche Opfer und Verluste“ erlitten. Dem stünden „all die großen Nachkriegsleistungen“ entgegen, die trotz der „Vielheit höchster Steuern und Zölle, sowie einer die Konkurrenzfähigkeit unterbinden-
[359] Sie erschien seit dem 1.8. 1931 werktäglich. Sie übernahm die Bremer Volkszeitung nach deren Verbot 1933; seit dem 1.11.1933 hieß sie „Bremer Zeitung“.
[360] „Was geht bei der Nordwolle vor?“, BNZ 12.12.1931.
[361] „Nordwoll-Gläubigerausschuss in den letzten Zuckungen“, BNZ 19.1.1932.
[362] BNZ 21.1.1932.
[363] Bremer Nachrichten 28.1.1932.
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den Tariflohnpolitik“ erzielt worden wären. „Mit all dem hatten unsere Voreltern vor 80 und 60 Jahren, wie weiterhin bis zum Kriege bei der ständig und stetig wachsenden Kraft und Machtfülle Deutschlands … nicht oder nicht in dem heutigen Maße zu rechnen.“
Es ist erstaunlich, wie unbedenklich sich ein offensichtlich aus bürgerlichen Kreisen stammender Bremer Kaufmann im Januar 1932 der nationalsozialistischen Zeitung [364] als Sprachrohr bediente und wie selbstverständlich die Redaktion der „Bremer Nachrichten“ das Thema aus der Hand dieser Zeitung entgegennahm. Die politischen Maßstäbe hatten sich in Bremen schon verschoben.
Heinrich Bömers
* 2.11.1864 (Bremen) + 1.4.1932 (Bremen)
Mit 22 Jahren Alleininhaber der Weinhandelsfirma Reidemeister & Ulrichs; 1898 Mitglied der Eiswette; 1904 Kaufmännischer Schaffer, 1932 Vorsteher von Haus Seefahrt; 1905 Mitglied der Handelskammer; Aufsichtsratsmitglied des Norddeutschen Lloyd und der Danat-Bank; Erster Vorsitzer im Verwaltungsrat der Sparkasse Bremen; Aufsichtsratsmitglied in der Rolandmühle AG und in der Hansamühle AG; seit 1897 Mitglied der Bürgerschaft; 1909 und seit 1919 Senator; Bauherr in der St. Petri-Domgemeinde.
Der königliche Kaufmann
In den sechziger Jahren wurden Person und Wirken Heinrich Bömers‘ in zwei zeitlich eng bei einander liegenden Veröffentlichungen gewürdigt. Die eine findet sich in den Lebenserinnerungen von Bürgermeister Wilhelm Kaisen, die andere ist ein Beitrag in der Bremischen Biographie aus der Feder von Karl Heinz Schwebel, dem früheren Direktor des Staatsarchivs Bremen.[365] Die Autoren waren sich in ihrem Urteil nicht einig. Schwebel stellte in den Mittelpunkt seiner Betrachtung Bömers‘ „klaren Verstand mit überragenden kaufmännischen Fähigkeiten und Weitblick für die wirtschaftlichen Möglichkeiten seiner Zeit.“[366] „Verluste, die der Bremer Staat erlitt“, schrieb Kaisen hingegen, kämen „nicht nur auf das Konto der Krise, sondern auch auf das Konto „einer kleinen Gruppe um den Senator Bömers … die eigenmächtig … die kranke Wirtschaft durch die Herausgabe von Millionen, die dem Staat gehörten, kurieren wollte.“[367]
Heinrichs Vater Heinrich Wilhelm war, frisch verheiratet mit Mathilde Nölting, 1857 in die Frühlingsstraße in der neuen Bahnhofsvorstadt gezogen, wo die vier Kinder des Ehepaares geboren wurden.[368] Es war eine beliebte Wohnstraße begüterter Bremer. Noch 1918 wohnten in der recht kurzen Straße sechs Vermögenssteuerpflichtige mit Bargeldvermögen von 167.000 bis 325.000 RM: drei Kaufleute, ein Prokurist, ein Konsul und ein Kaffeehausbesitzer.[369]
[364] An der volksverhetzenden Tendenz dieser Zeitung konnte kein Zweifel bestehen. Am 17.12.1931 hetzte sie in einem Artikel gegen den „Juden Bamberger“, diesen „Parasit am Volkstum“. In einer gezeichneten Bildergeschichte schlugen Juden Jesus ans Kreuz und Menschen strömten ins Bamberger Kaufhaus zur „jüdischen Weihnachtsmesse.“ (12.12.1931).
[365] 1957 – 1975.
[366] Bremische Biographie, a.a.O., Stichwort Bömers, Heinrich, S. 60 – 62, hier S. 60.
[367] Kaisen, Meine Arbeit, mein Leben. München 1967, S. 122.
[368] Die verwitwete Ehefrau hatte eine Tochter mit in die Ehe gebracht. Auf zwei gemeinsame Töchter folgte der erste Sohn, der schon wenige Monate nach der Geburt starb. Vgl. Georg Bessell, Heinrich Bömers, a.a.O. (Vgl. Anmerkung 227), S. 19/20.
[369] Vgl. Liste des Generalsteueramtes Bremen: „Vermögen über 100.000 RM“ von 1918. Sie ist alphabetisch nach Straßennamen geordnet. StAB 4,26-372.
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Es muss ein sehr angenehmes Wohnen gewesen sein, denn die Familie Bömers blieb dreizehn Jahre, kaum vorstellbar, wenn man heute durch die Frühlingsstraße geht, die auf dramatische Weise vorführt, welche städtebaulichen Umwälzungen die Stadt – nicht zuletzt durch Kriegseinwirkungen – im letzten Jahrhundert erlebt hat.
Es war selbstverständlich, dass Bömers in die väterliche Weinhandlung eintreten würde, aber er machte, bremischer Tradition folgend, seine kaufmännische Lehre außerhalb, wo er nach eigener Aussage „alles gelernt hatte“.[370] „Das schönste und sorgloseste Jahr seines Lebens“[371] war seine Militärzeit beim 17. Husarenregiment in Braunschweig, wo er seine Begeisterung für das Reiten ausleben konnte. Der Reitsport blieb ein Leben lang seine große Leidenschaft. Neben all seinen kaufmännischen, politischen und ehrenamtlichen Tätigkeiten war er auch im Vorstand des „Bremer Reitclubs“, wo es seinem Einsatz zu verdanken war, dass der Galopp-Rennplatz an der Vahr – ohne staatliche Mittel – entstand. Im „Bremer Schleppjagdclub“[372] frönte er einem wahrhaft aristokratischen Freizeitvergnügen, das man aus heutiger Sicht nicht unbedingt in der Hansestadt vermutet hätte: „Bremens Hubertusjagden mit herrlichen Natursprüngen im Gelände – wie sie sonst nur noch in Trakehnen anzutreffen waren – in den umliegenden Gemeinden Arbergen, Mahndorf, Uphusen und Bollen erfreuten sich bald des guten Rufes, abwechslungsreich und schwierig, aber immer fair zu sein.“(373) Auch nach einem schweren Sturz im Jahr 1908, der ihn zwang, das Jagdreiten aufzugeben, ließ er es sich nicht nehmen, jeden Morgen auszureiten, in den zwanziger Jahren sonntags oft von seinem Sohn Heinz begleitet.
[370] Vgl. Georg Bessell, a.a.O., S. 21.
[371] Bessell, a.a.O., S. 21.
[372] „Schleppjagden sind ein Sport ohne Wettkampf. Im Mittelpunkt steht der gemeinsame Ausritt mit den Hunden und anderen Reitern.“ Die „Schleppe“ ist eine künstliche Duftspur, die eine Hundemeute verfolgt. „Eine Besonderheit ist es, im Pulk querfeldein lange Strecken zu galoppieren und dabei springen zu können“. Wikipedia Stichwort Jagdreiten vom 7.11.2016.
[373] Bessell, a.a.O., S. 33.
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In Schwachhausen kannte man sein „markante Reitergestalt auf seinem herrlichen schwarzbrauen Wallach „Othello“.[374] Dieses Ritual dürfte dazu beigetragen haben, dass er in Bremen den Beinamen „König Heinrich“ erhielt.[375] Die Firma Reidemeister & Ulrichs entwickelte sich unter seiner Leitung zu einem der führenden deutschen Weinimporthäuser. Aber Bömers beschränkte sich nicht auf „sein blühendes Geschäft“, sondern setzte auch sein Kapital „zu klugen Investitionen ein.“ Weil er in vielen Fachverbänden und Aufsichtsräten mitwirkte, errang er „in der Großwirtschaft“ eine führende Stellung.[376] 1897 wählte ihn der Kaufmannskonvent [377] als Vertreter der 2. Klasse in die Bürgerschaft. Am 30.1.1909 wurde er mit großer Mehrheit auf Lebenszeit in den Senat gewählt:[378] Häfen, Handel und Schifffahrt waren seine Schwerpunkte. In der St. Petri-Dom-Gemeinde hatte er 1893 das Diakonat übernommen und war dort seit 1912 als Bauherr tätig. Wirtschaftlicher Erfolg, Übernahme politischer und wirtschaftlicher Verantwortung und soziale Aktivitäten gingen bei ihm Hand in Hand. Wir erkennen in dieser knappen Zusammenfassung den Typ des hanseatischen Kaufmanns. Er war es aus eigener Überzeugung.
Am 29. April 1919 war er als frisch gewählter Senator [379] mit einer aufsehenerregenden politischen Initiative in Erscheinung getreten, als er einen offenen Brief an den Präsidenten des Reichsbank-Direktoriums und an den Reichswirtschaftsminister schrieb, in dem er auf das Energischste die sofortige Beendigung der kriegsbedingten Zwangswirtschaft im Reich forderte, die völlige Freigabe des privaten Handels und vor allem die „Einspannung der wirtschaftlichen Beziehungen des deutschen Kaufmannes zum Ausland.“ Er ergänzte: „Der Regulator der eigenen geschäftlichen Beurteilung wird besser ausgleichend wirken als jeder obrigkeitliche Zwang vermag.“ Sein Plädoyer für den unbegrenzten Freihandel – durchaus in eigener Sache – umfasste eine längere Polemik gegen die Zwangsbewirtschaftung in den Kriegsjahren allgemein. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm nicht, wie seine letzten Zeilen zeigen: „Ich richte daher an die verantwortlichen Stellen des Reiches die dringende ernste Mahnung eines Hanseaten: gebt den Handel im Innern und nach außen frei, befolgt meine Ratschläge, bevor es zu spät ist. Mit vorzüglicher Hochachtung H. Bömers.“[380]
Obwohl nicht Finanzsenator, stand er in den zwanziger Jahren „im Mittelpunkt allen finanziellen Geschehens in Bremen“[381] und übernahm „mehr und mehr die Zügel in der Finanzdeputation.“[382] „Ein Mann, ohne dessen Mitwirkung viele Jahre lang in Bremen in Wirtschaft und Staat, in nationalen und gemeinnützigen Dingen nichts Wesentliches geschehen war…“[383] Auf der Hundertjahrfeier der Eiswette 1929 ergriff er das Wort und würdigte die Veranstaltung als „ein Zeichen, wie in Wirklichkeit alle Kreise Bremens zusammenstehen und zusammenhalten.
[374] Bessell, a.a.O., S. 33/34.
[375] Vgl. Schwebel, a.a.O., S. 62. Schwebel nennt noch einen anderen populären Beinamen für Bömers: „Landesfürst.“
[376] Schwebel, a.a.O.
[377] Seit 1849 bestand der Kaufmannskonvent aus allen selbstständigen Kaufleuten, die Mitglieder der Börse waren und das große Bürgerrecht besaßen. Dieser wählte die 24 Mitglieder der Handelskammer. 1879 hatte er 605 Mitglieder. Vgl. Schwarzwälder, a.a.O., Bd. II, S. 230 und S. 333.
[378] An der Abstimmung nahmen die 30 sozialdemokratischen Bürgerschaftsmitglieder nicht teil. Von den übrigen 120 Abgeordneten erhielt Bömers 101 Stimmen. Vgl. Bessell, a.a.O., S. 14. Mehr als die Hälfte der Sitze war nach Klassen vergeben an: 42 Kaufleute, 20 Gewerbetreibende, 14 Akademiker und 8 Landwirte. Vgl. Bessell, a.a.O., S. 13 ff.
[379] Am 10. April war er in den vorläufigen Senat gewählt worden.
[380] „Offener Brief“, Weser-Zeitung vom 29. 4. 1919 (Nr. 278).
[381] Bessell, a.a.O., S. 86.
[382] Schwebel, a.a.O., S. 61.
[383] So Theodor Spitta in seinem Buch über Martin Donandt: Dr. Martin Donandt, Bürgermeister in Bremen. Ein bremisches Lebens- und Zeitbild. Für die Familie Donandt aufgezeichnet. Als Handschrift gedruckt. Bremen 1938, S. 179. Spitta (1873 bis 1969) war einer der bedeutendsten Bremer Politiker im 20. Jahrhundert. Von 1911 bis 1955 gehörte er – mit Ausnahme der Jahre 1933 bis 1945 – dem Bremer Senat an.
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Ein solches Fest mache uns keine Stadt in Deutschland nach. Wenn man weiter so zusammenstehe, dürfe man zuversichtlich der Entwicklung Bremens entgegensehen.“[384]
Der Konkurs der „Nordwolle“ brachte an den Tag, dass sich Bömers als Präsidiumsvorsitzender der Danat-Bank, dem Hauptkreditgeber der Nordwolle, für Kredite an den hoch verschuldeten Konzern eingesetzt hatte. Er hatte sogar über die staatliche „Hansabank“, deren Aufsichtsratsvorsitzender er war, für 10 Millionen Mark Vorzugsaktien von der „Nordwolle“ gekauft.[385] Seine Kredit -Entscheidungen für den Erhalt des maroden Konzerns waren nicht zu trennen von seinem Amt als Senator, als der er im Präsidium der Danat-Bank saß und im Aufsichtsrat der Hansabank. Aufsichtsratsmitglied der Danat-Bank war auch einer der beiden Lahusen-Brüder, den Hauptaktionären und wichtigsten Funktionsträgern der „Nordwolle“, mit denen Bömers durch die Ehe seines Sohnes Heinz mit einer Schwester der Lahusens verschwägert war. In der Pariser Tageszeitung „Le Matin“ war ihm sogar, wie er es selbst vor der Bürgerschaft erklärte, „in gehässiger Form vorgeworfen worden,“ dass er „die großen Geschäfte mit der Schröderbank und der Danatbank nur getätigt hätte, um selber Kredit durch diese beiden Banken zu erhalten.“[386] Am 12. August 1931 trat er als Senator zurück.
[384] BN 15.1.1929.
[385] Vgl. Schwarzwälder, a.a.O., S.530.
[386] Verhandlungen der Bremischen Bürgerschaft No.14. Sitzung vom 9. Oktober 1931. S. 574 – 578, hier S. 577.
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Der Zusammenbruch des „Nordwolle“-Konzerns hatte katastrophale Auswirkungen. Die Bremer Banken-Krise in seinem Gefolge war der Beginn der deutschen Bankenkrise, die „den Höhepunkt der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in Deutschland“ einleitete.[387] Dafür trugen Bremer Politiker und Kaufleute mit die Verantwortung, Heinrich Bömers an ihrer Spitze. Kaisen lobte ihn zwar aus seiner Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit als Senatoren (1928 bis 1931) wegen seiner „Dispositionsfähigkeit und Klugheit“ und nannte ihn „den letzten großen Kaufmann … an führender Stelle im Bereich der Finanzen,“[388] bezeichnete ihn aber gleichzeitig als ein Mitglied der „guten“ Bremer Gesellschaft, die sich für etwas Besseres hielt, wie „ihr letzter Vertreter Senator Bömers“, der „verlangte“, als „königlicher“ Kaufmann „angesehen und gewertet zu werden“.[389] Schwebel schildert die Rolle Bömers mit folgenden Worten: Gegen Ende der 20er Jahre hätte sich „die in Bremen traditionelle Überschneidung der staats- und privatwirtschaftlichen Sphäre zu dem „System Bömers“ (gesteigert) … einer nur von wenigen Eingeweihten übersehbaren expansiven Wirtschafts- und Finanzpolitik, welche mit … beträchtlichen Vermögenswerten über die Staatshauptkasse Bankgeschäfte großen Stils betrieb, um wichtige Unternehmen … eng mit dem bremischen Staatsinteresse zu verflechten…“[390]
[387] Heinrich Bömers. Stichwort bei Wikipedia. 4. 8. 2016.
[388] Kaisen, a.a.O., S. 123.
[389] Nach der Darstellung von Bessell kam Bömers seinerseits zu einem sehr positiven Urteil über die Koalition mit den Sozialdemokraten und auch über Kaisen: „Bömers hat von den neuen Kollegen – unter ihnen Wilhelm Kaisen, der das Wohlfahrtswesen leitete, damals eines der schwierigsten Ressorts – von ihrem uneigennützigen Einsatz zum Wohle Bremens stets mit hoher Anerkennung gesprochen. Besonders für Bürgermeister Deichmann hat er – bei allem Unterschied der Denkungsart – – Hochachtung und Sympathie empfunden.“ Bessell, a.a.O., S. 75. Karl Deichmann war 1919 als Gegner der Räterepublik politisch aktiv geworden. Mit vier anderen „Mehrheitssozialisten“ war er nach deren Niederschlagung Mitglied in einer provisorischen Bremer Regierung geworden, die ihre Geschäfte im Auftrag der Reichsregierung führte. Vgl. Bremische Biographie, Deichmann, Karl, a.a.O., S. 104 – 105, hier S. 105. Vom April 1928 bis zu seinem Rücktritt im April 1931 war er Polizeisenator und (stellvertretender) Bürgermeister. Vgl. Wikipedia Stichwort Karl Deichmann vom 11.11.2016.
[390] Schwebel, a.a.O., S. 61/62. Vgl. auch die Darstellung der Nordwolle-Krise bei Schwarzwälder, a.a.O., Bd. III, S. 534 – 538.
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Wilhelm Kaisen, damals Sozialsenator und Mitglied des Bürgerschafts-Ausschusses, der den Auftrag hatte, die finanziellen Hintergründe der Nordwolle- und Banken-Pleite zu klären, erinnerte sich fast vierzig Jahre später an das Auftreten von Bömers. Der hätte „eines Tages vor den Bremern“ gestanden, „nicht in Frack und Zylinder, sondern in demütiger Pose um Gnade bettelnd. Sie wurde ihm nicht gewährt.“[391] Tatsächlich hatte Bömers in der Bürgerschaftsdebatte vom 9. Oktober 1931 über den Bericht des Ausschusses das Wort ergriffen.[392] Allerdings hatte er es ausdrücklich abgelehnt, sich zu rechtfertigen. Er erklärte: „Der Lloyd-Kapitän, der ein Schiff verloren hat, bekommt keins wieder. Und ebenso musste ich die Folgen dieses Verlaufs der Dinge auf mich nehmen. Ich habe das getan in der Absicht und in dem Wunsche, die Schuld auf mich zu ziehen und eine Belastung des Gesamtsenats zu vermeiden.“[393] Aus seiner Sicht fasste er die Ereignisse so zusammen: „Wenn einmal die Geschichte der letzten Zeit geschrieben werden wird, so wird ein gerecht denkender Geschichtsschreiber die Frage, wer die moralisch Schuldigen waren, nur dahin beantworten können, dass die Banken, die sechs Jahre lang die Kredite in die aufnahmefähigen Länder hineingepumpt hatten, dann aber während weniger Monate zur rücksichtslosen Rückziehung schritten, in Wirklichkeit die wahren Schuldigen sind an unserer Lage.“[394] Die betrügerische Krediterschleichung durch die Lahusen-Brüder, die unmittelbarer Auslöser der Bremer Krise war, blendete er aus. Dieser Aspekt wurde im SPD-Zentralorgan „Vorwärts“ in einem Artikel behandelt, der wahrscheinlich von Alfred Faust verfasst worden war. Nach einer ausführlichen Darstellung der Ereignisse hieß es dort zum Schluss: „So sah die Wirtschaftsführung der allmächtigen Gebrüder Lahusen aus, die Jacob Goldschmidt kürzlich auf der Generalversammlung der Darmstädter und Nationalbank als ein „System betrügerischer Manipulation“ anprangerte. Dieses System verbrecherischer Wirtschaftsführung ist schuld daran, dass die Krise in Deutschland so unheimliche Ausmaße angenommen hat, dass die ausländischen Geldgeber panikartig ihre Milliardenkredite zurückriefen und dass Deutschlands wirtschaftliches Ansehen in der Welt so schwer erschüttert wurde. Dieses System von Selbstbereicherung, Bilanzfälschung, Korruption und Kapitalverschiebung hat das Massenelend in Deutschland bis zur Untragbarkeit verschärft …“[395]
Ungebrochen war Bömers aus der Bürgerschafts-Debatte herausgegangen. TheodorSpitta hat die Gestalt des Staatsmannes Bömers in einer späteren Betrachtung plastisch dargestellt: „… unermüdlich tätig, körperlich und geistig gleich beweglich, immer rasch zu jeder dienstlich erwünschten Fahrt oder Reise bereit, für die er die Kosten nie dem Staate in Rechnung gestellt hat, oft mehrmals in derselben Woche zwischen Bremen und Berlin hin- und herfahrend, vielfach in Nachtfahrten, sprach- und redegewandt, ein Freund der Geselligkeit, sicher und frei im Auftreten, mit einer Vorliebe, amtliche Fragen, besonders mit auswärtigen Persönlichkeiten, in zwanglos geselliger Form „am weißen Tisch“ zu fördern – so hatte Bömers eine Fülle von Erfahrung, wirtschaftlicher Sachkunde, Personenkenntnis, Beziehungen und Verbindungen in die Arbeit des Senats gebracht…“[396]
[391] Wilhelm Kaisen, a.a.O., S. 122/123.
[392] Den Bericht erstattete Theodor Spitta, der Vorsitzende des Ausschusses.
[393] Verhandlungen der Bremischen Bürgerschaft, a.a.O., S. 577.
[394] Verhandlungen der Bremischen Bürgerschaft, a.a.O., S. 575.
[395] Bremer Volkszeitung vom 6.4.1932.
[396] Theodor Spitta, Dr. Martin Donandt, a.a.O., S. 179/180. An anderer Stelle schreibt Spitta von „seinen raschen, wohl auch wechselnden Entschlüssen.“ (S. 180) Bömers‘ Biograph Bessell lässt die „wechselnden Entschlüsse“ in seinem sonst identischen Zitat des Textes aus. (S. 53)
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Das war die andere Seite des „System Bömers“. Er hätte es sich wahrscheinlich zur Ehre angerechnet, was Kaisen ihm aus der Erinnerung vorwarf: dass er „nicht den Unterschied zwischen sich und dem Staat (kannte).“[397] Die Rede vor der Bürgerschaft war der Abgesang auf seine politische Karriere, auch wenn er sein Mandat behielt. Seinem Ansehen in der Bremer Kaufmannschaft schadete das nicht. Im Februar 1932 wurde er zum Vorsteher des Hauses Seefahrt gewählt.[398]
In der Literatur hat man seinen Rücktritt ein „tragisches Ereignis“ genannt.[399] Auf politischer Ebene war es „nur“ ein Akt demokratischer Kultur. Und für Bömers war es auch gar keine Frage, dass er die Verantwortung für das Scheitern seiner Finanzpolitik übernehmen und er als Senator zurücktreten würde. Er hatte sich vor der Bürgerschaft lediglich mit genauen Zahlenangaben gegen den Vorwurf gewehrt, die Danat-Bank und die Schröder-Bank aus eigenem materiellen Interesse unterstützt zu haben. Das nahm ihm die Bürgerschaft auch ab. Dem Vorwurf des Ausschusses, dass er nicht nur „in der Kreditbewilligung für die Schröderbank zu weit gegangen sei“, sondern „hierüber nicht genügend Aufklärung an die Finanzdeputation gegeben“ habe, begegnete er mit folgenden Ausführungen: „Nicht meines Amtes war es, die Frage zu entscheiden, ob Senat oder Finanzdeputation oder gar die Bürgerschaft im Einzelnen unterrichtet werden mussten. Ich betone aber, dass ich bereitwilligst stets jede Aufklärung gegeben habe. Jeden Morgen um 9 Uhr war ich auf der Staatshauptkasse und war bereit, jeden, der an der Konferenz teilnehmen wollte, zu empfangen und ihn über die Kassenlage zu unterrichten. Auf meinem Platz (…) lag öffentlich der Tagesbericht der genauen Ausgaben und die Höhe der Summen, die wir bei den einzelnen Banken hatten. (…) Mir ist nie ein Monitum (Beanstandung – d.Verf.) bekannt geworden.“ Als ihm daraufhin der SPD-Abgeordnete Alfred Faust zurief: „Warum haben Sie nie mündlich berichtet?“ antwortete Bömers: „Wozu sollte ich? Es war die Ermächtigung da.“ Da war er, der stolze Patriarch einer vergangenen Epoche, der als Verantwortlicher „einsame“ Entscheidungen meinte fällen zu müssen. Tragisch könnte man den Umstand nennen, dass dieser kluge Mann mit den besten Absichten, zum Wohle seiner Stadt zu wirken, die Zeichen des republikanisch-demokratischen Zeitalters nicht erkannt hatte. Für ihn war immer noch der Kaufmann die zentrale Gestalt, prädestiniert dafür, die Geschicke der Stadt zu lenken. Er war ja 1909 noch auf Lebenszeit zum Senator gewählt worden. Aber die Klassenverhältnisse hatten sich längst verschoben. Es war eine soziale und politische „Fraktionierung der städtischen Gesellschaft“[400] entstanden. Die zunehmende Industrialisierung der Stadt hatte schon vor dem Zweiten Weltkrieg zu einem gewaltigen Erstarken der Sozialdemokratie geführt und das allgemeine Wahlrecht, das vor allem ihr zugutekam, tat ein Übriges, um die politische Bedeutung der Bremer Kaufmannschaft zurückzudrängen. Bömers‘ Rücktritt war Ausdruck dieses Wandels.
[397] Kaisen, a.a.O., S. 124.
[398] Vgl. Schwebel, a.a.O., S. 62.
[399] Schwarzwälder, a.a.O., Bd. III, S. 534. Schwebels Urteil über Bömers Wirtschaftspolitik geht in die gleiche Richtung, aber er argumentiert differenzierter, wenn er sagt, dass es „ein Schicksalsschlag voll tiefer menschlicher Tragik (war), dass eben diese Politik wegen der über Deutschland hereinbrechenden Weltwirtschaftskrise 1931 mit einer Katastrophe endete und der tief verschuldete Bremer Staat …hineingerissen … wurde. (S. 62)
[400] Elmshäuser, a.a.O., S. 85.
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Dass sein Tod große Bestürzung hervorrief, lag nicht nur daran, dass er unerwartet kam, sondern auch und vor allem daran, dass er am Anfang eines geplanten neuen Lebensabschnitts eintrat. Am Ende seiner Rede hatte er gesagt: „Meine Damen und Herren! Ich habe 22 Jahre meines Lebens, meine Zeit und meine Arbeitskraft ohne jede Rücksicht auf Familie, Geschäft und Gesundheit geopfert, um nach bestem Wissen und Gewissen dem bremischen Staat zu dienen. … Ich habe die Absicht, mich ganz aus dem öffentlichen Leben Bremens zurückzuziehen. Der Entschluss ist mir nicht leicht geworden, aber ich muss endlich auch einmal an meine eigene Gesundheit und an meine eigenen Interessen denken.“ Die Bürgerschaft nahm diese Ausführungen ohne Zurufe zur Kenntnis. Nur wenige Sätze folgten noch, die getragen waren von Optimismus über die zukünftige Entwicklung Bremens. Dann verzeichnet das Protokoll „lebhaften Beifall in der Mitte.“[401]
Fürstliches Begräbnis im Dom
Der Tod Heinrich Bömers‘ am 1. April 1932 hatte mit den dramatischen Ereignissen in Bremen nichts zu tun. Er war die unglückselige Folge einer scheinbar harmlosen Blutvergiftung.[402] Bömers wurde buchstäblich aus dem Leben gerissen. Der Schock über seinen plötzlichen Tod breitete sich über die ganze Stadt aus. Am Mittwoch, dem 6. April, fand die Trauerfeier im Dom statt. In aller Ausführlichkeit würdigten zwei ganzseitige Berichte in der bürgerlichen Lokalpresse [403] das Ereignis. Hier soll – nicht nur wegen der prägnanten Kürze – einer Reportage der „Bremer Volkszeitung“ – dem Organ der SPD – der Vorzug gegeben werden. Der Text ist ungekürzt:[404]
„Vom Rathaus, von den Türmen des Domes, vom Gebäude der Bremer Sparkasse am Brill wehten heute die Flaggen auf halbmast als letzten Gruß für Senator Heinrich Bömers, der heute bestattet worden ist. Um 10.30 Uhr begann im Dom die kirchliche Trauerfeier. Im Dom versammelte sich eine überaus zahlreiche Trauergemeinde aus allen Bevölkerungskreisen zu Ehren des Verstorben, dessen Sarg im Mittelschiff der Kirche unter der Kanzel auf einem Katafalk ruhte. Sanftes Kerzenlicht strahlte zu beiden Seiten des Sarges, der von kostbaren Kränzen bedeckt war. Auch in allen Seitengängen des Domes war eine Fülle von Kränzen untergebracht. Als zu Beginn der Feier Orgelspiel einsetzte, war in dem weiten Raum des Domes kein Platz mehr frei. In unmittelbarer Nähe des Sarges hatten die Familienangehörigen, die Vertreter des Senats, die Domprediger, Bauherren usw. Platz genommen. Nachdem das feierliche Orgelspiel verklungen war, sang der Domchor den Choral „Jesus meine Zuversicht.“
[401] Alle Zitate in diesem Abschnitt, soweit nicht anders angemerkt, sind entnommen: Verhandlungen der Bremischen Bürgerschaft. Sitzung vom 9. Oktober 1931 No.14.
[402] Ein Furunkel an der Oberlippe hatte zur tödlichen Blutvergiftung geführt. Vgl. Georg Bessell, Heinrich Bömers. Ein Lebensbild. 2. November 1864 – 1. April 1932, Bremen 1964, S. 95., Bessel, a.a.O., S.95/96.
[403] Bremer Nachrichten am 7. April; Weser-Zeitung am 6.4. (Abendausgabe).
[404] Bremer Volkszeitung vom 6.4.1932 (Abendausgabe): „Trauerfeier für Heinrich Bömers im Dom.“
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In seiner Trauerrede hob Domprediger Dr. Weidemann die menschlichen Eigenschaften des Verstorbenen und seine Verdienste um das Allgemeinwohl hervor. Er schilderte Bömers als eine starke Kämpfernatur, die in dem Glauben an den Sieg seiner Sache Ungewöhnliches vollbracht habe. Er war vor allen Dingen davon überzeugt, dass Bremen ohne Schifffahrt kein Bremen mehr ist, und dass Bremen steht und fällt mit dem Schicksal des Norddeutschen Lloyd. Besonders der Aufschwung des Lloyd nach dem Kriege und der Bau seiner Großschiffe, die von aller Welt bewundert werden, sei mit das Verdienst des Verstorbenen. Auch der Sparkasse in Bremen habe er sich in jahrzehntelanger Arbeit mit großer Liebe angenommen. Er sei stets ein ehrlicher Kämpfer gewesen, und besonders als die Wogen des Schicksals im vergangenen Jahr über die von ihm geschaffenen Werke hinweggingen, habe er den Mut gehabt, zu sagen, er nehme alles auf sein Schuldkonto. Seine Liebe zu seiner Vater- und Heimatstadt Bremen sei es gewesen, die ihn stets zu den größten Taten begeisterte und er selbst habe am besten gewusst, dass dem „Hosianna“ oft das „Kreuziget ihn!“ folgt. Bremen habe Heinrich Bömers viel zu danken. Im Anschluss an diese Trauerrede folgte der letzte Gruß der Domprediger Mauritz, Hartwich, Pfalzgraf und Schäfer. Der Domchor sang den Choral „Wenn ich einmal muss scheiden.“ Gebet und Segen sowie Orgelspiel schlossen die Trauerfeier ab. Unter den Klängen aller Domglocken wurde der Sarg des Entschlafenen aus dem Hauptportal des Domes herausgetragen.“[405]
[405] Es folgte nur noch ein Hinweis darauf, dass die Beisetzung im engeren Kreise auf dem Riensberger Friedhof stattfand.
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„Nach der ergreifenden Trauerfeier im Dom führte der lange Trauerzug vorbei an Bömers Haus Hollerallee 13 bis hin zum Riensberger Friedhof. Die Anteilnahme der Bremer Bevölkerung war überwältigend …“[406] So schilderte es sein Biograph Bessell. Die Bremer Nachrichten setzten ihre Berichterstattung bis zum Friedhof fort: „Auf dem Riensberg erwarteten das Offizierskorps unseres Reichswehrbataillons mit dem Musikkorps den Trauerzug. Unter dessen Weisen und durch ein Spalier der Marinejugend Bremen wurde der Sarg von der Kapelle aus mit Tannenreis bestreutem Wege zur Familiengruft getragen. … Hornisten der Reichswehr bliesen aus der Ferne das Halali, während unter strömendem Regen die Gruft den Verblichenen zur letzten Ruhe aufnahm. Darüber türmten sich dann die vielen letzten Liebes- und Verehrungszeichen, die Kranzspenden.“[407]
[406] Bessell, a.a.O., S. 96.
[407] Bremer Nachrichten am 7.4.1932.
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Etwa dreißig Spender hoher wirtschaftlicher, politischer und militärischer Provenienz benannte die Zeitung namentlich, ohne die Kränze „sämtlicher bremischer Wirtschaftsunternehmungen“ aufzuzählen.
Es dürfte das größte Begräbnis gewesen sein, das jemals einem Bremer Kaufmann zuteil wurde.[408] Die Reportage der Bremer Volkszeitung ließ erkennen, dass die Bremer Sozialdemokraten die hohe Meinung, die man in bürgerlichen Kreisen von Bömers hatte, zumindest im Wesentlichen, teilten und erwähnte ausdrücklich die Anteilnahme „aller Bevölkerungskreise“. Der kompakte Bericht, für den vermutlich Chefredakteur Alfred Faust verantwortlich zeichnete, ließ die Verstrickung Bömers‘ in die NordwolleKrise unerwähnt, obwohl in der Beilage der Zeitung vom gleichen Tag eine umfangreiche Reportage über die „Ursachen des Nordwolle-Zusammenbruches“ erschien.[409] Es könnte damals durchaus der Eindruck entstanden sein, dass Bömers‘ Begräbnis dem eines Fürsten würdig gewesen wäre, wie es sein Biograph formulierte.[410] Auffällig war eine Kranzspende mit weiß-blauen Schleifen. Sie trug die Aufschrift: „Der Führer der bayrischen Heimwehr, Forstrat Escherich.“ Bömers war seit der Niederschlagung der Bremer Räterepublik 1919 den Freikorps verbunden geblieben. Aber offensichtlich hatte sich für ihn, den Konservativen, den Mann der Ordnung, damit der Kreis geschlossen, denn als die Nationalsozialisten an die „Führerfigur“ der Kaufmannschaft, den „König Heinrich“, den „Landesfürsten“ – offensichtlich mehrmals seit 1929 – herantraten, war ihre Mühe vergeblich. Man hat ihm anscheinend sogar den Parteivorsitz der Bremer NSDAP angeboten, wie sein Biograph berichtet.[411] Ein führender Parteigenosse Bömers wäre für die Nationalsozialisten in der Tat ein großer Schritt gewesen, um Zugang nicht nur zur kaufmännischen Elite der Stadt zu finden. Sogar Göring persönlich soll ihm Avancen gemacht haben. Es war seine charakterliche und politische Standfestigkeit, die ihn ungeeignet machte für eine opportunistische politische Karriere.
Prediger Heinz Weidemann
Beide bürgerlichen Zeitungen druckten die Trauerrede wortgleich ab. Je weiter man als unbefangener Leser in der Lektüre dieser Predigt fortschreitet, umso stärker hebt sich hinter dem Gedenken an die Verdienste des Verstorbenen eine Gestalt ab, die eher den Vorstellungen des Redners geschuldet zu sein scheint. Da ist die Rede von Bömers‘ „Mannentum“, von seiner Selbstaufopferung vor allem von seiner Kämpfernatur. Der zentrale Begriff in der ganzen Predigt ist das Wort „Kampf“: Kämpfen „bis zum letzten Atemzug“, Kampfesmut, Lebenskampf, Glaubenskampf, kurz: „Menschsein heißt Kämpfer sein.“ Allein 18 Mal kommt das Wort in Variationen vor. Und als der Sturm „mit einer Gewalt ohnegleichen“ über der Nordwolle „losbricht“, da kämpft Bömers‘ „Siegerseele mit zäher Energie … mit Wind und Wellen.““ „Er bleibt ein Sieger, auch wenn alles wankt,“ weil er „beständig an den Sieg denkt.“ So läuten alle Domglocken dann auch nicht als Sterbeglocken, sondern als „Siegerglocken, da ein Kämpfer starb.“ „Mit seltener Einmütigkeit in den Senat und dann in die Domgemeinde als Domherr gewählt“, heißt es, wirkte er „als Führer und als stolzer und aufrechter Kämpfer.“[412] Hier übte sich jemand schon in der Sprache des „Dritten Reiches.“ Der Name des Red ners ist Heinz Weidemann, jüngster von fünf Dompredigern, 1926 unter anderem wegen seiner rhetorischen Brillanz vom Dom-Konvent gewählt.[413]
[408] Die Weser-Zeitung beendete ihren Bericht mit dem Satz: „Die Beisetzung von Senator Bömers war für Bremen eine Trauerfeier, wie sie in ihrer Größe seit Gedenken nicht erlebt wurde und wie sie eindrucksvoller und würdiger nicht verlaufen konnte.“ 6.4.1932.
[409] Er stützte sich auf den 4. Bericht des Konkursverwalters, der die betrügerischen Bilanzen und Kreditgeschäfte der Brüder Lahusen mit Zahlen belegte. Bömers wird nur in dem folgenden Satz erwähnt: „Aus dem Bericht erhält man auch die Gewissheit … dass die im Juni v(origen) J(ahres) durch Senator Bömers versuchte Rettung der Nordwolle mit 30 Millionen Mark neuem Kapital, zu der allerdings der bremische Staat 15 Millionen aufbringen sollte, zum Scheitern verurteilt war.“
[410] Vgl. Bessell, a.a.O., S.96/97. In den Bremer Nachrichten erscheinen 20 Traueranzeigen.
[411] Bessell, a.a.O., S. 76.
[412] Weser-Zeitung, 6.4.1932; Bremer Nachrichten, 7.4.1932.
[413] Weidemann war Jahrgang 1895. 68 von 90 Stimmen hatte er am 24.1.1926 im Konvent der Domgemeinde erhalten. Vgl. Heinz Weidemann, in: Herbert Schwarzwälder, Berühmte Bremer, München 1972, S. 245 – 294, hier S. 249.
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Gut ein Jahr später wird er als fanatischer Nationalsozialist und Kreisleiter der Bremer „Deutschen Christen“ Landesbischof der evangelischen Kirche.[414] Er propagiert „eine Verschmelzung von christlichen Glaubensinhalten und nationalsozialistischer Ideologie,“[415] frei von „jüdischen Elementen“, erfüllt „von heldischem Geist.“[416] Die „Deutschen Christen“ boten sich „dem NS-Staat als Bündnispartner zur Eroberung der Kirchenleitungen“ an.[417] Weidemann wird als Führer des „braunen Stoßtrupps innerhalb der Kirche“[418] mit der Einführung des Führerprinzips die traditionelle Gemeindeautonomie in der evangelischen Bremer Kirche aufheben.[419]
Zusammenfassung von Kapitel II
Fast alle Riten der Eiswette von heute haben in der Hundertjahrfeier von 1929 ihren Ursprung, angefangen vom feierlichen „Schwimmen“ der Novizen auf der Weser im abgedunkelten Festsaal durch ein Spalier von Kerzen, über den Schwur auf das Bügeleisen, die Ehrung der Jubilare auf der Bühne bis zum Spenden für die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Sehr öffentlichkeitswirksam war 1929 die Einführung einer realen Eiswettprobe am Weserdeich. Mit ihr schuf sich die Eiswette eine Legende, der im Zuge der Zeitungs-Berichterstattung noch weitere folgten, die bis heute ihre Wirkung tun.
Aber das ist nur die eine Seite ihrer Geschichte jener Jahre. Die andere wurde geschrieben von den Verhältnissen der Zeit. Der Erste Weltkrieg, „das entscheidende Epochenereignis des 20. Jahrhunderts“, schreiben die Historikerinnen Gerda Hauser und Andrea Engelbracht in der opulent bebilderten Geschichte des Clubs zu Bremen, markierte „das Ende des alten Bremen (und) erschütterte die Stadtgesellschaft bis ins Mark“. „Seine unbewältigten Folgen sollten ursächlich für die politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen der Weimarer Republik und des Dritten Reiches werden. Vor allem markierte er den Untergang der in der Tat gesellschaftlich lange überlebten Bremer Eliten.“[420]
„Für einen Mann wie Heinrich Bömers brach eine Welt zusammen, die Welt, in der er gelebt hatte. Die Niederlage Deutschlands, Zusammenbruch, der Sturz des Kaisertums – das alles erschütterte ihn bis in die tiefen Wurzeln seines Wesens.“[421] Als „königlicher Kaufmann“ wurde er trotzdem zur herausragende kaufmännischen und politischen Persönlichkeit in Bremen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. In seiner letzten Rede vor der Bürgerschaft hat er seine gescheiterte Finanzpolitik eingestanden und mit dem Rücktritt ohne Wenn und Aber seinen Teil der Verantwortung für die Finanzkrise der Stadt übernommen. Sein jäher Tod erlaubte ihm nicht, was er mit seinem Rücktritt – auch – zu erreichen gehofft hatte: sein Leben, einmal befreit von der großen Last der politischen Verantwortung für die Heimatstadt, privat und in Ruhe ausklingen zu lassen. Andererseits hat die Tatsache, dass der überzeugte hanseatische Kaufmann, der er war, nicht mehr Zeuge der nationalsozialistischen Herrschaft werden musste, etwas Tröstliches. Möglicherweise ist ihm, der den Avancen der zukünftigen Machthaber so entschiedenen privaten Widerstand entgegengesetzt hatte, sogar ein trauriges Schicksal erspart geblieben.[422]
[414] Am 30. Juni 1934 wird er im Dom feierlich von Reichsbischof Müller in das Amt des Landesbischofs eingeführt. Vgl. Schwarzwälder, Berühmte Bremer, a.a.O., S. 263.
[415] Almuth Meyer-Zollitsch, Nationalsozialismus und Evangelische Kirche in Bremen. Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen, hrsg. von Wilhelm Lührs. Band 51, Bremen, 1985, S. 9 und S. 351.
[416] Schwarzwälder, Berühmte Bremer, a.a.O., S. 266.
[417] Meyer-Zollitsch, a.a.O., S. 9.
[418] Schwarzwälder in: Großes Bremen-Lexikon, a.a.O., S. 960.
[419] Vgl. Schwarzwälder, Berühmte Bremer, a.a.O.
[420] Der Club zu Bremen. 1783 – 2008. 225 Jahre in vier Jahrhunderten, hrsg. vom Club zu Bremen. Kapitel 1783 – 1945 von Gerda Engelbracht und Andrea Hauser, hier S. 211.
[421] Georg Bessell, a.a.O., S. 43.
[422] Rechtsanwalt Diedrich Lahusen, von den Amerikanern im Juni 1945 als Präsident des Bremer Landesgerichts eingesetzt (ein Amt, das er bis Februar 1951 ausübte), berichtete in einer schriftlichen Zeugenaussage zum Entnazifizierungsverfahren seines Schwagers Heinz Bömers, dem Sohn von Senator Bömers, dass die Nationalsozialisten an Heinrich Bömers „Rache genommen“ hätten, indem sie versuchten, seinen Nachlass zu beschlagnahmen. Aus dem gleichen Grund hätten sie das „in der Sparkasse Bremen angebrachte Bronzerelief von Senator Bömers entfernt.“ Erklärung vom 8.4.1948. StAB 466-I-1025.
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Ohne dass die kaufmännische Elite es recht gewahr wurde, hatten sich die Klassenverhältnisse im Reich und in Bremen radikal verschoben. Das allgemeine Wahlrecht und die zunehmende Industrialisierung der Stadt hatten schon vor dem Krieg zum gewaltigen Erstarken der Sozialdemokratie geführt und die politische Bedeutung der Kaufmannschaft zurückgedrängt. Der Rücktritt von Senator Bömers, bei seinem ersten Amtsantritt 1909 noch auf Lebenszeit in sein Amt gewählt, war ein Symbol dieses Wandels. Nun, da die vormals als selbstverständlich angesehene Einheit von kaufmännischer und politischer Elite nicht mehr bestand, war die Kaufmannschaft gezwungen, ihre Zurückhaltung bei der Darstellung ihrer Interessen aufzugeben und sich politisch zu positionieren. Für die Eiswette bedeutete es das Ende ihrer hundert Jahre geübten Praxis der Privatheit. Die Hundertjahrfeier war der „Urknall“ ihrer öffentlichen Auftritte, die sie nun nicht mehr aufgegeben würde. Die Türen wurden für auswärtige Gäste weit geöffnet. Dafür bot der gerade wiederaufgebaute Konzertsaal der „Glocke“ den passenden Rahmen. 135 Eiswettgenossen saßen 180 Gästen gegenüber. Initiator und Ideengeber in diesem Prozess war Hans Wagenführ, ein Mann, der weder aus dem kaufmännischen Milieu der Stadt kam, noch Bremer war. Als Mitglied eines Reform-„Comités“1923 und vor allem als Präsident der Jahre 1928 bis 1932 schuf er die Grundlagen einer neuen Eiswette. Die einschneidendste Veränderung war die Abschaffung des Kartenspiels, bis 1913 Höhepunkt jeder Feier. Es hatte den Eiswetten jene Stammtisch-Atmosphäre beschert, die nun verloren ging. Die zahlreichen, meistens lustigen, traditionell spontanen Reden hatten in dem nun durchorganisierten Programmablauf keinen Raum mehr. Die Männergesänge, einzeln, im Duett oder im Chor, wichen Opernarien professioneller Sänger. Die Beiträge selbsternannter Amateur-Dichter mit ihrer manchmal unfreiwilligen Komik wurden aufgegeben. Was zur Erheiterung der Versammlung dienen sollte, wurde Teil eines festgelegten Programms. „Dichterfürsten“ der Amateur-Klasse wie Rudolph Feuß und Otto Heins unterhielten nun ihr Publikum mit vorbereiteten Beiträgen. Der spontanen Feier hatte man das Korsett eines festen Programmablaufs angelegt. Unangetastet blieben nur die Rituale des opulenten Schlemmens und des ausgiebigen Trinkens. „Man fing gleich an mit drei festen Reden, einer auf Bremen, einer auf Deutschland und einer Gästerede…“[423] Unter den Gästen waren nicht nur Honoratioren der Stadt und Mitglieder des Senats, sondern auch Vertreter der Reichswehr und der „vaterländischen“ Verbände. Die ständige Anwesenheit von hohen Offizieren aller drei Reichswehrteile nahm ihr den rein zivilen Charakter. Die Einladung von Vertretern „vaterländischer“ Verbände machte sie zu einer „halbpolitischen“ Veranstaltung. Dazu trug bei, dass ab 1929 auswärtige Redner zu Worte kamen und die Presse eingeladen wurde, so dass nun eine ausführliche Berichterstattung in der lokalen Presse begann. Regelmäßige Einladungen von republikfeindlichen Führern oder Anhängern der Freikorps, wie Escherich, Caspari und Lettow-Vorbeck, die auch als Redner auftraten, drängten die Eiswette politisch zunehmend in die deutschnationale Richtung.
[423] Löbe, a.a.O., S. 117.
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