Kapitel 4 – Die Entnazifizierung der Privatwirtschaft in Bremen (1945 – 1948)

Entlassungen

Schon vor der Etablierung des „Office of Military Government for Bremen Enklave (US)“ (OMGUS) im April 1946 und lange bevor die britische und amerikanische „Doppelherrschaft“ über das Land Bremen durch die Proklamation Nr. 3 vom 21. Januar 1947 endgültig zugunsten der Amerikaner entschieden wurde, war der „Special branch“ der amerikanischen Militärregierung in Bremen als oberste Instanz in Sachen Entnazifizierung tätig.[1] Ab Mitte August 1945 begann die amerikanische Militärregierung, die am 7. Juli 1945 herausgegebene Direktive des Hauptquartiers der amerikanischen Streitkräfte umzusetzen. Alle Personen, die eine leitende Stellung in der Wirtschaft innehatten, mussten einen Fragebogen bei der „Special branch“ abgeben. In einer „Schnellaktion“ wurden 24 von 29 Großbetrieben in Bremen überprüft und zahleiche Entlassungen von leitenden Mitarbeitern wegen ihrer politischen Belastung angeordnet.[2] 

[1] Vgl. Die Geschichte der Freien Hansestadt Bremen von 1945 bis 2005, Band 1: 1945-1959, hrsg. von Karl Marten Barfuß, Hartmut Müller und Daniel Tilgner, Bremen 2008, S. 15-18 und S.32-35
[2] Vgl. Rainer Schulze, Unternehmerische Selbstverwaltung und Politik. Die Rolle der Industrie- und Handelskammern in Niedersachsen und Bremen als Vertretungen der Unternehmerinteressen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. (Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens nach 1945. Band 3 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen), Hildesheim 1988, S.429 – 432. Vgl. die grundlegende Arbeit zur Entnazifizierung im Land Bremen von Hans Hesse, Konstruktionen der Unschuld. Die Entnazifizierung am Beispiel von Bremen und Bremerhaven 1945-1953 (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen, hrsg. von Adolf Hofmeister, Band 67), Bremen 2005, S. 30 – 56. Vgl. Hans G. Jansen, Renate Meyer-Braun, Bremen in der Nachkriegszeit 1945 – 1949. Politik –Wirtschaft–Gesellschaft (Bremen im 20. Jahrhundert, hrsg. von Peter Kuckuk und Karl Ludwig Sommer), Bremen 1990, S.134/135.

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In Anbetracht der regimekonform ausgerichteten Eiswetten in den Jahren 1934 bis 1939, als ihr von der nationalsozialistischen Administration der Status einer „halbpolitischen Veranstaltung hohen Ranges“ zuerkannt wurde,[1] nimmt es nicht wunder, dass es auch unter den Eiswettgenossen Mitglieder der NSDAP oder ihr angeschlossener Organisationen gab. Im Zuge erster Entnazifizierungs-Maßnahmen, deren Grundlage die Mitgliederkartei der NSDAP war, wurden Karl Lindemann, (Norddeutscher Lloyd / Melchers), Walther Schünemann (Verleger / „Bremer Nachrichten“), Franz Stapelfeldt (AG Weser), Robert Stuck (Bremer Bank, Franz Kliemchen (Technischer Direktor und Prokurist der Dampfschifffahrtsgesellschaft „Neptun“ (D.G. „Neptun“)und Dr. med. Fritz Stein (Frauenarzt) vorübergehend interniert. Sofort entlassen aus ihren leitenden Positionen in der Privatwirtschaft wurden 35 der 129 Eiswettmitglieder des Jahres 1939 (27%),[2] darunter zwei aus dem alten Vorstand.[3] Die Entlassung eines dritten Vorstandsmitglieds  schien unmittelbar bevorzustehen.[4] Auch zwei „Stammmitglieder“ der ersten Nachkriegsjahre, die formell erst auf den ersten Eiswetten nach dem Krieg aufgenommen wurden, waren entlassen worden.[5] In der Privatwirtschaft Bremens begann eine fast zweijährige Phase der politischen „Reinigung“, wie es damals in den Zeitungsberichten hieß. Auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens vom 2. August 1945 hatten sich die Amerikaner mit großem Elan darangemacht, „alle

[1] So Dr. Alfred Loerner, Leiter der Außenhandelsstelle für das Weser-Ems-Gebiet (Vorstandsmitglied im „Club zu Bremen“), in einem Brief an Außenminister Konstantin von Neurath in Berlin vom 16. Dezember 1936, in dem er „Herren des Auswärtigen Amtes“ zur Eiswette einlud. Vgl. Kapitel „Mit den Wölfen geheult“ / 1936 („Nachlese“).
[2] Vgl. zu den statistischen Grundlagen der Eiswette-Mitglieder das Kapitel „Die Entnazifizierungsverfahren im Überblick“, Anmerkung 35.
[3] Hans Degener-Grischow und Carl August Wuppesahl.
[4] Otto Heins war auf Antrag der Bildungsbehörde zwar am 15. 1. 1946 von der Militärregierung vorläufig als Studienrat an der Oberschule für Jungen im Westen (später Gymnasium am Waller Ring) zugelassen worden, hatte aber dem Bildungssenator seine NSDAP-Mitgliedschaft verschwiegen.
[5] Friedrich Carl, Eiswettgenosse seit 1949 und Hermann Wenhold, Eiswettgenosse seit 1950.

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Mitglieder der nazistischen Partei, welche mehr als nominell an ihrer Tätigkeit teilgenommen haben, und alle anderen Personen, die den alliierten Zielen feindlich gegenüberstehen, (…) von den verantwortlichen Posten in wichtigen Privatunternehmungen zu entfernen.“ Sie sollten „durch Personen ersetzt werden, welche nach ihren politischen und moralischen Eigenschaften fähig erscheinen, an der Entwicklung wahrhaft demokratischer Einrichtungen in Deutschland mitzuwirken.“[1] Schon am 26. September 1945 hatte die amerikanische Militärregierung in ihrer Zone, das heißt in Bayern, Großhessen, Württemberg-Baden, im amerikanischen Sektor von Berlin und in der „Bremer Enklave“ das Gesetz Nr. 8 erlassen, in dem es lapidar in §1 hieß: „Die Beschäftigung eines Mitglieds der NSDAP, oder einer der ihr angeschlossenen Organisationen in Geschäftsunternehmungen aller Art in irgendeiner beaufsichtigenden oder leitenden Stellung (…) mit Ausnahme der des gewöhnlichen Arbeiters ist gesetzwidrig.“ In den umfangreichen Richtlinien, die in Bremen schon vor Bekanntgabe des Gesetzestextes in der Presse veröffentlicht wurden, war festgelegt, dass als „angeschlossene Organisationen“ die folgenden zu gelten hatten: SS (Schutzstaffel), SA (Sturmabteilung), NSKK (NS-Kraftfahrerkorps), NSDSTB (NS- Studentenbund) und NSF (NS-Frauenschaft). Entlassungen würden „ohne Ausnahme und ohne Rücksicht darauf durchgeführt, dass die Tätigkeit der Industrie, bzw. des Geschäftslebens vorübergehend durch diese Maßnahme beeinträchtigt werden könnte.“ Alle Unternehmen hatten bei den Arbeitsämtern Listen einzureichen mit allen Arbeitnehmern, „die „anders als in gewöhnlicher Arbeit beschäftigt sind.“ Veröffentlicht wurden diese Richtlinien am 10. Oktober im Weser-Kurier, der an die Stelle der beschlagnahmten „Bremer Nachrichten“ getreten war. Die amerikanische Militärregierung hatte dem Sozialdemokraten Hans Hackmack die Lizenz zur Herausgabe der neuen Bremer Lokalzeitung erteilt.[2] Drei Tage später berichtete die Zeitung: „Tagesgespräch in weiten Kreisen

[1] Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin [„Potsdamer Abkommen“] (02.08.1945), Abschnitt III. Deutschland – A. Politische Grundsätze, Punkt 6. In: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/in/1945/potsdamer-abkommen.html, Stand: 25.12.2017.)
[2] Der Weser-Kurier erschien am 19. September 1945 zum ersten Mal, zunächst zweimal wöchentlich.

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des gewerblichen Lebens Bremens, der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, in Großunternehmen und Ladenbetrieben, in Industrie, Handel und Handwerk bleibt das durch das Gesetz verhängte Beschäftigungsverbot.“[1]

Titelseite des Weser-Kurier. Die erste offizielle Erklärung der amerikanischen Militärregierung in Sachen Entnazifizierung in Bremen am 10. Oktober 1945.

Mit den Richtlinien hatten die Bremer auch erfahren, dass in der amerikanischen Zone insgesamt bereits 6583 Personen aus einflussreichen Stellungen entlassen worden waren und dass man in den USA den Eindruck gewonnen hätte, „dass die Entnazifizierungsaktion in der amerikanischen Zone Deutschlands sehr schnell vor sich gehe.“[2]

[1] Artikel von Jürgen Tern „In Erwartung“ im Weser-Kurier vom 13. Oktober 1945.
[2] Weser-Kurier vom 10. Oktober 1945.

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Nicht nur Entlassungen von Geschäftsführern, Bankdirektoren und Firmeninhabern, sondern auch die von Rechtsanwälten und niedergelassenen Ärzten, wie sie jetzt vorgenommen wurden, waren das schärfste Schwert der Alliierten im „Denacification“-Arsenal zur „Reinigung“ der Privatwirtschaft. Bald stapelten sich Anträge auf dem Schreibtisch des Schütting, dem Sitz der wiedererstandenen Industrie- und Handelskammer, in denen Firmen um die Freistellung angeblich unersetzlicher Mitarbeiter ersuchten.[1]

Exkurs: Brief von Carl Katz an den Schütting

In den Akten der Handelskammer Bremen befindet sich ein bemerkenswertes Dokument. Es ist ein Schreiben des Vorstehers der Israelitischen Gemeinde Bremen, Carl Katz, an den Präses der Handelskammer Bremen, Am Markt (Haus Schütting) vom 24. Oktober 1945:

Sehr geehrter Herr Präses Wilkens!
Ich erlaube mir, Ihnen meine Mitarbeit anzubieten. Wie Ihnen bereits vor einigen Wochen persönlich mitgeteilt, bin ich bereit und glaube auch jetzt in der Lage zu sein, eine volle Tätigkeit auszuüben. Sollten Sie Personen gebrauchen, die einem größeren Betrieb leitend vorstehen müssen, so glaube ich, auch evtl. diesen Posten ausfüllen zu können, oder stehe Ihnen auch vorübergehend, bis Ersatz gefunden ist, für derartige Positionen zur Verfügung.
In unseren Kreisen gibt es noch einige fähige Herren, welche auch evtl. einspringen könnten. Falls Sie uns gebrauchen, stehen wir jederzeit zur Verfügung.
Hochachtungsvoll Carl Katz

[1] Vgl. die „Akte betr. Entlassungen früherer Nationalsozialisten aus der Wirtschaft (Handel – Industrie) – Gesetz Nr. 8 der amerikanischen Militärregierung 1945“ in der Senatsregistratur des Staatsarchivs Bremen. StAB Senatsregistratur 3-B.10.b.Nr.19. Darin ein Schreiben des Vizepräsidenten der Handelskammer G. A. Fürst an Senatspräsident Kaisen vom 14.9.1945 (in Ergänzung zu einer Eingabe vom 13.9.), in dem die Rücknahme der Entlassung für einige „leitende Personen“ gefordert wird, da sie „zur Weiterführung des Betriebes dringend erforderlich“ sind.

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Wilkens antwortet am 26. Oktober:

Sehr geehrter Herr Katz,
Ich (…) danke Ihnen für Ihre Bereitwilligkeit zur Mitarbeit
insbesondere in solchen Betrieben, deren bisherige Leiter jetzt auf Grund des Gesetzes Nr. 8 ausscheiden müssen. Bisher vollzieht sich der Ersatz dieser leitenden Kräfte durch politisch unbelastete Personen ohne dass die Kammer um Vorschläge hierfür angegangen wird. Ich kann mir aber denken, dass wir in nächster Zeit doch in manchen Fällen Gelegenheit haben werden, hierbei mitzuwirken und werde dann auf Ihr Angebot gern zurückkommen.
Hochachtungsvoll M. Wilkens[1]

Das Angebot ist allem Anschein nach in Bremen nie diskutiert, geschweige denn jemals praktiziert worden.

Ausgerechnet ein Rechtsanwalt, dessen Berufsstand am meisten von Nationalsozialisten durchsetzt war[2], verstieg sich schon am 28. August 1945 zu einer geharnischten Kritik an der amerikanischen Entnazifizierungspolitik in Bremen, die „unvermeidlich“ dazu führen würde „dass die Bevölkerung Parallelen zieht zwischen den von der Gestapo unseligen Angedenkens angewandten Verfahren und den jetzt drohenden Methoden der Denazifikation.“ In einem dreieinhalb Seiten langen Brief erhob der von den Amerikanern kommissarisch als Landesgerichtspräsident eingesetzte Diedrich Lahusen[3] schwerste Vorwürfe.[4] Die Amerikaner, schrieb er, hätten „durch ihr Kommen (! d. Verf.) die Verantwortung für den Wiederaufbau übernommen (! d. Verf.) …“ „Durch die Maßnahmen der Denazifikation“ würde aber „das schwindende Vertrauen der Bevölkerung (…) geradezu erschüttert werden.“ Mit Recht beschreibt er „die Entfernung von Personen aus ihren Stellungen“ als Entscheidungen, „die den Einzelnen viel schwerer treffen als manche Verurteilung in einem Strafverfahren. Bei der Ausschließung von Personen im Zuge der Reinigung des öffentlichen und privaten Lebens geht es in der Regel um die wirtschaftliche, gesellschaftliche und moralische Existenz des Betroffenen …“

[1] Archiv der Handelskammer Bremen, Signatur 440 01 Bd.1.
[2] Auf einer Sitzung der Deputation für politische Befreiung am 26. Januar 1948 wurde beklagt, dass es in Bremen nur zwölf Anwälte gäbe, die nicht Mitglieder der NSDAP waren. Vgl. Renate Meyer-Braun in: Hans Jansen, Renate Meyer-Braun, a.a.O. (Anmerkung Nr. 2), S. 145.
[3] Diedrich Lahusen (1881-1951) Rechtsanwalt und Notar, war am 15. Juni in sein Amt eingesetzt worden, das er bis 1951 ausübte.
[4] Der Brief befindet sich in einer Kopie im Archiv der Handelskammer Bremen unter der Signatur 440 01 Band 1. Vgl. dazu auch Hans Hesse, a.a.O. (Anmerkung Nr. 2), S. 39/40.

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Wenn es je so etwas wie einen Entnazifizierungs-Schock gegeben haben sollte, dann erreichte er die Eiswettgenossen in diesen ersten Monaten der rigorosen amerikanischen Entlassungs-Politik. Ein ganz anderes Bild der politischen Stimmung zeichneten die Reportagen und Berichte des „Weser-Kurier“. Im Leitartikel vom 10. Oktober 1945 hieß es: Die „von der Besatzungsmacht eingeleitete Reinigungsaktion (ist) von a u ß e r o r d e n t l i c h e i n s c h n e i d e n d e r B e d e u t u n g“ und erfasst „einen über Erwarten g r o ß e n P e r s o n e n k r e i s (…)„Für irgendwelche Illusionen lassen die Bestimmungen keinen Raum mehr (…)“[1] (Sperrungen im Original – d. Verf.) Die „Lebhaftigkeit des Interesses“ an den Richtlinien bestünde durchaus zu Recht, hieß es, „denn eine umfassende soziale und wirtschaftliche Umschichtung bahnt sich hier an, die ebenso in die Breite wie in die Tiefe geht …“[2]
In den folgenden Wochen erschien im Weser-Kurier eine Serie von sieben Artikeln, in denen kein Zweifel daran gelassen wurde, dass diese Entwicklung unvermeidlich wäre.[3] Verfasser war Jürgen Tern, ein bürgerlicher Journalist der ersten Stunde, später politischer Redakteur und Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.[4] Am 29. Mai 1946 schrieb ein Professor A. Kirchhoff, Abgeordneter der ersten, noch von der Militärregierung ernannten Bremischen Bürgerschaft, Fraktionsmitglied der Bremer Demokratischen Volkspartei, die 1945 als bürgerlich-liberale Partei gegründet worden war: „Es wird niemand vergönnt sein, an der Frage der politischen Säuberung oder Befreiung vorbeizukommen. S i e i s t d a s P r o b l e m d e s d e u t s c h e n V o l k e s s c h l e c h t h i n. (Sperrungen im Original – d. Verf.)

[1] Weser-Kurier vom 10. Oktober 1945.
[2] Weser-Kurier vom 13. Oktober 1945.
[3] Sie erschienen am 10., 13., 17., 24., 31. Oktober und am 3. und 7. November. Im letzten Artikel wurde darauf hingewiesen, dass auch Aufsichtsratsmandate vom Beschäftigungsverbot betroffen wären und dass Geschäftsinhaber und leitende Angestellte nicht im eigenen Betrieb, in welcher Funktion auch immer, weiterbeschäftigt werden dürfen.
[4] Jürgen Tern wurde 1956 Leiter der politischen Redaktion der FAZ und 1960 ihr Herausgeber. Im September 1970 wurde ihm gekündigt, weil er die Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel befürwortete. Vgl. Hans Günther Thiele, Eine Zeitung für alle. Artikel zum 70jährigen Jubiläum des Weser-Kurier am 19.September 1945. In: Weser-Kurier vom 18.9.2015. Vgl. auch Jürgen Tern, Stichwort wikipedia vom 15.12.2017.

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Die Entnazifizierung ist unerlässliche Vorbedingung für den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wiederaufbau.“[1] „Man kann davon ausgehen,“ resümiert Meyer-Braun in ihrer kompakten Darstellung der Entnazifizierung, „dass 1945/46 in Bremen starke politische Kräfte vorhanden waren, die ihre Verantwortung erkannten und sich ehrlich bemüht an die Arbeit der Entnazifizierung machten.“[2]

Die Veröffentlichung des Gesetzes Nr.8 vom 26. September 1945 im Weser-Kurier vom 17. Oktober 1945

Vorstellungsverfahren

In der Ausführungsverordnung zum Gesetz Nr.8 war nicht nur das Beschäftigungsverbot geregelt, sondern auch ein Prüfungsverfahren für diejenigen, die sich zu Unrecht entlassen wähnten, das sogenannte Vorstellungsverfahren. Dem Antrag musste ein Fragebogen beigefügt werden. Die Ausschüsse waren paritätisch mit je zwei Vertretern der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber besetzt.

[1] Über A. Kirchhoff ist über sein Abgeordnetenmandat in der Bürgerschaft hinaus, das vom 6. August 1945 bis zum Zusammentritt der ersten gewählten Bürgerschaft am 28. November Gültigkeit hatte, nichts bekannt. Zu den Mitgliedern der BDV gehörten Hermann Apelt, Bernhard Noltenius und Theodor Spitta. Von der BDV spaltete sich im Sommer 1946 eine zum Teil linksbürgerliche Gruppe als FDP ab. Erst 1951 kam es zur Vereinigung der beiden Parteien zur FDP.
[2] Meyer-Braun in Hans Jansen, a.a.O., Kapitel VIII Die Entnazifizierung in Bremen, S.134 – 151, hier S.137.

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Ihre Entscheidungen standen unter dem Vorbehalt der Zustimmung durch die Militärregierung. Die Einschaltung der Arbeitsämter und „öffentlich anerkannter Arbeitnehmerorganisationen“ bei der politischen Überprüfung, sowie die Besetzung der Prüfungsausschüsse durch Deutsche zeigten, so der Weser-Kurier, dass die Besatzungsbehörde „besonderen Wert“ darauf legt, „dass v o n u n s D e u t s c h e n s e l b s t die Reinigung der gewerblichen Wirtschaft in die Hand genommen wird (…).“[1] „Man muss sich immer wieder den S i n n der Aktion vor Augen führen:“, schrieb Jürgen Tern am 24. Oktober: „Säuberung der leitenden und beaufsichtigenden Wirtschaftspositionen von den Nazi-Elementen und den Nutznießern des Hitler-Regimes, und zwar r a s c h und g r ü n d l i c h.“ Am 3. November lagen 1250 Anträge auf Vorstellungsverfahren vor, etwa 600 pro Monat sollten von den acht Einzelausschüssen bearbeitet werden. Da man mit einer Zahl von bis zu 4000 Anträgen rechnete, sollten die Verfahren „o h n e p e r s ö n l i c h e A n h ö r u n g“ entschieden werden.[2] Tern war sicher, dass die Ausschüsse „sich keineswegs als „Nazi-Rettungsstationen“ ansehen würden. Sie hätten, schrieb er, „eine e c h t d e m o k r a t i s c h e A u f g a b e, deren befriedigende Lösung zur Weckung eines gesunden demokratischen Lebens und einer wahrhaft sozialen Gesinnung viel beitragen kann. Die Ausschüsse können zu einer Pflanzstätte der Wirtschaftsdemokratie werden, wenn die hier liegenden Chancen richtig genutzt werden.“[3]
Am 29. Dezember veröffentlichte der Weser-Kurier die erste Liste von Personen, die ein Vorstellungsverfahren beantragt hatten und deren Verfahren in der nächsten Zeit anstehen würden. Fünf Tage später berichtete die Zeitung in einem redaktionellen Artikel, dass dieser Vorgang allgemein begrüßt worden wäre, denn die Ausschüsse bräuchten hieb- und stichfeste Unterlagen für eine gerechte Entscheidung. „Was, d e n hat man wieder in sein Amt eingesetzt, bei solcher Nazivergangenheit?“ So musste man bisher häufig hören. (…) Jetzt hat die Bevölkerung die Möglichkeit der Mitwirkung bei der Reinigung. (…) Anonyme Briefe werden nicht berücksichtigt. (…)

[1] Weser-Kurier vom 10. Oktober 1945. Alle Sperrungen in diesem Kapitel im Original.
[2] Jürgen Tern im Weser-Kurier vom 3. November 1945.
[3] Weser-Kurier am 3. November 1945.

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Wir alle sind aufgerufen zur Mitwirkung bei der Reinigung – erweisen wir uns als reif, von dem neuen Recht den richtigen Gebrauch zu machen!“[1]

Liste von Personen, die ein Vorstellungsverfahren beantragt hatten. Weser-Kurier vom 29.12.1945

[1] Redaktioneller Artikel ohne Autor; Weser-Kurier vom 3. Januar 1946.

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Am 20. Februar 1946 waren 1480 Anträge bearbeitet worden, davon waren 1140 (77%) positiv und 340 negativ entschieden worden. 22 Mal kam es zu Einsprüchen beim Bürgermeister. Von den 1322 Einsendungen nach Veröffentlichung der Namenslisten hatten 938 (71%) entlastenden Charakter. Man könnte sich des Eindrucks nicht erwehren, schrieb Tern in einem Fazit, „dass es sich hier öfters um „bestellte Arbeit“ oder um Gefälligkeiten handelt.“ Andererseits wäre es erfreulich, dass es nur in 18 Fällen anonyme Anzeigen gab.[1] Am 23. Mai 1946 wurde in der Bürgerschaft ein Ausschuss zur praktischen Gestaltung der Entnazifizierung gewählt. In der Debatte ging es auch um die Frage, ob und in welchem Maße Juristen in diesen Prozess eingebunden werden sollten.[2]
Am 6. Juni fand die große Debatte über Entnazifizierung in der Bürgerschaft statt. Sie dauerte über drei Stunden.[3] Einer ihrer Hauptredner war der Sozialdemokrat Willi Ewert, Vorsitzender eines Prüfungsausschusses, der 700 Fälle bearbeitet hatte.[4] Am Vortag der Debatte hatte er in einem langen Artikel im „Weser-Kurier“ eine vorläufige kritische Bilanz der Entnazifizierung vorgelegt. Ewert, ein konsequenter Verfechter der politischen Entnazifizierung, schrieb:„Das Gesetz Nr. 8 wurde zunächst allseitig begrüßt. Dann aber machte sich ein Stimmungsumschwung bemerkbar, weil man glaubte feststellen zu müssen, dass es eine zu geringe Wirkung habe. Dafür machte man die Ausschüsse verantwortlich.“ Diese Behauptung sei aber nicht richtig, denn ihre Arbeit sei nur eine „vorbereitende“. Jetzt komme es darauf an festzulegen, „was mit den (Nazi-) Aktivisten geschehen solle.“ Außerdem bedürften viele Fragen noch einer Klärung, zum Beispiel der Einsatz von „Treuhändern“ für entlassene Betriebsangehörige. In kleineren Betrieben würden Verwandte eingesetzt, in größeren Betriebsleiter nicht im Sinne des Gesetzes Nr. 8 eingestellt. Offen sei auch die Frage, wie „Nazigewinne“ verwendet werden sollten. „Wirtschaftsführer“ würden behaupten, dass die Ernährung der Bevölkerung in Gefahr wäre, wenn sie entlassen würden. Niemand hätte den Krieg gewollt, aber viele hätten im Krieg „schwer verdient“.

[1] Weser-Kurier vom 20. Februar 1946.
[2] Verhandlungen der Bremischen Bürgerschaft vom 23. Mai 1946, S.36/37
[3] Verhandlungen der Bremischen Bürgerschaft vom 6. Juni 1946, S.39-56.
[4] Willi Ewert (1894 – 1970); von 1946 bis 1951 Bremer Bürgerschaftsabgeordneter; von November 1946 bis April 1948 Senator für Wohnungsbau.

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Von Konzentrationslagern hätte man nichts gehört, hätte alle Juden „geradezu geliebt.“ Trotzdem hätte man jüdische Geschäfte übernommen. „Wehrwirtschaftsführer“ und „Abwehrbeauftragten“ hätten diese Posten angeblich nur „gezwungenermaßen“ angetreten. Innerlich wären sie immer Gegner des Regimes gewesen.[1]
Mit der Überschrift „Die Militärregierung greift ein“ erschien am 7. September 1946 im „Weser-Kurier“ eine kritische Stellungnahme der Amerikaner zur Bremer Entnazifizierungspraxis. In den Prüfungsausschüssen würden Akten oft spurlos verschwinden oder sie enthielten nur vorteilhafte Informationen auch bei „im höchsten Grade unerwünschten Nationalsozialisten.“ Es wären sogar Ausschussmitglieder mit Geschenken bestochen worden.[2] Die Militärregierung bezog sich „auf Vorfälle, zu denen es in dem Prüfungsausschuss gekommen war, der in den Räumen des Schütting, dem Sitz der Handelskammer, tagte und der sich mit Einsprüchen aus Kreisen der bremischen Wirtschaft zu beschäftigen hatte.“[3]

Das Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 9. Mai 1947

Schon am 29. Mai 1946 hatte A. Kirchhoff im „Weser-Kurier“ die Vorzüge eines Gesetzes erläutert, das seit dem 5. März 1946 in der übrigen amerikanischen Zone galt und von dem er zu Recht annahm, dass es bald auch in Bremen Gültigkeit haben würde. Er nannte es „wohldurchdacht“. Es würde „mit Recht eine politische Großtat“ genannt. „Es erstrebt strenge Gerechtigkeit gegen den Böswilligen und Milde gegenüber menschlicher Schwäche und tätiger Reue.“ Es bestimmte, dass jeder Deutsche über 18 Jahre einen Fragebogen auszufüllen hatte, der Aufschluss geben sollte über seinen politischen Werdegang in der NS-Zeit. Es legte die Schaffung von Spruchkammern fest, die aus einem öffentlichen Ankläger, einem Vorsitzenden mit der Befähigung zum Richteramt und mindestens zwei Beisitzern bestehen sollten. Die „genügend Verdächtigen“ wurden in fünf Kategorien eingeteilt: 1. Hauptschuldige, 2. Belastete (Aktivisten), 3. Minderbelastete (Bewährungsgruppe), 4. Mitläufer, 5. Entlastete. Die Zahl der im Hauptverfahren behandelten Fälle würde in die Millionen gehen. „Eine solche riesengroße, richterliche Arbeit hat die Weltgeschichte noch nicht erlebt.“[4]

[1] Willi Ewert, Entnazifizierungs-Erfahrungen. Lehrreiche Praxis der Prüfungsausschüsse. Weser-Kurier vom 5. Juni 1946.
[2] Weser-Kurier vom 7. September 1946.
[3] Meyer-Braun, a.a.O., S. 139.
[4] Alle Zitate aus A.Kirchoff, „Entnazifizierung in Bremen“; im Weser-Kurier vom 29. Mai 1946.

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