Kapitel 7 – Unter den Fittichen von Bürgermeister Kaisen (1949 – 1951)

1949 Im Neuen Rathaus / Ausschluss der Öffentlichkeit

Nach Abschluss der Entnazifizierungsverfahren gegen die Vorstandsmitglieder im Laufe des Jahres 1948 [1] konnte man die Eiswette für Januar 1949 ins Auge fassen. Das Eiswette-Jahr fing mit einer Zeitungsreportage über die Eiswettprobe am 6. Januar an, in der angekündigt wurde, dass die Genossen am 19. März wieder  zusammenkämen, aber „unter sich“ bleiben wollten, denn „die Mittel der Mitglieder erlauben auch kaum einen größeren Rahmen.“[2] Wie sollte man die Feier gestalten und in welchem Rahmen? Der traditionelle Veranstaltungsort, Die Glocke, war 1945 zum kulturellen Hauptquartier der amerikanischen Militärregierung geworden, wo US-amerikanische Spielfilme gezeigt und Theatervorführungen veranstaltet wurden, sowie Swing-, Jazz- und Blueskonzerte.[3] Aber schon 1947 war sie wieder für deutsche Besucher geöffnet und damit „das erste von Deutschen und Amerikanern gemeinsam genutzte Kulturzentrum in der US-besetzten Zone.“[4]

[1] Degener-Grischow am 12. Juli 1948 ((Verfahren eingestellt); Carl A. Wuppesahl am 31. Mai 1948 („Nicht betroffen“); Heinz Bömers am 9. April 1948 („Entlastet“); Bollmeyer am 20. September 1948 („Mitläufer“); nur das Verfahren von Heins zog sich noch bis zum 18. Februar 1949 hin („Entlastet“). 
[2] „Eiswette – Fortsetzung eines alten Brauches“, Weser-Kurier vom 8. Januar 1949:
[3] Vgl. K.M.Barfuß, H.Müller, D.Tilgner (Hrsg.), Geschichte der Freien Hansestadt Bremen, a.a.O., S. 219. 
[4] K.M.Barfuß, a.a.O. Vgl. auch Nils Aschenbeck, Die Glocke. Domstift-Künstlerhaus-Konzerthaus. Bremen 1997, S. 70 und S. 72.

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Im November des Jahres hatte die Militärregierung dann den Großen Glockensaal der Bremer Opern GmbH zur Nutzung überlassen, so dass er wieder seiner Bestimmung als Konzertsaal entsprach. Er wäre also durchaus als Veranstaltungsort in Frage gekommen. Auch wenn es terminlich gepasst hätte, scheute man wahrscheinlich doch noch die Öffentlichkeit. Es erwies sich als Glücksfall, dass Präsident Ahlers zu den CDU-Politikern gehörte, die „eine Fortsetzung der bereits nach dem 1. Weltkrieg erprobten Koalition zwischen dem liberalen Bürgertum und der Sozialdemokratie“ für geboten hielten.[1] Mit dieser Einstellung war er der ideale Partner, um mit Bürgermeister Kaisen in Verhandlung über das Rathaus als Veranstaltungsort zu treten, denn der Hausherr hatte sich das „Bündnis von Kaufmannsleuten und Arbeiterschaft“ auf die Fahne geschrieben, ein Schlagwort „aus seinem persönlichen Politikverständnis“.[2] Es bestand letztlich darin, die Politik der sozial-liberalen Koalition aus den Jahren 1928 bis 1933 fortzusetzen, in der Kaisen fünf Jahre lang Sozialsenator an der Seite der Senatoren Spitta und Apelt gewesen war. Nun waren sie wieder Berufskollegen – mit umgekehrtem Vorzeichen: Kaisen war als Senatspräsident die bestimmende Kraft in der wieder aufgelegten Koalition. Apelt dürfte als Freund der Eiswette seit den zwanziger Jahren seinen Teil dazu beigetragen haben, dass die Gespräche mit Ahlers erfolgreich verlaufen waren. Neben Kaisen war er auf der Eiswette von 1949 der einzige Gast.[3] Über die Verhandlungen von Ahlers mit Kaisen findet sich keine Spur in den Senatsakten. Vermutlich haben sie unter vier Augen stattgefunden, und Kaisen hat, seinem politischen Verständnis als Präsident des Senats folgend, die Einladung der Eiswette persönlich verantwortet und entschieden. Es gibt keinen Senatsbeschluss, der den Eiswettgenossen die Nutzung des Neuen Rathauses erlaubt hätte. Das gilt auch für 1950, als die Eiswette in den Räumen der alten oberen Rathaushalle tagte. Das erste Dokument in der Senatsregistratur „betr. die Eiswette von 1829“ ist ein Schreiben von Ahlers vom 31. Dezember 1949, in dem er Bürgermeister Kaisen zur Teilnahme an der Eiswette am 28. Januar 1950 in der oberen Rathaushalle einlädt. Für 1951 findet sich in der Akte zum ersten Mal ein formaler Antrag zur Nutzung der oberen Rathaushalle.

[1] Artikel „Richard Ahlers“ in der Bremischen Biographie, a.a.O.
[2] Karl-Ludwig Sommer, Politik im Zeichen des „Bündnisses von Kaufleuten und Arbeiterschaft“ in: Karl-Ludwig Sommer (Hg.), Bremen in den fünfziger Jahren. Politik – Wirtschaft – Kultur. (Reihe: Bremen im 20. Jahrhundert, hrsg. von Karl-Ludwig Sommer, S. 8 -76, hier S.70.
[3] Gutmann vermerkt ihn in seiner Gästeliste auch als Redner. Vgl. Hermann Gutmann, Jochen Mönch, Die Eiswette von 1829. Ein Bremer Fest – Geschichte und Geschichten, Bremen 2010 S.52.

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Der geht dann tatsächlich an den Senat, wo er gebilligt wird. Für die Feiern von 1949 und 1950 werden den Eiswettgenossen die Rathaus-Räumlichkeiten kostenlos überlassen, einschließlich des alten Senatsgestühls.[1] Später griff man auch direkt in das Stadtsäckel, als den Eiswettgenossen, auf Antrag von Finanzsenator Nolting-Hauff, die Getränke- und Vergnügungssteuer erlassen wurde.[2]

Man lud – gegen alle Gepflogenheiten – keine Pressevertreter ein. Das Ganze war, da man in den späten zwanziger und den dreißiger Jahren in gegnerischen politischen Lagern gestanden hatte, nicht unproblematisch. Die Feier fand jedenfalls unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, gewissermaßen als Probelauf. Kaisen, der aus naheliegenden Gründen nie Gast auf einer Eiswette gewesen war, oblag es, die Deutschland-Rede zu halten.

[1] Bis sich nach der dritten Feier 1951 die Rathausverwaltung einschaltete wegen der „erheblichen Kosten für Beheizung und Beleuchtung“ und einen Unkostenbeitrag einforderte. StAB Senatsregistratur. Auszug aus dem Senatsprotokoll a.a.O., Aktenvermerk Bischoff vom 19.2.1951. Auch das Senatsgestühl wurde nur „ausnahmsweise“ noch dieses eine Mal zur Verfügung gestellt. StAB, a.a.O., Aktenvermerk Bischoff vom 23.1.1951.
[2] Senatsprotokoll vom 24.2.1953, a.a.O.

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Das erste Senatsdokument zur Eiswette nach dem Krieg: Einladung von Präsident Ahlers an Kaisen zur Eiswette von 1950 in der oberen Rathaushalle. StAB V.2.Nr.2225

Dass die Feier, entgegen der Tradition, nicht am zweiten Sonnabend nach der Eiswettprobe stattfand, hatte vermutlich organisatorische Gründe, die in der Verwaltung und Auslastung des Rathauses gelegen haben mögen. Die Präsenz der im Rathaus versammelten „200 Bremer Kaufleute, Juristen, Seefahrer, Akademiker und Ingenieure“ (Weser-Kurier am 8.Januar) hatte einen großen symbolischen Wert für Kaisens „Bündnis von Kaufleuten und Arbeiterschaft“, wenn auch mit dem Schönheitsfehler, dass er als einziger Arbeiter an dieser Versammlung teilnahm. Als aufmerksamem Zeitungsleser dürfte ihm die politische Ausrichtung der Eiswette in den dreißiger Jahren nicht entgangen sein. Ein Blick in die Senatsregistratur hätte ihm die Einladung von Präsident Gebert vom November 1939 an den Regierenden Bürgermeister Heinrich Böhmcker gezeigt.

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Letztes Dokument in der Senats-Registratur vor dem Zweiten Weltkrieg: Einladung an „Dr.“ (! – d.Verf.) Böhmcker, Zusage und kurzfristige Absage wegen eines Gauleitertreffens. Senatsregistratur StaB V.2.Nr. 2225:

Die Einladung der Eiswettgenossen an den nationalsozialistischen Bürgermeister liegt in den Akten der Senatsregistratur unmittelbar vor der Einladung des Sozialdemokraten Kaisen. Bekanntlich hielt Kaisen nichts von den Entnazifizierungen, wie sie die Amerikaner in die Wege geleitet hatten. So darf man davon ausgehen, dass ihn die nationalsozialistisch geprägten Veranstaltungen der Eiswette in den dreißiger Jahren nicht interessierten. Aus dem gleichen Grund wird es ihm auch nicht der Mühe wert gewesen sein, einen Blick in die Gästeliste zu werfen, wo der Kaufmann Fedor Deiters neben seinem Vater Friedrich aufgeführt war.[1] Gegen Fedor Deiters, Träger des SS-Totenkopfrings, hatte Kaisen, ganz entgegen seiner Gewohnheit, im Entnazifizierungsverfahren schwere Vorwürfe erhoben. [2] Kaisen sah sich als Hüter einer „Tradition“, die er selbst nie erlebt hatte.

[1] Vgl. Mitgliederliste in der Festschrift zur 125-Jahr-Feier 1954: „Eiswette von 1829. Gedenkschrift zur 125. Stiftungsfest am 16. Januar 1954, S.16. StAB 16.N.10.006
[2] Irrtümlich hatte er seine Beurteilung zunächst dem Vater Friedrich zugeschrieben, der angeblich seinen Sohn wegen dessen nationalsozialistischer Weltanschauung als Teilhaber seiner Firma ausgeschlossen hatte. Fedor Deiters hatte sich in den Jahren der Entnazifizierung nicht in Bremen aufgehalten. Vgl. Entnazifizierungsakte Friedrich Deiters, StAB 4,66-I.-2075.

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In diesem Sinn hatte er sich Präsident Ahlers gegenüber geäußert, der Kaisens Worte in seinem Brief vom 31. Dezember 1949 wiedergab: Sie haben letztes Jahr ihr „besonderes Verständnis“ zum Ausdruck gebracht „für die Aufrechterhaltung und Fortführung solcher, in langer Tradition bewährter Institution (…), die, unabhängig von allen politischen Einrichtungen dazu dient, das Gefühl der Zusammengehörigkeit und der gemeinsamen Verpflichtung für unseren alten Stadtstaat wach und lebendig zu erhalten.“[1] Mit dieser Formel wies Kaisen der Eiswette nicht nur einen festen Platz im gesellschaftlichen Leben Bremens zu, sondern erklärte sie auch zu einer unpolitischen Veranstaltung, was sie spätestens seit 1929 nicht mehr war. Den Eiswettgenossen stand am 19. März 1949 kein klassenkämpferischer Arbeiterführer gegenüber, sondern ein Bürgerlicher im schwarzen Anzug, wie er ihn immer getragen hatte: mit Weste, Krawatte und Uhrenkette. Es ist nicht überliefert, ob die Eiswettgenossen 1949 – der Tradition gemäß – wieder ihre Smokings und Fräcke aus den Schränken geholt haben, soweit sie Krieg und Motten überstanden hatten. Sicher ist, dass Kaisen nicht nur 1949, sondern auf allen Eiswettfeiern, als Smoking und Frack längst wieder üblich waren, immer seinen Anzug trug – als einziger übrigens auch auf den Schaffermahlzeiten. Für den Bürgermeister ein symbolischer Akt, war der Frack in seinen Erinnerungen doch ausgesprochen negativ besetzt. [2] Der Arbeitersohn aus Hamburg, in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, nun als Präsident des Senats der Freien und Hansestadt Bremen Gastgeber der bremischen Kaufleute, eingeladen, die Deutschland-Rede zu halten, stand hier selbstbewusst, politisch und sozial auf Augenhöhe mit den Versammelten. Wir gehen wohl nicht zu weit in der Annahme, dass in diesem Augenblick ein politisches und ein persönliches Lebensziel in glücklicher Fügung gleichzeitig in Erfüllung gegangen waren. Noch ein besonderer Umstand zeichnete diese Eiswette aus. Apelt wurde nicht nur eingeladen, die Bremen-Rede zu halten, sondern auch zum ersten (und bis heute einzigen) Ehrenmitglied der Eiswettgenossenschaft ernannt.[3] Das war eine Art Wiedergutmachung dafür, dass man ihn nach 1933 nicht mehr eingeladen hatte, nachdem er bei der nationalsozialistischen Regierung in Misskredit geraten war, weil er ihr Angebot, das Amt des Hafensenators weiter auszuüben, ausgeschlagen hatte.[4]

[1] Ahlers zitiert Kaisen in einem Dankschreiben vom 21. Januar 1950. Darin lädt er ihn wieder als Redner und Ehrengast für die Eiswette am 28. Januar 1950 ein. StAB Senats-Registratur „Eiswette von 1829“, a.a.O.
[2] Kaisen schrieb in seiner Biographie von 1967 mit Blick auf Senator Heinrich Bömers und die „Nordwolle“-Pleite: „Ich bin nur Arbeiter und kein Mitglied der „guten“ Bremer Gesellschaft mit ihren bequemen, prinzipienlosen Vorstellungen, die für mich so schwer verständlich sind. Schade ist nur, dass ihre ersten Vertreter nicht so harmlos sind, wenn sie auf die Politik losgelassen werden. Hier fallen sie leicht zurück in das Urgewerbe des Bürgertums, in die Piraterie. Wenn sie dabei im Frack erscheinen, um eine besonders gute Figur zu machen, dann nur deshalb, weil sie glauben, dass der Staat ihnen allein gehört.“ Wilhelm Kaisen, Meine Arbeit. Mein Leben. München 1967, S. 123/124.
[3] Vgl. Löbe, a.a.O., S. 123 und S.155. Koschnick hatte man diese Ehre 1974 verweigert. Dagegen gibt es mehrere Ehrenpräsidenten.
[4] Vgl. Herbert Schwarzwälder, a.a.O., Bd. IV, S.55.

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Ohne Presse gibt es nur spärliche Informationen über diese erste Eiswette – paradox angesichts ihrer ersten quasi offiziellen Feier. Welche Lieder sang man? Hat man überhaupt wieder gesungen? Es gab noch keine Nationalhymne, ja noch nicht einmal einen deutschen Staat. War eine Kapelle dabei? Hat man sich Trinksprüche zugeworfen? Wurde wieder ein lustiges Eiswettspiel aufgeführt? Wahrscheinlich hat man ein „abgespecktes“ Programm gefahren, ohne Kapelle, Gesang, Trinksprüche und Eiswettspiel. Sicher ist, dass man „vaterländischen braunen Kohl mit Zubehör“ aß.[1] Aus späteren Aufzeichnungen geht hervor, dass wieder gespendet wurde. Diesmal waren es 1500 DM.[2] Das Fest war anscheinend von einem unüblich durchgehenden Ernst getragen. Von Kaisens Deutschland-Rede soll „noch lange gesprochen“ worden sein. Sie soll einen „Überblick über die deutsche Entwicklung“ gegeben haben.[3] Wir können davon ausgehen, dass sie sich im Rahmen dessen bewegte, was Kaisen 1952 auf der Eiswette vorgetragen würde.[4] Ein Manuskript seiner Rede gibt es nicht. Kaisen hatte frei gesprochen. Drei Jahre später brachte Präsident Borttscheller die Verdienste Kaisens um die Eiswette auf den Punkt: „Sie haben im Jahre 1949 die Wette durch ihr tätiges Mitwirken wieder zum neuen Leben erweckt.“[5]

1950 Im Alten Rathaus / Paradigmenwechsel: von der „deutschen Volksgemeinschaft“ zum „christlichen Abendland“

Der Eiswette hätte keine größere politische und gesellschaftliche Anerkennung widerfahren können als in der oberen Halle des alten Rathauses zu feiern, „dem schönsten Saal Deutschlands“, wie die Bremer Nachrichten schrieben,[6], zumal die Schaffermahlzeit noch nicht wieder in die Spur gefunden hatte.[7] Bald wurde sie als „zweite Bremer Originalität“ oder als „jüngere Schwester“ der Schaffermahlzeit gefeiert.[8]

[1] Vgl. Gutmann, a.a.O., S.101.
[2] Vgl. Festschrift zum 125. Stiftungsfest, a.a.O., S.13.
[3] Löbe, a.a.O., S.126.
[4] Vgl. das Kapitel: „1952 Wieder in der Glocke…“
[5] Aus dem Brief von Borttscheller am 28.11.1951, a.a.O.
[6] Bremer Nachrichten vom 5. Februar 1951.
[7] Die Schaffermahlzeit findet 1952 zum ersten Mal – und dann bis heute – in der oberen Rathaushalle statt. Die Eiswette hatte ihr gewissermaßen den Boden bereitet.  Das „Haus Seefahrt“ in der Lützower Straße, Sitz der Stiftung, war im Krieg zerstört worden.
[8] Als Finanzsenator Nolting-Hauff in der Senatssitzung vom 24. Februar 1953 den formellen Antrag stellte, Schaffermahlzeit und Eiswette die Vergnügungs- und Getränkesteuer zu erlassen – sprich: den Teilnehmern auf Staatskosten zu billigerem Wein- und Biergenuss zu verhelfen – hatte er sie schlicht gleichgesetzt. So auch Kaisen. Er unterstützte den Antrag mit dem Argument, „dass solche Veranstaltungen eine außerordentliche Werbungskraft für Bremen hätten; deshalb sollten sie in großzügiger Weise unterstützt werden.“ So geschah es. Vgl. Senatsprotokoll vom 24.2.1953, StAB Senats-Registratur a.a.O.

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1950 war die Presse wieder dabei. Ihre Berichterstattung übersprang die nationalsozialistische Zeit und knüpfte unmittelbar an die Hundertjahrfeier an. Die Bremer Nachrichten zitierten einfach aus der Festschrift von 1929: „Was sich hundert Jahre trotz allen Zweifelns erhalten hat, beweist damit allein schon sein Recht auf Weiterbestand (…) Diese Worte zum 100jährigen Jubiläum könnten auch heute, und erst recht  h e u t e  (Sperrung im Original, d. Verf.), als Motto dem Bericht über die alljährliche Veranstaltung der Eiswette vorangesetzt werden“, denn sprach man damals vom Ernst der Zeit, „so hätten wir heute noch mehr Grund, davon zu sprechen. Gerade deshalb aber braucht dem Argument von 1929 heute nichts hinzugefügt werden: niemals erweist sich der Wert ernsthaften Beharrens in krisenfesten Überlieferungen stärker, als in Zeiten, die so ernst sind, dass sie zugleich Ernsthaftigkeit und Humor verlangen.“[1] Wie in alten Zeiten betraten die 224 Eiswettgenossen pünktlich um 16.10 Uhr den Festsaal unter den Klängen des Einzugsmarschs aus Tannhäuser. Die Einladung von Gästen war nur sehr eingeschränkt möglich, weil die alte Deckenkonstruktion des Rathauses nicht mehr als 300 Besucher tragen konnte. Warum Kaisen der Einladung von Präsident Ahlers diesmal nicht gefolgt war, wieder als Redner und Ehrengast teilzunehmen, erschließt sich aus den Quellen nicht. [2] Die Kapelle war stilgerecht in der Güldenkammer untergebracht. Für „die richtige Stimmung“ sorgte der für den erkrankten Ahlers in die Bresche springende George A. Fürst, Eiswettgenosse seit 1932, mit seiner „launigen“ Begrüßungsansprache. Glanzpunkt der Fidelitas war, wie in alten Zeiten, das Eiswettspiel von Otto Heins. Sein „Eiswett-Kabarett 1950“ war „der Höhepunkt“ des Festes. Es glossierte Bremen, die Bremer (und ihre Zeit) und sprühte geradezu von Einfällen und köstlichen Witzen.“[3]

[1] Bremer Nachrichten vom 30.1. 1950
[2] Kaisen wurde noch viermal als Redner eingeladen: 1952. 1954.1960 und 1963;1963 sagte er wegen einer Erkrankung ab. Als „Ehrengast“ war er 1956, 1958, 1959 und 1961 anwesend. Wie wichtig er die Auftritte nahm, geht aus einer Begebenheit jenseits der Politik hervor. Kurz vor Weihnachten 1953 war seine Mutter gestorben. Am 30. Dezember hatte er der Eiswette abgesagt, dann aber doch auf am 16. Januar die Deutschland-Rede gehalten. Vgl. StAB Senatsregistratur. Akte betr. Die Stiftungsfeste der „Eiswette von 1829“. V.2. No. 2225. Koschnick brachte es immerhin noch auf drei Reden.
[3] Alle Zitate aus Weser-Kurier vom 30.1.1950.

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Man übernahm die Rituale, wie sie Präsident Hans Wagenführ zur Hundertjahrfeier 1929 eingeführt hatte: Das „Schwimmen“ der Neu-Mitglieder (Novizen) durch die Spalier bildenden Genossen auf der Weser; ihre Aufnahme in den Kreis der Genossen mit dem Vortreten, „die Hand auf das Bügeleisen des Schneiders legen und ein feierliches Gelöbnis ablegen, den Lauf der Weser nie zu beeinflussen und auch keinen Eisbrecher zu bestellen, auf dass die Weser am Stichtag „offen“ sei.“[1] Auch die Spende (von knapp 2000.- DM) ging wieder an die DGzRS. Wer sollte die Deutschland-Rede halten? 1949 hatte der Bürgermeister diese Frage gelöst. Für 1950 lud man den bis dato einer allgemeinen Öffentlichkeit in Deutschland eher unbekannten Journalisten und Staatsrechtler Prinz Hubertus zu Löwenstein ein, der, 1933 emigriert, seit 1935 in den USA gelebt hatte und 1946 nach Deutschland zurückgekehrt war.[2] Theodor Spitta hätte ihn gerne als Pressesprecher des Senats nach Bremen geholt. [3] Seit 1947 war er Dozent an der Universität Heidelberg. Seine Rede wurde in der Reportage des „Weser-Kurier“ in zwei Worte komprimiert: Er hätte Gedanken zu einem „christlichen Europa“ vorgetragen. Löwenstein konnte nicht ahnen, dass er mit seiner Rede einen Paradigmenwechsel auf der Eiswette vorgenommen hatte. Es galt, sich vom Geist der “deutschen Volksgemeinschaft“ zu lösen und eine neue politische Grundlage für die Eiswette zu finden. Einem Bericht des Weser-Kurier vom gleichen Tag ist zu entnehmen, welche Gedanken der Redner den Eiswettgenossen vorgetragen haben dürfte. In einem Vortrag vor den Mitgliedern der Kunsthalle hatte er gesagt: „Wenn es gelänge, mit Einschluss Deutschlands ein starkes Europa aufzubauen, (würde) die Sowjetunion möglicherweise ihre Pflöcke in Mitteleuropa zurückstecken. … Dem deutschen Volke erwachse eine wichtige Aufgabe, weil viele Völker Europas heute erkannt hätten, dass ihr eigenes Schicksal von dem deutschen abhänge.“ Neue „Möglichkeiten

[1] Weser-Kurier vom 30.1.1950.
[2] Dr. Hubertus Prinz zu Löwenstein-Wertheim-Freudenberg (1906 bis 1984), Jurist, Schriftsteller und Politiker; war bis 1933 als Journalist tätig. 1952 wurde er Korrespondent der Zeit. 1953 bis 1957 war er für die FDP Mitglied des Bundestages. 1958 trat er der CDU bei. Er war zunächst in Österreich, dann in England, bevor er in die USA emigrierte, wo er bis 1946 als Professor für Staatsrecht und Geschichte tätig war. Wikipedia Stichwort „Prinz Hubertus zu Löwenstein-Wertheim-Freudenberg“ vom 29.11.2016.
[3] Vgl. eine Tagebuch-Notiz Theodor Spittas vom 31.12.1946 in: Neuanfang auf Trümmern, Die Tagebücher des Bremer Bürgermeisters Theodor Spitta 1945 -1947, hrsg. von Ursula Büttner und Angelika Voß-Louis, München 1992 (Biographische Quellen zur deutschen Geschichte nach 1945, hrsg. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte in Verbindung mit dem Bundesarchiv von Wolfgang Benz, Band 13), Anmerkung 76, S. 430.

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in der deutschen Außenpolitik“ täten sich auf. [1]  Über dieser Rede lag schon der Schatten des Kalten Krieges, dessen Grundgedanken sich die Eiswette nun zuwenden würde, dem „ewigen Konflikt“ zwischen dem „östlichen „Morgenland“ und dem „christlichen Abendland“. Die „Bremer Nachrichten“ fassten die Feier so zusammen: „Es gab viel Applaus, viel Heiterkeit und manches ernste Wort. Die Eiswette 1829 lebt.“[2] Was allerdings für immer wegfiel, waren die anschließenden Besuche im Astoria, wie sie in den zwanziger und dreißiger Jahren üblich gewesen waren – obwohl es zum Freimarkt 1950 wieder seine Pforten geöffnet hatte.[3]  Nur der alte und neue Direktor Emil Fritz nahm noch bis zu seinem Tod 1954 an den Feiern teil.  

Ein Mythos zur richtigen Zeit wiederbelebt

Nach den ersten Auftritten der Eiswettgenossen hieß es im Weser-Kurier: „Eine 121 Jahre alte bremische Sitte, durch zwei Kriege unterbrochen, ist immer noch lebendig.“ (21.1.1950) Es war die Zeit, als sich Politik und Privatwirtschaft im Lande ganz auf die Zukunft fokussierten. Die Eiswette mit ihrer über hundert Jahre alten Geschichte kam da gerade recht, sofern man ihre Zeit im Nationalsozialismus ausblendete,[4] Jetzt ging es nur um den Glauben an eine gute wirtschaftliche Zukunft Bremens, für den die Gründungsgeschichte paradigmatisch aufbereitet wurde. Es begann schon nach der ersten Eiswettprobe am 6. Januar 1949: „Das Sehnen und Wünschen nach freiem Fahrwasser der Weser ist zu Anfang des 19. Jahrhunderts für die bremische Kaufmannschaft Anlass zur Wette gewesen.“ (Weser-Kurier am 8.1.1949) Mit viel Phantasie widmete sich die lokale Presse – zum Teil auf Sonderseiten – einem Gründungsmythos: „Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, als es noch keine Eisbrecher gab, hing Wohl und Wehe manches Kaufmanns davon ab, ob der Strom vereist oder nicht. So saßen die Kaufleute in den Priölken des Rathauses und besprachen die vermutliche Wetterentwicklung; aus dem „Beraten“ der Eislage wurde ein „Raten“, aus dem „Raten“ das „Wetten“. 1829 taten sich die „Interessenten zur „Bremer Eiswette“ zusammen.“ (Weser-Kurier vom 30.1.1950) Man ging sogar soweit, sich auf historische Quellen zu berufen, die niemand gelesen hatte: „Auf den ersten Blick hin möchte man annehmen, dass diese Männer einen „Spleen“ hatten und vielleicht aus irgendeiner Langeweile heraus dieses komische Spiel trieben.

[1] Weser-Kurier 30.1.1950. Zur Bremen-Rede hatte man einen gewissen Herbert von Düring eingeladen, über dessen Person und Wirken sich nichts in der Berichterstattung findet, auch kein Wort zu seiner Rede. Eine Spurensuche in den Bremer Geschichtsbüchern und im Internet war ergebnislos.
[2] „Eiswette von 1829 – im Jahre 1950“. Bericht vom 30.1.1950.
[3] Neuer Gastgeber der Abendveranstaltung mit den Frauen wurde das Park-Hotel.
[4] Vgl. Kapitel 3: „Mit den Wölfen geheult.“

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Um das zu widerlegen müssen wir schon einmal die sorgsam eingetragenen Protokolle der Jahressitzungen bis in das Jahr 1829, dem Jahr der Gründung der „Eiswette“ zurückverfolgen.“ (8.1.1949) Genau das hatte der Kaufmann und Eiswettpräsident Hermann Vietsch zur Vorbereitung der 75-Jahr-Feier 1904 getan. Von ihm wissen wir, dass die 18 Eiswettgenossen von 1929 nicht in den Priölken die Wette ausbaldowert hatten.[1] Sie hatten sich auch nicht erst 1829, sondern – in ihrem harten Kern – schon seit 1817 zum Kartenspiel getroffen, später in Bremer Ausflugslokalen zum Kegeln, dann, als die Teilnehmerzahl stieg, in den besten Clubs Bremens. Das Wetten über verschiedene Themen war in den ersten Jahren ein Teil ihres Amüsements. Man hatte es der englischen upper class abgeschaut, die es zu jener Zeit in ihren Clubs leidenschaftlich betrieb. Die Eis-Wette war nur eine von vielen. Sie war die letzte in einer Reihe. Vermutlich ist das auf den Umstand zurückzuführen, dass die Herren, seit ihre ersten Zusammenkunft zehn Jahre älter, es etwas ruhiger angehen lassen wollten. [2] Noch weiter holte ein Reporter in den Bremer Nachrichten aus: „Bremen sehnte sich (1829) danach, dass Handel und Wandel – durch den griechischen Freiheitskrieg gegen die Türkei 1821 bis 1829 (…) weitgehend gelähmt – möglichst bald wieder aufleben sollten. Die Weser musste dazu „offen“ sein.“ (30.1.1950) Den Lesern dürfte nicht eingeleuchtet haben, warum ausgerechnet der Aggregatzustand der Weser für das Aufleben von Handel und Wandel nach Beendigung des Krieges zwischen Griechenland und der Türkei eine so wichtige Rolle spielen sollte. Die Geschichten entstammten ja auch nur der Phantasie ihrer Autoren. So auch die Mär von der Eiswette als einer Veranstaltung für das Gemeinwohl: „Jeder Wetter musste einen Taler für die Wohlfahrt stiften. Der Taler ist inzwischen nicht unerheblich aufgewertet worden“ (Weser-Kurier vom 30.1.1950). Die Eiswettgenossen haben bekanntlich bis 1928 nie für gemeinnützige Zwecke gesammelt. Der eingesetzte Taler floss in die Clubkasse und wurde gemeinsam bei Schmaus und Trank verzehrt. Auch die Geschichte, dass bis 1912, „als das traditionelle Bügeleisen aus wer weiß was für einem Grunde plötzlich verloren ging“, ein Schneider im Rahmen der Eiswette jedes Jahr mit einem Bügeleisen geprüft hätte, ob er die Weser überqueren konnte, war frei erfunden (Weser-Kurier vom 8.1.1949). Am Anfang der meisten Legenden standen die Ausführungen von Rudolf Feuß in der Presse und in der Eiswette- Festschrift von 1929 zur Hundertjahrfeier. Sie sind die Grundlage für den Mythos Eiswette, der bis heute ungebrochen weiterlebt, auch wenn Kaufmann und Eiswettpräsident Karl Löbe, der noch einmal die alten Protokolle studierte, sie in seiner Chronik zur 150-Jahr-Feier 1979 in den Bereich der Phantasie verwiesen hat.[3]

[1] Vgl. dazu und zu dem Folgenden Kapitel 1: „Geschlossene Gesellschaft.“
[2] Vgl. die Darstellung in Kapitel 2, Unterkapitel „Der Eiswette-Mythos entsteht“ (1929).
[3] Karl Löbe, 150 Jahre Eiswette von 1929 in Bremen. Bremen 1979. 1998 erschien die Chronik postum noch in einer zweiten, vom Präsidium überarbeiteten Auflage. Ihren Platz nimmt heute das auf der offiziellen Website „eiswette.de“ empfohlene Buch von Hermann Gutmann ein. Es entstand 2010 im Auftrag des Präsidiums. Gutmann lässt die alten Mythen wiederaufleben, erweitert sie sogar mit der neuen Variante, dass angeblich der berühmte W.A.Fritze Mitglied der Gründungsversammlung 1829 gewesen wäre, was nachweislich nicht stimmt. Hermann Gutmann, Jochen Mönch, Die Eiswette von 1829. Ein Bremer Fest – Geschichte und Geschichten. Bremen 2010. Das Privatarchiv der Eiswette mit den alten Protokollen befindet sich in Bremen auf dem Teerhof. Es ist der Öffentlichkeit nicht zugänglich.

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Mit ihrem ersten Auftritt nach dem Krieg war die Eiswette – nicht zuletzt durch ihre Legenden – zu einem Glaubensträger des wirtschaftlichen Aufschwung Bremens geworden und würde es bald auch für die ganze Republik werden. Noch bevor die Schaffermahlzeit 1952 für immer ihren Platz im Rathaus einnahm, [1] hatte sie hier dreimal getagt. Sie hatte gewissermaßen drei Jahre „Vorsprung“. Dieser Umstand spielt sicher auch eine Rolle dabei, dass sie von Beginn an hohes Ansehen in der Öffentlichkeit genoss. Sie galt nun schlicht als „eine Vereinigung freier Bürger, die sich zum Ziel gesetzt hat, den festen Glauben an eine glückliche Zukunft zu pflegen.“ (Weser-Kurier am 21.1.1951)

[1] Schaffer Martin H. Wilkens von der gleichnamigen Silberwarenfabrik hatte am 8. Februar 1949 den Grund dafür angegeben: „Solange eigene Schiffe noch nicht wieder auf den Meeren der Welt fahren, fehlt der Schaffermahlzeit der notwendige innere Gehalt, das rechte Gewürz, ohne die jede Mahlzeit einen schlechten Nachgeschmack hinterlässt.“ Zitiert bei Rüdiger Hoffmann, Frank Pusch, Die Schaffermahlzeit und das Haus Seefahrt in Bremen, hrsg. von der Bremer Landesbank Kreditanstalt Oldenburg – Girozentrale- Bremen, Konzept und Redaktion Rüdiger Hoffmann, Autoren: Gerald Sammet, Sigrid Schuer und Rüdiger Hoffmann, Bremen, 2007, S. 84. Der Seefahrtshof in der Lützower Straße war 1944 einem Luftangriff zum Opfer gefallen. Seit 1952 war der Bremer Bürgermeister ihr Gastgeber in der Oberen Rathaushalle. Er hat das Recht, an jedem Schaffermahl teilzunehmen. Vgl. Rüdiger Hoffmann, a.a.O., S. 98/99.

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